junge Welt, 15.08.2001 Das Schweigen durchbrochen Türkei: Anzeige gegen Polizei wegen Folter und Vergewaltigung bringt Anwältin Keskin auf Anklagebank Am Donnerstag sitzen einmal mehr die Anwältin Eren Keskin und Erol Tas, Verleger der türkischen Tageszeitung Yeni Gündem, wegen »Diffamierung des Militärs« auf der Anklagebank. Die Anklageschrift zitiert als Beispiele ihres angeblichen Verbrechens Sätze von Keskin aus einer Presseerklärung: »Die Mütter, die nackt ausgezogen und deren Augen verbunden waren, wurden von Soldaten, die im Alter ihrer Enkel waren, sexuell gefoltert«. Den 12. März 1999 wird die 19jährige Studentin Fatma Deniz Polattas wohl nie vergessen. Mit ihrer Festnahme durch die türkische Polizei beginnt eine Tortur, die allen rechtsstaatlichen Prinzipien Hohn spricht. Die kommenden fünf Tage wird sie in der Antiterrorabteilung von Iskenderun verbringen. Während des Verhörs sind ihre Augen verbunden, sie muß sich ausziehen. Sie wird am ganzen Körper geschlagen, die Schläge zielen auf ihren Kopf, ihre Genitalien, das Gesäß und die Brüste. Sie muß sich auf den feuchten Boden setzen. Sie wird vergewaltigt, und ihr wird gedroht, daß ihre Eltern ebenfalls vor ihren Augen vergewaltigt werden. Fatma Deniz Polattas wird aufgrund der Aussagen, die sie unter dieser Folter macht, zu 18 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt, wegen Mitgliedschaft in der Arbeiterpartei Kurdistan (PKK) und Beteiligung an einem Anschlag mit Brandsätzen während einer Demonstration. Fatma Polattas ist Kurdin. Mit dieser Erfahrung stellt sie keinen Einzelfall dar. Sie veranschaulichen die andauernde Bedrohung von Frauen in türkischen Polizeiwachen und Gefängnissen. »Sexuelle Folter wird in der Türkei speziell gegen Frauen systematisch angewandt«, so die Vorsitzende des Frauenkulturvereins Dicle in Istanbul. »Sie ist darauf ausgerichtet, die weibliche Identität der betroffenen Frauen zu zerstören.« In Gegenden bewaffneter Auseinandersetzung, wie den kurdischen Gebieten im Südosten der Türkei, wird Vergewaltigung häufig als Methode der Kriegsführung eingesetzt. Aus Angst vor Racheakten der Täter, aber auch davor, von der Familie verstoßen zu werden, schweigen die Frauen meist über die ihnen angetane Gewalt. »Auch wenn du zu einem Arzt gehst, kannst du nichts beweisen«, soll ein an der Vergewaltigung von Fatma Deniz Polattas beteiligter Polizist gesagt haben. Nicht zu unrecht, denn der Nachweis einer Vergewaltigung ist in der Türkei sehr schwierig. Eine Vergewaltigung kann nur attestiert werden, wenn innerhalb von 48 Stunden eine körperliche Untersuchung stattfindet. Da die meisten Frauen aber länger in Polizeihaft bleiben, ist so ein Nachweis nicht möglich. Darüber hinaus bewertet das türkische Recht anale oder orale sowie Vergewaltigung mit Gegenständen nicht als Vergewaltigung, sondern als »sexuelle Belästigung«. Mediziner, die Atteste über Anzeichen von Folter oder Vergewaltigung ausstellen, müssen mit massiver Einschüchterung rechnen. Laut der Liga für Menschenrechte in Berlin wurden Ärzte angeklagt, »kriminelle« oder »illegale Organisationen« zu unterstützen, oder sie wurden selbst verhaftet und gefoltert. Psychologische Gutachten, als Nachweis erlittener sexueller Folter, werden in der Türkei erst seit kurzem diskutiert. Das Psychosoziale Traumazentrum der medizinischen Fakultät Capa erstellt als einziges unabhängiges Institut solche Gutachten, allerdings werden die dort erstellten Gutachten vor Gericht nicht akzeptiert - es sei denn, sie werden vom (staatlichen) Gerichtsmedizinischen Institut bestätigt. Diese Stelle bescheinigte schon einigen Frauen eine Traumatisierung, erklärte aber zugleich, daß die Ursache für das Trauma nicht bekannt sei. Fatma Deniz Polattas ließ sich nicht einschüchtern, erstattete Anzeige gegen ihre Folterer und konnte so die Einleitung eines Ermittlungsverfahren bewirken. Vier Ärzte des Gerichtsmedizinischen Instituts Iskenderun haben sie untersucht und bescheinigt, daß sie gefoltert wurde. Der leitende Staatsanwalt interessierte sich aber nicht für den Bericht der Ärzte und stellte das Verfahren gegen die Polizisten ein. Um Frauen wie Fatma Deniz Polattas zu unterstützen, gründeten vier Anwältinnen 1997 das Projekt »Rechtliche Hilfe für Frauen, die von staatlichen Sicherheitskräften vergewaltigt oder auf andere Weise sexuell mißhandelt wurden«. Die Anwältinnen, darunter Eren Keskin, die Vorsitzende des Menschenrechtsvereins, sind treibende Kraft im Kampf gegen sexuelle Folter in der Türkei. Sie unterstützen betroffene Frauen: Sie erstatten Anzeige, wenn die Frauen das möchten, gehen mit ihnen zu Ärzten, um ein psychologisches Gutachten zu erstellen und begleiten sie vor Gericht. Und sie versuchen, sexuelle Folter zu einem öffentlichen Thema zu machen. So organisierten die Anwältinnen zusammen mit verschiedenen Frauenorganisationen im Juni 2000 einen Kongreß in Istanbul. Einige betroffene Frauen sprachen öffentlich über die erlebte Folter, um auch anderen Frauen Mut zu machen, die Täter anzuzeigen. Zum ersten Mal gingen Frauen in organisierter Form an die Öffentlichkeit und forderten die Bestrafung der Täter. Dies stellt die türkische Regierung offensichtlich vor ein Problem: Bestraft sie die Täter, gibt sie zu, daß nach wie vor Folter und Gewalt gegen Oppositionelle angewendet werden. Das schadet dem Bestreben nach Vollmitgliedschaft in der EU. Die türkische Regierung zog es vor, die Organisatorinnen und Rednerinnen des Kongresses anzuklagen. Der Vorwurf: Verleumdung und Verunglimpfung des türkischen Staates und seiner Organe. Andrea Schanz
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