Gözaltinda Cinsel Taciz
Die Türkei ist ein Land des mittleren Ostens, in dem jegliche Art
von Gewalt alle Lebensbereiche durchdrungen hat und selbst von den Betroffenen
selber auf eine gewisse Art als "legitim" angesehen wird. Der
Analyse der Gewalt und des gegen jede Form von Gewalt gerichteten Kampfes
muß daher eine Systemstrukturanalyse vorausgehen. Denn das System
selber zwingt der Gesellschaft einerseits diese Gewalt auf und verhindert
andererseits jeglichen Kampf gegen Gewalt. Seit 3 1/2 Jahren betreiben wir, vier Anwältinnen, das Projekt "Rechtliche
Hilfe für Frauen, die von staatlichen Sicherheitskräften vergewaltigt
oder auf andere Weise sexuell mißhandelt wurden". Unter juristischen Aspekten sind folgende Probleme zu erwähnen: Im türkischen Rechtssystem ist Gewalt gegen Frauen nicht als eigenständiger
Teil konzipiert. In der Türkei einschließlich der kurdischen Gebiete ist jede
Frau, die durch staatliche Kräfte festgenommen wird, mit sexueller
Mißhandlung konfrontiert. Neben den Schwierigkeiten einer ungenügenden juristischen Definition
der in Frage stehenden Straftaten, ist der Nachweis erlittener sexueller
Folter ein weiteres entscheidendes Problem. Psychologische Gutachten als Mittel des Beweises sind in der Türkei erst seit der Arbeitsaufnahme unseres Projektes in Diskussion. Auch wenn die Erstellung psychologischer Gutachten in keinster Weise den für eine unabhängige Untersuchung notwendigen Standards entspricht, so werden sie doch während der Ermittlungen nach Anzeigen wegen sexueller Folter nicht mehr grundlegend abgelehnt. Doch auch auf diesem Gebiet sind wir mit etlichen Schwierigkeiten konfrontiert. Zunächst ist festzuhalten, daß in der Türkei nur ein einziges medizinisch-psychologisches Zentrum existiert, welches sich auf "Gewalt gegen Frauen" spezialisiert hat und in der Lage ist, entsprechende Gutachten zu erstellen, nämlich das "Psycho-Soziale Trauma Zentrum der medizinischen Fakultät Capa". In diesem Zentrum wurden manche der Frauen, die sich an unser Projekt
wandten, untersucht, erhielten Therapien und psychologische Gutachten
über die Folgen der von ihnen erlittenen sexuellen Folter. Da jedoch
in der Türkei nur "offizielle Gutachter", das heißt
Gutachter/innen der offiziellen staatlichen Einrichtung der Gerichtsmedizin
anerkannt sind, werden die oben erwähnten, unabhängigen Gutachten
von Staatsanwaltschaften und Gerichten zur "Überprüfung"
an die Gerichtsmedizin gesandt. In dem Verfahren unserer Mandantin Sükran Aydin ./. Türkei
vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wird jedoch
in dem gegen die Türkei gefällten Urteil ausdrücklich die
Bedeutung unabhängiger medizinisch-psychologischer Gutachten von
auf diesem Gebiet spezialisierten Ärzt/innen betont. Nach wie vor ist es jedoch so, daß die Türkei die Garantien der von ihr selber unterzeichneten internationalen Abkommen nicht in innerstaatliche Rechtsvorschriften umsetzt und in der Praxis auch die notwendigen Veränderungen, die sich durch Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ergeben, nicht vornimmt. So wurden z.B. gegen die Ärztinnen beim "Psycho-Sozialen Traumazentrum
der medizinischen Fakultät Capa" Ermittlungen wegen "Unterstützung
der PKK" eingeleitet, nachdem sie für manche unserer Mandantinnen
Gutachten erstellt hatten. Derartige Ermittlungen entbehren jeglicher
Grundlage und dienen nur dem Ziel, die Ärztinnen zu verunsichern
und von ihrer Arbeit auf diesem Gebiet abzubringen. Die Tatsache, daß
derartige Repressionen zum Teil die beabsichtigte Einschüchterung
der Ärztinnen bewirken konnten, hat auch in unserer Projektarbeit
zu etlichen negativen Auswirkungen geführt. Ein weiteres Thema ist die zwangsweise vorgenommene sogenannte Jungfräulichkeitsuntersuchung. Wir haben diese Praxis vom Beginn unserer Tätigkeiten an als eine Methode staatlicher Gewalt gegen Frauen definiert. Auch wenn diese Methode nicht mehr so verbreitet ist wie zuvor, so kommt sie doch immer noch zur Anwendung (siehe "Fallgeschichten" aus diesem Jahr). Dies, obwohl nach dem Bekanntwerden der zwangsweise durchgeführten
Jungfräulichkeitskontrolle an unserer Mandantin Eva Juhnke in der
Öffentlichkeit im Dezember 1998 durch das Justizministerium eine
Anweisung an alle staatlichen Einrichtungen verschickt wurde, wonach derartige
Jungfräulichkeitskontrollen von der Zustimmung der betroffenen Frauen
und der Entscheidung des Arztes abhängig zu machen seien. Auch im Hinblick auf unsere Intention, ein Bewußtsein bei betroffenen Frauen bezüglich des Einklagens ihrer Rechte zu entwickeln, hat das Projekt wichtige Erfolge erzielt. Die Zahl derjenigen Frauen in der Türkei und Kurdistan, die die an ihnen begangene sexuelle Folter bekannt machen, hat sich entschieden erhöht. Hinzu kommt, daß sexuelle Folter in der Öffentlichkeit endlich als Realität in breitem Umfang wahrgenommen und diskutiert wird. So wurde z.B. von einem Zusammenschluß von Frauengruppen auf Grundlage
der Informationen und Ergebnisse unserer Projektarbeit und unter Zugrundelegung
der durch diese Arbeit entstandenen Situation und Entwicklungen im Juni
2000 in Istanbul eine "Konferenz gegen sexuelle Mißhandlung
und Vergewaltigung durch staatliche Sicherheitskräfte" durchgeführt.
Die Diskussionen, die durch unsere Arbeiten im Projekt hervorgerufen wurden, reichten bis in die Große Nationalversammlung der Türkei (Parlament). In diesem Jahr gab es vier Anfragen an das Parlament, die in direktem Zusammenhang mit den Arbeiten unseres Projekts und den von uns betreuten Frauen standen. Am 23.2.2000 reichte der Abgeordnete der "Tugendpartei", Prof.Dr. Mehmet Bekaroglu, eine Anfrage an das Parlament ein, die sich auf unsere Mandantin Kaze Özlü, welche von Polizisten in Adana vergewaltigt worden war, bezog und verlangte deren Beantwortung durch den Innenminister. Der gleiche Abgeordnete reichte am 3.5.2000 eine Anfrage im Zusammenhang mit der Situation unserer Mandantin Sevgi Ince ein, mit der er Beantwortung der Fragen hinsichtlich der von unserer Mandantin erlittenen Folter und der nach ihrer Inhaftierung vorenthaltenen, dringend notwendigen medizinischen Behandlung verlangte. Am 10.5.2000 reichte der Abgeordnete der "Tugendpartei", Zeki Ünal, eine Anfrage an das Parlament ein, die die statistischen Veröffentlichungen unseres Projektes zur Grundlage hatte, und mit der er allgemein erfragte, ob das Parlament Kenntnis von dieser Art Vorfälle habe und was es sowohl zur Strafverfolgung der Folterer als auch zur Verhinderung weiterer sexueller Folter unternehme. Am 14.6.2000 reichte erneut der Abgeordnete Mehmet Bekaroglu eine Anfrage zur Situation unserer Mandantin Lale Acik ein. Derartige parlamentarische Anfragen sind unserer Meinung nach von nicht
unbedeutender Wichtigkeit. Denn diese Anfragen, so unbefriedigend die
Antworten sein mögen, werden als schriftliche Dokumente für
immer in die offizielle Geschichtsschreibung der Türkei eingehen. Wir haben in den 3 1/2 Jahren unserer Projektarbeit etliche Publikationen
herausgegeben. In diesem Jahr wurden die Erlebnisse der Frauen, die sich
an uns wandten, in Form von "Fallgeschichten" auch in Englischer
Sprache publiziert. Darüber hinaus wurde eine juristische Auswertung aller einzelnen "Fälle" vorgenommen, aus der sehr klar hervorgeht, daß staatliche sexuelle Folter nicht vereinzelt vorkommt, sondern systematisch zur Anwendung gelangt und die Ergebnisse wurden der Öffentlichkeit vorgestellt. Unser Projekt ist durch die zurückliegende Arbeit zentrale Anlaufstelle für alle "Fälle" von an Frauen begangener sexueller Folter geworden. Zwei Studentinnen haben sich für ihre Diplomarbeiten an der Universität das Thema "Sexuelle Gewalt gegen Frauen" ausgewählt und werden die Dokumentationen und Veröffentlichungen unseres Projekts zur Grundlage dieser Arbeit machen. Auch im Jahr 2000 haben wir im Namen des Projekts sowohl im Inland als auch im Ausland an etlichen Veranstaltungen zum Thema unserer Projektarbeit teilgenommen. Wir gehen davon aus, daß es tausende betroffener Frauen gibt, die die an ihnen begangene sexuelle Folter noch nicht zur Sprache gebracht haben. Ein nicht geringer Teil dieser Frauen ist in den Haftanstalten der Türkei inhaftiert. Aufgrund einer neuen parlamentarischen Anweisung betreffend Anwaltsbesuchen in den Haftanstalten waren wir im letzten Jahr bis auf wenige, dringende Ausnahmen gehindert, in den Haftanstalten unsere Mandantinnen zu besuchen. Aufgrund dieser Anweisung ist das Gefängnispersonal berechtigt, die Anwältinnen aufs genauste körperlich und generell zu durchsuchen. Hieraufhin haben insbesondere die Anwält/innen, die in politischen Verfahren verteidigen, gemeinsam beschlossen, daß sie aus Protest gegen diese Behandlung solange nicht in der Haftanstalten gehen werden, bis die entsprechende Anweisung zurückgenommen wird. Aus diesem Grunde kam es im Jahr 2000 nur in seltenen Ausnahmefällen zu Besuchen in den Haftanstalten. Diese Situation hat sich sicherlich auch auf die Zahl der Frauen ausgewirkt, die sich neu an das Projekt wandten. Im Jahr 2000 haben sich 19 neue Frauen an das Projekt gewandt. Ihre einzelnen "Fallgeschichten" befinden sich im Anhang. Wie schon in den letzten Jahren, lassen sich auch aus den Verfolgungserlebnissen derjenigen Frauen, die sich 2000 neu an das Projekt wandten, folgende Muster der sexueller Folter zugrundeliegenden Absichten ausmachen:
Zugleich wurden die Verfahren und "Fälle" aus den vorangegangenen
Jahren fortgeführt. Zu K.Ö., die nach Anzeigenerstattung der von Polizisten an ihr als Bestrafung für den Anschluß ihrer Tochter an die PKK Guerilla begangenen Vergewaltigung und Folter immer wieder bedroht wurde, um sie dazu zu bewegen, ihre Anzeige zurückzuziehen, am 29.6.00 zum Zeichen UA - 186/2000 und am 22.11.2000 zum Zeichen UA 186/00 - 1. Zu 5 Aktivistinnen der "Friedensmütter" (siehe "Fallgeschichten 1128 bis 132) am 19.10.2000 zum Zeichen UA 319/2000 und am 1.11.2000 zum Zeichen UA 319/00-1. Im Folgenden wollen wir auf einige, exemplarische Erlebnisse derjenigen Frauen, die sich neu an das Projekt wandten, eingehen. Eine dieser Frauen ist L.A. Sie wurde 1979 in Tokat geboren und ist ein sozialistisch orientiertes
junges Mädchen. Am 1.1.1999 erfährt sie, daß ihre Mutter
schwer erkrankt ist und fährt in ihre Heimatstadt. Dort berichtet
ihr ihre Familie, daß sie von der Polizei gesucht würde. Ein weiteres Beispiel ist A. T. A. wurde 1975 in Iskenderun geboren. Sie vertritt linke Ansichten und
ist eine türkische junge Frau. Das dritte Beispiel ist dasjenige der Frauen, die als "Friedensmütter" bekannt geworden sind. Eine Gruppe kurdischer Frauen mittleren Alters und darüber (zwischen
39 und 65 Jahren alt). Die betroffenen Frauen waren zwecks Vermittlung von Friedensgesprächen
zwischen verschiedenen kurdischen Kräften nach Südkurdistan
(Nordirak) gereist. Bei ihrer Rückkehr in die Türkei wurden
sie festgenommen und zur Gendarmeriewache Silopi gebracht. Nach ihrer Freilassung wenden sich die Frauen an das Projekt. Das, was sie erlebt haben und die an ihnen praktizierten Methoden unmenschlicher Behandlung gleichen einander sehr. Auch dies ist ein Anzeichen dafür, daß diese Form sexueller Foltermethoden systematisch zur Anwendung kommt. Auch wenn das Projekt bei seinen Arbeiten mit Schwierigkeiten juristischer, praktischer und von feudalen Werturteilen herrührenden Schwierigkeiten jeder Art konfrontiert ist, läßt sich doch sagen, daß die Ziele der Projektarbeit in mancher Hinsicht verwirklicht werden konnten. Denn sexuelle Folter ist endlich kein Tabuthema mehr, sondern ist in der Türkei zu einem viel diskutierten Thema geworden.
Im Namen des Projekts: Eren Keskin, Rechtsanwältin |