Frankfurter Rundschau, 06.11.2001 "Seither bin ich ein Nichts" Tausende Frauen werden auf türkischen Polizeistationen sexuell misshandelt - wer ihnen hilft, ist selbst in Gefahr Von Gerd Höhler (Istanbul) Am 30. Juni 1998 wird die 14-jährige Ayda (Name von der Redaktion geändert) von Zivilpolizisten in Istanbul auf offener Straße festgenommen. Man beschuldigt sie der Beteiligung an einem Raub. Die Männer zerren das Mädchen in ein Auto. Die Fahrt geht zur Polizeistation im Stadtteil Gayrettepe. Dort bringen sie Ayda in den so genannten "Schlagraum". Sie werde nun durchsucht, kündigen ihr die Männer an. Einer der Polizisten reißt ihr die Kleider vom Leib, die anderen befingern ihre Brüste und Genitalien. Ein Mann versucht sie zu zwingen, seinen Penis in den Mund zu nehmen. Dann uriniert er auf den Körper des Mädchens. In der Toilette spritzen sie Ayda mit einem harten, kalten Wasserstrahl ab. Einer der Männer versucht, den Schlauch in ihre Vagina einzuführen. Nackt muss sie anschließend den Flur des Arrest-Trakts entlanggehen. Dort stoßen sie das Mädchen in eine Zelle, in der sich mehrere männliche Gefangene befinden. Ayda verkriecht sich in eine Ecke, die Männer drängen sich in die andere und versuchen, sie nicht anzusehen. Eines von 143 Folterschicksalen, die die Istanbuler Rechtsanwältin Eren Keskin dokumentiert hat. "Rechtliche Hilfe für Frauen, die von staatlichen Sicherheitskräften vergewaltigt oder auf andere Weise sexuell misshandelt wurden", lautet der etwas sperrige, aber präzise Name des Projekts, das Keskin vor vier Jahren startete. Ihr Büro im Istanbuler Stadtteil Sultanahmet ist winzig. Die zierliche schwarzhaarige Frau verschwindet fast hinter den Aktenbergen, die sich auf ihrem Schreibtisch türmen. "Was wir dokumentiert haben, ist nur die Spitze eines Eisbergs", sagt Keskin. "Es gibt tausende, vielleicht zehntausende solcher Schicksale, aber die meisten Frauen, die sexuell misshandelt werden, schweigen aus Scham oder Angst." Seit 17 Jahren praktiziert Eren Keskin als Anwältin. Sie verteidigt vor allem in politischen Verfahren. Daneben leitet sie die Istanbuler Sektion der türkischen Menschenrechtsvereinigung IHD. Den Anstoß zu diesem Projekt bekam sie 1995. Wegen eines kritischen Artikels zur Kurdenfrage wurde sie damals zu sechs Monaten Haft verurteilt. Während ihrer Zeit im Istanbuler Bayrampasa-Gefängnis erfuhr sie im Gespräch mit inhaftierten Frauen von zahlreichen Misshandlungen. "Sexuelle Folter wird bei Verhören vor allem angewandt, um der Frau ein Gefühl der totalen Hilflosigkeit und völligen Erniedrigung zu geben", sagt Keskin. Viele Opfer offenbaren sich aus Scham nicht einmal ihrer Familie. "Über sexuellen Missbrauch oder Vergewaltigung zu reden ist in unserer Kultur für Frauen fast unmöglich", sagt die Anwältin. Die psychischen Wunden verheilen oft ein ganzes Leben lang nicht. "Seither bin ich ein Nichts", sagte die Kurdin Leyla (Name geändert) ihrer Rechtsanwältin, als sie nach dreijährigem Schweigen erstmals davon erzählte, was ihr 1994 in Diyarbakir angetan wurde. Die damals 18-Jährige wurde von Beamten der Anti-Terror-Einheit festgenommen, weil man sie der Zusammenarbeit mit der verbotenen PKK verdächtigte. Acht Tage lang folterten die Beamten Leyla mit Elektroschocks, hängten sie stundenlang an den Armen auf, schlugen auf sie ein. Am achten Tag fuhren sie mit Leyla aufs Land hinaus. Auf einem Feld begannen die Männer, eine Grube auszuheben. "Wenn du nicht redest, werden wir dich hier lebendig begraben", drohten sie. Dann zogen sie Leyla aus. Einer der Männer vergewaltigte sie. Im Oktober 1997 brachte Eren Keskin den Fall zur Anzeige, aber der Staatsanwalt stellte die Ermittlungen schon nach kurzer Zeit ein. Eren Keskin und die anderen vier ehrenamtlichen Mitarbeiter des Projekts bieten den sexuell misshandelten Frauen kostenlosen Rechtsbeistand und Therapiemöglichkeiten an. 42 Anzeigen wegen Folter liegen derzeit bei den Staatsanwaltschaften, zwölf Verfahren laufen, zwei davon vor dem obersten türkischen Gericht. Weitere 27 Fälle hat Eren Keskin vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gebracht, nachdem alle Rechtsmittel in der Türkei ausgeschöpft waren. Beschuldigt werden 101 Polizisten, 33 Angehörige der paramilitärischen Gendarmerie und sechs so genannte Dorfwächter, also Mitglieder staatlich besoldeter Milizen, die im Kurdenkonflikt gegen die Rebellen der PKK kämpfen sollen. "In den meisten Fällen ist die Identifizierung der Täter sehr schwierig", räumt Eren Keskin ein, "fast immer werden den Festgenommenen die Augen verbunden, so dass sie ihre Peiniger nicht sehen." Bisher endete nur eines der von ihr angestrengten Verfahren mit einem Schuldspruch. In der Südostprovinz Batman wurde ein Dorfwächter verurteilt, der 1995 gemeinsam mit zwei anderen Männern eine damals 17-jährige Kurdin vergewaltigte. Nur weil die junge Frau schwanger wurde, konnte der Täter mit einem Vaterschaftstest zweifelsfrei identifiziert werden. Die Richter verurteilten ihn allerdings nicht wegen Vergewaltigung, weil es dafür nach ihrer Ansicht keine Beweise gab, sondern wegen Beischlaf mit einer Minderjährigen zu 18 Monaten Gefängnis. Die beiden anderen Vergewaltiger blieben straffrei. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International spricht von einem "generellen Klima der Straffreiheit für Verdächtige bei Folterdelikten in der Türkei". Die offiziellen Zahlen des türkischen Justizministeriums scheinen das zu bestätigen. Zwischen 1995 und 1999 wurden zwar 577 Angehörige der Sicherheitskräfte wegen Foltervorwürfen angeklagt. Aber nur zehn von ihnen wurden rechtskräftig verurteilt, meist zu geringfügigen Strafen. Mit größerem Eifer, so scheint es zumindest, verfolgen die Staatsanwälte jene, die Folter publik machen. Nicht nur Journalisten, die über Fälle von Folter berichten, riskieren Strafverfahren. Auch die Betroffenen selbst müssen mit Anklage rechnen, wenn sie berichten, was ihnen angetan wurde. Im vergangenen Jahr traten auf einer Menschenrechtskonferenz in Istanbul 138 von Eren Keskin vertretene Frauen an die Öffentlichkeit und beschrieben die ihnen zugefügten Misshandlungen. Gegen 19 von ihnen wurden Strafverfahren wegen "Beleidigung der türkischen Sicherheitskräfte" eingeleitet. Gegen die Anwältin laufen derzeit fünf Ermittlungsverfahren wegen dieses Delikts. Die Höchststrafe könnte in jedem einzelnen Fall sechs Jahre Haft sein. Aber die mutige Juristin lässt sich nicht einschüchtern. "Es gibt Folter in der Türkei, sie wird systematisch betrieben und geduldet", sagt Eren Keskin. Jede Regierung, auch die des seit Mitte 1999 amtierenden Linksnationalisten Bülent Ecevit, hat versprochen, den Folterpraktiken Einhalt zu gebieten. Aber trotz aller Beteuerungen der Politiker sei kein nennenswerter Rückgang der Fälle festzustellen, sagt Eren Keskin. "Ich höre von den Frauen Berichte, die mich immer aufs Neue schockieren und traumatisieren. Wir dürfen nicht verschweigen, was geschieht. Wir müssen eine breite Diskussion in Gang bringen und Tabus brechen." Das wollte auch die Abgeordnete Sema Piskinsüt. Sie gehörte bis Ende September der Fraktion der Demokratischen Links-Partei von Ministerpräsident Ecevit an. Als Vorsitzende des Menschenrechtsausschusses im türkischen Parlament entwickelte sie bemerkenswerte Aktivitäten. Statt Akten zu studieren, besuchte sie Gefängnisse und befragte Folteropfer. Statt Konferenzen zu veranstalten, inspizierte sie unangemeldet Polizeiwachen, mitunter zu nächtlicher Stunde. "Wir kamen gegen drei Uhr früh", erinnert sich Piskinsüt an einen dieser Besuche. "Ich versuchte eine Tür zu öffnen, aber sie war verschlossen. Der Dienst habende Polizeioffizier sagte, das sei ein Lagerraum, zu dem er keinen Schlüssel habe. Nach einigem Hin und Her schlug ich die hölzerne Türfüllung ein, und da war klar, dass es sich um einen Vernehmungsraum handelte. In einem Zimmer gegenüber entdeckten wir eine Vorrichtung, an der Menschen aufgehängt werden." Im vergangenen Jahr präsentierte Piskinsüt auf einer Pressekonferenz im Parlament Folterutensilien, die sie auf 30 Polizeiwachen in 14 Provinzen des Landes sichergestellt hatte: Schlaginstrumente, Hochdruckschläuche, Haken, Apparate, mit denen Elektroschocks verabreicht werden. Das ging zu weit. Wenig später wurde Sema Piskinsüt als Vorsitzende des Menschenrechtsausschusses abgelöst. Ihre Nachfolge trat ein Politiker der rechtsextremen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) an. Er kündigte an, der Ausschuss werde sich künftig verstärkt um Menschenrechtsverletzungen in anderen Staaten kümmern. Piskinsüts Enthüllungen haben ein juristisches Nachspiel. Allerdings nicht für die Folterer, sondern für die Abgeordnete. Weil sie sich weigert, die Namen der von ihr befragten Folteropfer preiszugeben, hat die Staatsanwaltschaft sie jetzt wegen "Unterstützung Krimineller" angeklagt. Piskinsüt bleibt standhaft. Sie will die Identität der Opfer, denen sie Anonymität zusicherte, nicht preisgeben. Jetzt muss das Parlament entscheiden, ob die Immunität der Abgeordneten aufgehoben wird. Piskinsüt weiß, dass sie vielen als Verräter gilt. "Wer in der Türkei für die Menschenrechte eintritt, der wird als Staatsfeind angesehen", sagt sie. Den Staatsanwälten rät sie, mit der Anklageschrift noch etwas zu warten, bis in den nächsten Tagen ihr Buch über die Folterpraktiken auf den türkischen Polizeiwachen erscheint. "Wenn sie das Buch lesen, haben sie noch mehr Material gegen mich", sagt Piskinsüt. Ende September erklärte sie ihren Austritt aus der Regierungspartei. Die von Ecevit geführte Koalition, so sagte Piskinsüt zur Begründung, habe ihre Wahlversprechen nicht eingehalten.
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