FrauenRechtsBüro gegen sexuelle Folter e.V.
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Fatal für Frauen

Kommentar zum Lagebericht Türkei 7/01


Die Lageberichte des Auswärtigen Amtes haben immer wieder Kritik erfahren. Ihre Bedeutung speist sich daraus, dass Asylentscheidungen auf der Grundlage der Lageberichte getroffen werden. Für die Frage, inwieweit in einem Land asylrelevante Verfolgung stattfindet, wie auch für die Frage der Glaubwürdigkeit einzelner Verfolgungsschicksale sind die Lageberichte vom Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge und von Verwaltungsgerichten als Entscheidungshilfe heranzuziehen. Auch dienen sie Innenbehörden bei der Entscheidung über Abschiebungen. Zusätzliche Bedeutung soll den Lageberichten nach dem Entwurf für ein Zuwanderungsgesetz insoweit zukommen, als dass einmal gewährtes Asyl keinen Daueraufenthalt mehr garantiert. Vielmehr ist von Amts wegen eine erneute Überprüfung der Verhältnisse im Herkunftsland nach 3 Jahren auf Grundlage der Lageberichte mit der Möglichkeit des Widerrufs der Anerkennung vorgesehen.

Als Quellen zur Erstellung der Lageberichte sind, so das Auswärtige Amt selbst, vor allem die Erkenntnisse lokaler Menschenrechtsgruppen und vor Ort vertretener Nichtregierungsorganisationen auszuwerten. Nach Auskunft des Staatsministers des Auswärtigen Amtes, Ludger Volmer, soll auch das Wissen in Deutschland ansässiger Organisationen, die sich mit der Situation in der Türkei befassen, mit einbezogen werden. Umso erstaunlicher ist es, dass weder die Erkenntnisse des Istanbuler Büros "Rechtliche Hilfe für Frauen, die von staatlichen Sicherheitskräften vergewaltigt oder auf andere Weise sexuell misshandelt wurden" (im Jahr 1997 u.a.von der Rechtsanwältin und Vorsitzenden der Istanbuler Sektion des Menschenrechtsvereins Türkei IHD gegründet) noch unseres in Berlin ansässigen Partnerprojekts (seit Anfang diesen Jahres tätig) zur spezifischen Situation von Frauen in den neuen Lagebericht angemessen eingeflossen sind. Im Gegenteil, der neue Lagebericht zur Türkei enthält erneut erhebliche Fehlinformationen und Lücken. Die Konsequenzen dieser Fehler haben zum Beispiel Frauen, die aufgrund sexueller Übergriffe durch türkische Sicherheitskräfte verfolgt werden und in der BRD Schutz suchen, zu tragen. Wir konzentrieren uns als ein Projekt, das die Unterstützung dieser Frauen zum Ziel hat, mit unserer Kritik auf die insoweit relevanten Abschnitte.

Im Abschnitt zur geschlechtsspezifischen Menschenrechtslage (S. 29f) wird ignoriert, dass sexuelle Folter sowohl als Methode des Verhörs als auch als Mittel der "Kriegsführung" in der Türkei einschließlich der kurdischen Gebiete weit verbreitet ist und systematisch zum Einsatz kommt. Bis heute haben sich an das Istanbuler Frauenrechtsbüro gegen sexuelle Folter 150 Frauen gewandt, das Berliner Büro hat bislang 26 Anträge erhalten. 25 Verfahren von Frauen gegen die staatlichen Täter sexueller Folter sind mittlerweile nach Ausschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs in der Türkei als Individualbeschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anhängig. Die geschilderten Verfolgungserlebnisse lassen folgende Muster ausmachen, die sexueller Folter zugrunde liegen:

1. Geständnisse über vermeintliche eigene politische Aktivitäten der Frauen oder solche ihrer Angehörigen sollen erpresst werden;
2. Die betroffenen Frauen sollen eingeschüchtert und von politischen Aktivitäten, z.B. Engagement in der pro-kurdischen politischen Partei HADEP, abgebracht werden;
3. Die Frauen sollen für Aktivitäten anderer Familienmitglieder "bestraft" oder als "Mittel" eingesetzt werden, um andere, insbesondere männliche Familienmitglieder zum "Sprechen" zu bringen;
4. Allein die ethnische Zugehörigkeit (meist kurdisch) soll "bestraft" und die weibliche Identität der Betroffenen verletzt werden.

Sämtliche Schilderungen der betroffenen Frauen sowie alle Informationen zu den anhängigen Verfahren liegen dem Auswärtigen Amt vor. Dennoch begnügt sich das Auswärtige Amt mit vagen Formulierungen, wie z.B.: "Es gibt Berichte, wonach ... festgenommene Frauen und Mädchen ... vergewaltigt werden"; Vorwürfe "werden erhoben, lassen sich aber schwer überprüfen" etc. und verschweigt so die systematische Anwendung sexueller Folter. Das Auswärtige Amt gesteht in einem Halbsatz (S. 14f) lediglich zu, dass es "Verhöre und Misshandlungen von Angehörigen mutmaßlicher PKK-Kämpfer" gibt.
Auch hat die Lückenhaftigkeit der Darstellung jedoch eine Verfälschung der Situation zur Folge. Die angedeutete Form sogenannter "Sippenhaft" betrifft in realiter vor allem Frauen und wird regelmäßig unter Anwendung sexueller Übergriffe praktiziert. Die bekannt gewordenen Fälle dieser Form der Verfolgung wurden durch die Frauenrechtsbüros in Istanbul und Berlin detailreich dokumentiert.

Als Reaktion auf die Aufdeckung der Praxis sexueller Folter durch einzelne Betroffene und Unterstützerinnen auf einem Kongress gegen sexuelle Folter, der im Juni 2000 in Istanbul stattfand, sind 18 Frauen und ein Mann wegen der "Verunglimpfung des Staates und seiner Organe" angeklagt. Dieses noch andauernde Strafverfahren zeigt, dass empfindlich auf den Versuch der Aufdeckung und Enttabuisierung sexueller Folter sowie die Forderung nach Strafverfolgung der staatlichen Täter reagiert wird. Weitere Verfahren gegen Betroffene und ihre Anwältinnen vom Frauenrechtsbüro in Istanbul (unter ihnen Eren Keskin und Fatma Karakas) nach Aufdeckung sexueller Folter und Anzeigenerstattung gegen die Folterer sind z.T. vor den Staatssicherheitsgerichten der Türkei anhängig. Hierüber liegen ausführliche Dokumentationen unseres Berliner Büros vor. Der Lagebericht erwähnt diese Kriminalisierungspraxis des türkischen Staates mit keinem Wort.
Auch staatliche Repressionen tatsächlicher Art (erneute Übergriffe und Folter bis hin zu Vergewaltigungen) als Reaktion auf die Anzeigenerstattung betroffener Frauen gegen ihre Folterer, die nicht nur vom Istanbuler Frauenrechtsbüro sondern auch von amnesty international umfassend dokumentiert wurden, finden keine Erwähnung, obwohl sie unseres Wissens nach dem Auswärtigen Amt bekannt sind.

Die in letzter Zeit angeblich gehäuft auftretenden Selbstmorde von Frauen aus den kurdischen Gebieten werden in der Analyse des Auswärtigen Amtes allein als Ausdruck mangelnder Entfaltungsmöglichkeiten von Frauen aufgrund der patriarchalen Familien- und Gesellschaftsstruktur (arrangierte Hochzeiten etc.) verstanden (S. 30). Diese Analyse erinnert an die Darstellung der Selbstmorde in den türkischen Medien. Nach uns vorliegenden Informationen verschiedener Organisationen aus der Türkei (u.a. Frauenkulturzentrum "Dicle", Istanbul; Frauenzeitschrift "Pazartesi"; Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Egitim-Sen, Sektion Diyarbakir; Untersuchungen der Diyarbakirer Universität Dicle sowie der Anwaltskammer Batman) und der BRD (Kurdisches Frauenbüro für Frieden e.V.), der in der Türkei als Buch veröffentlichen Analyse "Batman`da Kadinlar Ölüyor" von Müjgan Halis sowie Briefen Betroffener an unser Büro sind die Gründe für die Selbstmorde wesentlich vielschichtiger.
Es ist ein unmittelbarer Zusammenhang mit dem beendeten, aber in seinen Folgen noch gravierend präsenten als "bewaffneter Konflikt nicht internationaler Art" einzustufenden Krieges in den kurdischen Gebieten und den hiermit in Zusammenhang stehenden Übergriffen staatlicher Sicherheitskräfte auf die weibliche, zivile Bevölkerung zu verzeichnen. Die weiterhin stattfindenden massiven Repressionen durch Sicherheitskräfte sowie die Perspektivlosigkeit der kurdischen Bevölkerung in den Nachkriegsgebieten (ökonomische Krise als Folge des Krieges, fast völlige Abwesenheit von Bildungs- und Ausbildungsmöglichkeiten etc.) werden von den Frauen u.a. als Gründe für den Ausweg in den Selbstmord genannt. Es scheint, dass das Auswärtige Amt sich mit Klischees begnügt, mangelhaft recherchiert oder vorliegende Informationen nicht zur Kenntnis nimmt und damit zu falschen Ergebnissen kommt.

Auch bei den Ausführungen zur medizinischen Versorgung leistet sich das Auswärtige Amt eine massive Fehleinschätzung. Es wird behauptet, dass die Behandlung psychisch kranker Menschen in allen Krankenhäusern mit psychiatrischer Abteilung möglich und die Behandlung posttraumatischer Belastungsstörungen durch medikamentöse oder psychotherapeutische Therapien gewährleistet sei. Der Anhang des vorherigen Lageberichts, der eine detaillierte Analyse der Versorgungslage vornahm und vom Gegenteil zu berichten wusste, wurde komplett gestrichen. Darin hieß es u.a., dass die Behandlung traumatisierter Menschen, vergewaltigter Frauen, Menschen mit Angsttraumata nach Misshandlungen und stark selbstmordgefährdeten Menschen eine der größten Schwierigkeiten darstellt. Weiterführende Therapien oder Anschlusstherapien für Menschen, die z.B. in der BRD mit einer Therapie angefangen haben, könnten nicht angeboten werden. Eine Retraumatisierung sei zu befürchten.

Es fragt sich, wie sich die dieser unserer Ansicht nach zutreffenden Einschätzung zugrundeliegende Situation in der Türkei so schnell geändert haben kann. Dies fragt sich u.a. auch insofern, als das Generalkonsulat der Bundesrepublik Deutschland in Istanbul noch am 12.3.2001 auf eine Einzelanfrage des Regierungspräsidiums Osnabrück Einschätzungen zur medizinischen Versorgungslage psychisch kranker Menschen abgab, in der die Dominanz krankenhausorientierter Betreuung und der totale Mangel differenzierter ambulanter und komplementärer Versorgungseinrichtungen festgestellt wurde.
Für Folterüberlebende allgemein und Überlebende sexueller Folter im Besonderen ist eine spezielle und weiterführende Therapie von Nöten. Ein kurzer Krankenhausaufenthalt, sofern er denn überhaupt finanziert werden kann, ohne die notwendige Atmosphäre von Sicherheit und Geborgenheit, ist hingegen wenig hilfreich, wie ja im alten Lagebericht selbst festgestellt wurde. Spezialisierte TherapeutInnen der Behandlungszentren für Folterüberlebende weisen immer wieder auf die dringend notwendigen Begleitumstände wie Angstfreiheit, Sicherheit und Geborgenheit hin, die für den Erfolg eines bestimmten Therapieansatzes nach Traumatisierung durch Folter und speziell sexueller Folter unerlässlich sind.
In Anbetracht dessen, dass das Generalkonsulat original den Anlagetext zum alten Lagebericht zitiert, erscheint es erst recht unverständlich, wie sich die komplette Versorgungslage in der Türkei für traumatisierte Menschen und speziell sexuell gefolterte Frauen von März bis Juli 2001 geändert haben soll.
Im Lagebericht wird ausgelassen, dass die minimalen Ausgangsbedingungen für eine fruchtbare Therapie nach erlittener Folter, nämlich z.B. das Gefühl der Sicherheit, nicht erneut Opfer von Übergriffen zu werden, in der Türkei nicht gegeben sind (siehe Angaben zu erneuten Repressionen oben).
Auch die letzte Razzia bei der Menschenrechtsstiftung der Türkei (TIHV) vom 7.9.2001 in Diyarbakir, bei der Patientenakten von Folteropfern, Adressenlisten von ÄrztInnen, die Folteropfer behandeln, sowie Computer beschlagnahmt wurden, zeugt von einem Klima, das Therapien unmöglich macht. Diese Razzia war kein Einzelfall, wie das Auswärtige Amt an anderer Stelle des Lageberichts (S. 13) selbst feststellt, sondern ist Beispiel für eine regelmäßige Kriminalisierung der sich um Folteropfer bemühenden Organisationen und ÄrztInnen. Erwähnt seien an dieser Stelle noch die Ermittlungen und die Disziplinarverfahren gegen die Ärztinnen des "Psychosozialen Traumazentrums der Universität Capa-Istanbul, medizinische Fakultät" wegen "des Verdachts der Unterstützung terroristischer Organisationen" im Jahr 1999, nachdem sie Mandantinnen des Frauenrechtsbüros Istanbul behandelt und Gutachten erstellt hatten, in denen ein Zusammenhang zwischen erlittener sexueller Folter und Traumatisierung hergestellt worden war.
Dieses Zentrum ist die einzige in der Türkei vorhandene Stelle, die sich auf "Gewalt gegen Frauen" spezialisiert hat und fachlich in der Lage wäre, entsprechende Therapien durchzuführen. Nach Einleitung der erwähnten Disziplinarverfahren befürchten jedoch auch die dortigen Ärztinnen erneute Repressionen. Auch insofern ist die Versorgungslage demnach massiv unzureichend.

Bezüglich der Finanzierung der medizinischen Versorgung wird im Lagebericht erwähnt, dass mittellose Personen von der Gesundheitsverwaltung eine "Grüne Karte" (yesil kart) bekommen und sich darüber kostenlos behandeln lassen können. Nach unserem Kenntnisstand wird diese Karte seit einiger Zeit, wenn überhaupt, nur vom Bürgermeister oder der Gendarma ausgestellt, die hierfür zunächst die Einholung eines polizeiliches Führungszeugnisses verlangen. Aus Angst vor Repression verzichten viele Menschen auf die Beantragung eines solchen.
Abgesehen davon sind die Leistungen, die die yesil kart verspricht, unzureichend und umfassen effektive therapeutische Behandlung nach Traumatisierung durch auf diesem Gebiet spezialisierte Fachkräfte nicht, so dass privat zugezahlt werden muss.

Insgesamt ist der neue Lagebericht von Auslassungen und Fehlern geprägt.
Es kann nur vermutet werden, dass hierbei politische Motive wie gute diplomatische Beziehungen zum türkischen Staat oder der Wunsch nach geringeren Anerkennungsquoten in Asylverfahren in Deutschland eine Rolle gespielt haben.
Wir werden in naher Zukunft unsere Kritik durch Beispiele und Belege konkretisieren und stehen für Nachfragen gerne zur Verfügung.


Berlin, den 4.10.2001

FrauenRechtsBüro gegen sexuelle Folter e.V.