Oktober
2001
Frauen-Delegation
kritisiert neuen Lagebericht des Auswärtigen Amtes zur Türkei
als zynisch und unsachlich
Das
Auswärtige Amt macht sich zu Komplizen des Folter-Systems in der
Türkei
Vom 16. bis 21.10.01 hielt sich eine Delegation, organisiert vom FrauenRechtsBüro
gegen sexuelle Folter Berlin, FrauenFluchtNetz Stuttgart
und Tübingen sowie von kein Mensch ist illegal Tübingen,
zur Recherche gegen den neuen Lagebericht des Auswärtigen Amtes zur
Türkei (24.07.01) in Istanbul auf. Die Delegation nahm teil an der
internationalen Prozessbeobachtung des dritten Verhandlungstermins gegen
18 Frauen und einem Mann vor dem Strafgericht Beyoglu/ Istanbul, der nach
45 Minuten wieder vertagt wurde. Der Prozess muss als Einschüchterungsversuch
des türkischen Staates verstanden werden, öffentliches Eintreten
gegen Folter im Ansatz zu unterbinden. Die Delegationsteilnehmerinnen:
Er ist ein wesentliches Indiz dafür, dass der türkische
Staat und die Gerichte nicht Folteropfer schützen, sondern die Folterer
decken.
Vor diesem Hintergrund erscheinen die Behauptungen des Lageberichts zu
Behandlungsmöglichkeiten von Folteropfern noch zynischer. Entgegen
den detaillierten Angaben des letzten Lageberichts über die schlecht
ausgebaute Versorgungssituation behauptet der diesjährige Bericht
plötzlich, dass die Behandlung von posttraumatischen Belastungsstörungen
gewährleistet sei. Nach den zahlreichen Gesprächen der Delegation
mit Anwältinnen, ÄrztInnen, WissenschaftlerInnen und MenschenrechtsaktivistInnen
kritisieren die Teilnehmerinnen aufs schärfste die Aussagen des neuen
Lageberichts Türkei als absolut unsachlich und verharmlosend. Die
Behauptung, dass die Behandlung von posttraumatischen Belastungsstörungen
in Folge von Folter durch medikamentöse und psychotherapeutische
Therapien in Krankenhäusern mit psychiatrischer Abteilung gewährleistet
sei, entbehrt jeder objektiven Grundlage und ist schlichtweg falsch. Angesichts
des fortgesetzten Folter-Systems, wobei sexualisierte Folter
ein zentraler Bestandteil ist, der andauernden staatlichen Einschüchterung
und Verfolgung von Institutionen und ÄrztInnen, die sich für
Folteropfer einsetzen, und der Folge-Verfolgung von Folteropfern sind
die Aussagen des Lageberichts absolut zynisch. Die Delegationsteilnehmerinnen
erklären: Das Auswärtige Amt macht sich mit ihren verharmlosenden
unsachlichen Aussagen zum Komplizen des Folter-Systems.
Die
folgende Gegendarstellung enthält eine Analyse der:
I) Behandlungsmöglichkeiten von Folteropfern:
1. Staatliche Behandlungsmöglichkeiten für Folteropfer sind
in Istanbul wie generell in der Türkei nicht vorhanden
2. An staatlichen Krankenhäusern ist aus mehreren Gründen eine
medizinisch- therapeutische Behandlung von Folteropfern unmöglich
3. Begrenzte Therapiemöglichkeiten bestehen in Istanbul nur bei den
zwei Behandlungszentren von TIHV und TOHAV sowie am Psychosozialen
Traumazentrum der Universität Capa-Istanbul, medizinische Fakultät
II) Folter ein totales System:
Unterzeichnet
von:
FrauenFluchtNetz Stuttgart; FETZ, Frauen Beratungs- und Therapiezentrum
Stuttgart; FrauenFluchtNetz Tübingen; Kein mensch ist illegal, Tübingen
Gegendarstellung
zum Lagebericht Türkei
Erste Auswertung der Frauen-Delegationsreise vom 16. bis 21.10.01 in Istanbul
I)
Behandlungsmöglichkeiten von Folteropfern:
Die
Delegation konnte in ihren fünftägigen intensiven Recherchen
in Istanbul entgegen der Aussage des Lageberichts, die Behandlung
von posttraumatischen Belastungsstörungen kann durch medikamentöse
und psychotherapeutische Therapien erfolgen, keine gesicherten Behandlungsmöglichkeiten
vorfinden. Auch ist die zufriedenstellende medizinisch, therapeutische
Behandlung von posttraumatischen Belastungsstörungen unter den gegebenen
sozialen, politischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen nicht möglich.
Dabei folgte die Delegation der Aufforderung des deutschen Konsulats in
Istanbul, im Gespräch Frau Daimer, die meinte, dass ihr keine staatlichen
Behandlungsstellen bekannt seien und wir uns an den Menschenrechtsverein
wenden sollten.
Gespräche
bei Frau Prof. Dr. Sebnem Korur Fincanci, Direktorin der Abteilung für
Gerichtsmedizin, Medizinische Fakultät Istanbul, und den einzigen
zwei unabhängigen Behandlungsstellen TIHV (Menschenrechtsstiftung
Türkei) und TOHAV (Stiftung für soziale Rechtsstudien) ergeben
folgend düsteres Bild:
1.
Staatliche Behandlungsmöglichkeiten für Folteropfer sind in
Istanbul wie generell in der Türkei nicht vorhanden. Am einzigen
Krankenhaus in Istanbul mit psychiatrischer Abteilung können nur
zwei Ärztinnen Trauma-Kranke behandeln.
2.
An staatlichen Krankenhäusern ist aus mehreren Gründen eine
medizinisch, therapeutische Behandlung von Folteropfern unmöglich:
- Es mangelt generell an entsprechend ausgebildeten Fachkräften für
Trauma-Kranke insbesonders für Folteropfer, da Traumatisierung erst
seit dem Erdbeben in der Türkei vor zwei Jahren als fachärztlicher
Themenkomplex diskutiert wird. Die medizinische und psychologischen Ausbildung
hat das Thema posttraumatischer Belastungsstörung immer noch nicht
aufgegriffen. - Die staatliche Repression gegen Folteropfer und behandelnde
ÄrztInnen erzeugt ein Klima der Angst, welches die meisten ÄrztInnen
aus staatlichen Einrichtungen davor zurückschrecken lässt, Folter
zu attestieren. - Folter als legitimes Mittel der Beweiserhebung, Bestrafung
und Einschüchterung politisch Oppositioneller basiert auf einem breiten
gesellschaftlichen Konsens, der sich bis in die Krankenhäuser fortsetzt.
Frau Prof. Sebnem Korur Fincanci meinte dazu: Viele Ärzte sehen
Folter als etwas normales, legitimes an. - Auf Seiten der Folteropfer
besteht ein großes Misstrauen gegenüber Krankenhäusern
als staatliche Einrichtungen, so dass sich die wenigsten getrauen, über
ihre erfahrene Folter zu sprechen. Dieses Misstrauen ist, so Prof. Sebnem
Korur Fincanci, angesichts des staatlichen Umgangs mit den unabhängigen
Behandlungszentren nur begründet. So werden die Behandlungszentren
z.B. immer wieder angeklagt, ihre Patientenkarteien herauszugeben. In
staatlichen Krankenhäusern sei der staatliche Zugriff auf Patientenkarteien
problemlos gegeben.
3.
Begrenzte Therapiemöglichkeiten für Folteropfer bestehen in
Istanbul nur bei den zwei unabhängigen Behandlungszentren von TIHV
und TOHAV. Für sexualisiert gefolterte Frauen gibt es als einzige
Stelle in der Türkei das Psychosoziale Traumazentrum
der Universität Capa-Istanbul, medizinische Fakultät, das sich
auf Gewalt gegen Frauen spezialisiert hat. Dabei ist der Erfolg
ihrer Behandlung durch mehrere Faktoren, vor allem die staatliche Repression,
stark eingeschränkt
Begrenzte
Kapazitäten der Behandlungszentren:
- Angesichts der geschätzten Zahl von einer Millionen Folteropfer
(jede/r sechzigste Türke/in) seit 1980, so die Anwaltskammer, ist
es nur ein kleiner Prozentsatz, der sich an die unabhängigen Behandlungszentren
wendet und behandelt werden kann. - An die Menschenrechtsstiftung TIHV,
die in fünf grossen Städten der Türkei seit 1991 Behandlungszentren
aufgebaut hat (Istanbul, Izmir, Adana, Diyarbarkir, Ankara), wurden im
letzten Jahr 1200 Anfragen gestellt. An das Istanbuler Behandlungszentrum
wandten sich im letzten Jahr 450 Folteropfer. Damit sind ihre finanziellen
und institutionellen Kapazitäten als NGO absolut ausgeschöpft.
Neben der konkreten medizinischen und psychotherapeutischen Versorgung
ist die für die Behandlung notwendige finanzielle und soziale Unterstützung
der Patienten nicht möglich. - Die Stiftung für soziale Rechtsstudien
TOHAV in Istanbul behandelt pro Jahr 150 bis 200 Folteropfer. Damit sind
auch ihre begrenzten Ressourcen, ein festangestellter Arzt und eine Psychologin,
bei weitem ausgeschöpft. Oft muss die medikamentöse und psychotherapeutische
Behandlung aufs notwendigste beschränkt bleiben, da Operationen und
diagnostische Tests nicht finanzierbar sind.
Staatliche
Repression und Verfolgung von Behandlungsstellen und Folteropfern:
Alle Behandlungsstellen sind ständig von staatlicher Repression,
Anklagen gegen ÄrztInnen und von ständiger Schließung
bedroht (siehe auch Dossier: Trials of the Human Rights Foundation of
Turkey and Pressures on the Human Rights Assiociation 1999-2001, vom 19.01.01):
Während der letzten Razzia gegen das Zentrum der Menschenrechtsstiftung
TIHV in Diyarbarkir am 7.9.01 wurden alle Patientenakten und Adressenlisten
von ÄrztInnen beschlagnahmt und 15 Tage widerrechtlich einbehalten.
Zwei bei der Stiftung ehrenamtlich tätige Ärzte aus staatlichen
Krankenhäusern wurden zwangsversetzt (amnesty international berichtete).
Am 18.10 wurde ein gerichtliches Verfahren zur Schließung des Zentrums
vor dem Staatssicherheitsgericht in Diyarbarkir eingeleitet. Angesichts
der Prozesswelle gegen Folteropfer ist zu befürchten, dass die Folterpatienten
nun wieder von staatlicher Gewalt bedroht sind. Dieses staatliche Vorgehen
ist kein Einzelfall , sondern ist ein Beispiel für die regelmäßige
Kriminalisierung und Gewaltandrohung unter der die wenigen unabhängigen
Einrichtungen und mutigen ÄrztInnen zu arbeiten haben. Ärzte
der TIHV-Stelle in Adana wurden verurteilt, weil sie sich weigerten, Patientenakten
an staatliche Stellen herauszugeben. Das Zentrum in Izmir wurde Anfang
des Jahres für 10 Tage geschlossen und behandelnde Ärzte aufgrund
ihrer öffentlichen Aussagen zu Folterfällen und Behandlung u.a.
wegen Unterstützung einer illegalen Vereinigung angeklagt.
Gegen das Istanbuler Zentrum wurden allein im Januar 2001 sechs Verfahren
eröffnet. Auch gegen Ärztinnen des Psychosozialen Traumazentrums
der Universität Capa-Istanbul wurden Ermittlungen und Disziplinarverfahren
1999 eingeleitet, nachdem sie Folteropfer behandelt haben. Prof. Sebnem
Korur Fincanci vom gerichtsmedizinischen Instituten wurde ebenfalls aufgrund
ihrer Gutachten, in denen sie Folter attestierte, mit Klagen überzogen.
Die letzte Anklage wegen Verunglimpfung des Staates und seiner Organe
wurde im Februar dieses Jahres gegen sie erhoben.
Auch
die Folteropfer selbst sind einer Folge-Verfolgung ausgesetzt und viele
werden ein weiteres Mal, eingeschüchtert, verhaftet und gefoltert:
Vor allem Folteropfer, die den Mut aufbringen, ein Behandlungszentrum
aufzusuchen, über ihre Folter öffentlich zu reden und Anzeige
gegen ihre Folterer zu erstatten, sind von erneuter staatlicher Verfolgung
bedroht, wie auch der Prozess gegen die 18 Frauen und einen Mann zeigen.
Dieses repressive Klima und die fortbestehende starke Unsicherheit steht
einer erfolgreichen Behandlung diamentral entgegen, wie uns alle Gesprächspartner
vermittelten. Viele Patienten brechen aus diesen Gründen, so die
Erfahrung von TIHV und TOHAV, ihre Behandlung ab. Auch überträgt
sich die Verfolgungssituation der Folteropfer auf die Ärzte.
Soziale
Rahmenbedingungen soziale Sicherheit nicht gegeben:
Ein weiterer zentraler Faktor für eine gelungene Behandlung stellt
die soziale Absicherung und Versorgung der Patienten dar. Doch in Folge
des Gefängnisaufenthalts, inländischer Flucht in die Großstädte
oder Verfolgung sind die allermeisten Patienten sozial äußerst
schlecht gestellt. Sie können nicht mehr auf die familiären
Versorgungsstrukturen zurückgreifen oder die geringen staatlichen
Sozialleistungen wie die Grüne Karte (Yesil Kart) in Anspruch nehmen.
Diese soziale Problematik der Patienten, so TIHV und TOHAV, verunmöglicht
in vielen Fällen eine Fortsetzung der Behandlung
Auch
die Aussagen des Lageberichts zur Inanspruchnahme der Yesil Kart müssen
nach den Recherchen erheblich in Frage gestellt und davon ausgegangen
werden, dass ein Großteil auch durch dieses Netz fällt. So
wird für die Antragstellung ein Ausweispapier, eine Wohnbescheinigung,
sowie eine Abmeldebestätigung vom alten Wohnsitz, zu erhalten beim
Vorsteher (muhtar), benötigt. Zudem müssen weitere Bestätigungen
von der Sozialversicherung, der Rentenversicherung und vom Grundbuchamt
vorgelegt werden. Für Menschen, die Verfolgungserfahrungen hinter
sich haben bzw. befürchten müssen, immer noch verfolgt zu werden,
stellt dieser Behördengang ein unüberwindbares Hindernis dar.
Yesil Kart Besitzer bekommen außerdem nicht jede Operation/Behandlung
erstattet. So brauchen Yesil Kart Besitzer auch eine Überweisung
vom staatlichen Krankenhaus, wenn sie sich am Psychosozialen Traumazentrum
der Universität Capa behandeln lassen wollen. Frau Prof. Sebnem Korur
Fincanci wies ebenso darauf hin, dass sie Yesil Kart Besitzer wegen Finanzierungsproblemen
ablehnen und an TIHV weiterleiten mussten.
Fazit:
Die für eine erfolgreiche Therapie unerläßlichen Voraussetzungen,
wie Sicherheit, Geborgenheit, Angstfreiheit und eine sozio-ökonomische
Basis, sind unter diesen Umständen nicht gegeben. Wenn sich
das gesellschaftliche Klima nicht ändert, macht die Behandlung von
Folteropfern eigentlich keinen Sinn, so Prof. Sebnem Korur Fincanci.
Auch TIHV wies auf die äußerst negativen Rahmenbedingungen
hin: Eine medizinisch therapeutische Gesundung ist unter den Bedingungen
sehr schwierig. Die Behandlung nach Folter ist keine Operation. Nach einer
Operation reicht eine gute Krankenschwester. Bei einer Behandlung nach
erlittener Folter sind die sozialen Begleitumstände sehr wichtig.
II)
Folter ein totales System Folterer und nicht Folteropfer werden
staatlich geschützt
Dieser
Zusammenfassung liegen Gespräche mit Eren Keskin, Vorsitzende der
Istanbuler Sektion des Menschenrechtsvereins, mit Seref Turgut, Vorsitzender
der Menschenrechtskommission der Istanbuler Anwaltskammer, und Prof. Dr.
Sebnem Korur Fincanci, Direktorin der Abteilung für Gerichtsmedizin,
Medizinische Fakultät Istanbul, zugrunde:
Folter
wird im großen Maße in der Türkei ausgeübt, in den
östlichen Gebieten wie im Westen der Türkei. Es zeigt sich ein
Bild einer Systematik: Die Gesetze sind offen für Folter
und tragen nicht dazu bei, sie zu verhindern. Vielmehr beschützen
die Gesetze die Folterer, anstatt Folteropfer zu schützen. So wird
gegen Folterer staatlicherseits und juristisch nicht vorgegangen, was
die hohe Zahl von über 95% Freisprüchen zeigt. Mit diesem
Statement fasste der Anwalt Seref Turgut die Analysen der Menschenrechtskommission
der Istanbuler Anwaltskammer über die derzeitige gesetzliche Lage
und Verfahrenswirklichkeit in Bezug auf Folter zusammen.
Folter
ein totales System
An
Folter, ihrer Ausübung, Legitimierung, Deckung und Vertuschung sind
eine Reihe von staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen beteiligt.
Folgende unterstützende Institutionen sind zu nennen: - Die Gesetze,
die Folter nicht definieren und Folterer nicht verfolgen - die Gerichte,
die Folterer freisprechen; - die Gerichtsmedizin, die Folterung nicht
in Gutachten bestätigt - und die Staatsanwaltschaft, die Foltervorwürfe
nicht untersuchen. Laut TOHAV werden nur 1 bis 5% der Verfahren überhaupt
eröffnet.
Gesetzeslage:
Gesetze sind offen für (sexualisierte) Folter
- Schon bei der Definition von Folter fängt die staatliche Legitimierungspraxis
an. So werden Folterungen nur im Polizeigewahrsam als Folter
definiert (Art.243), während des Gefängnisaufenthaltes läuft
Folter unter schlechter Behandlung (Art. 245), was mit einem
niedrigeren Strafmaß bemessen ist. Die Definition von Folter entspricht
nicht der UN-Folter-Konvention. - Bei sexualisierter Folter trifft dies
hinsichtlich der gesetzlichen Definition von Vergewaltigung ebenfalls
zu: so wird orale oder anale Vergewaltigung, sowie die Vergewaltigung
mit Gegenständen nicht als Vergewaltigung definiert.
- Auch "Sexueller Missbrauch" ist kein eigenständiger Straftatbestand
im Türkischen Strafgesetzbuch. Alle Sexualstraftaten außerhalb
der engen Definition von Vergewaltigung fallen unter "Sexuelle Belästigung,
worunter auch "verbale Belästigung" fällt. D.h. auch
die Vergewaltigungen mit Schlagstöcken etc. wird mit "verbaler
Belästigung" auf eine Stufe gestellt. - Es ist keine Mindeststrafe
für die Verurteilung von Folterern festgelegt. - Ferner können
gegen Staatsbeamte, wie Polizisten, nur Verfahren eröffnet werden,
wenn ihr Vorgesetzter zustimmt. - Auch die jüngste Grundrechtsreform
der Türkei hat keine Verbesserung gebracht: So wurden zwar die Höchststrafen
von 5 auf 8 Jahre angehoben, doch immer noch keine Mindeststrafe festgesetzt.
Weiterhin bleibt der Vorgesetzte zuständig für die Einleitung
von Verfahren, nur der Zeitraum, in dem das Verfahren eröffnet werden
muss, wurde auf ein Monat verkürzt.
Gerichte:
Während 1998-2000 wurden in Istanbul 125 Verfahren gegen 366 Polizisten
wegen Folterung eröffnet. Dabei wurden nur in drei Fällen sechs
Polizisten verurteilt zu Strafen, die sich in Pfennigbeträgen belaufen
(einmal 375.000 türkische Lira = ca. 50 Pf). (siehe Statistik der
Menschenrechtskommission der Anwaltskammer, Istanbul 2001)
Gerichtsmedizin:
Begutachtung unter Druck
Die Begutachtung findet an den staatlichen gerichtsmedizinischen Instituten
statt. Vor und am Ende des Polizeigewahrsams sind Vorführungen bei
Ärzten oder den gerichtsmedizinischen Instituten angeordnet. Doch
bei der Begutachtung sind Polizeikräfte anwesend und verfolgen das
höchst intime und schambehaftete Gespräch. Wie Prof. Dr. Sebnem
Korur Fincanci von vielen Gerichtsmedizinern erfahren hat, läuft
die Begutachtung unter enormen polizeilichen Druck ab: Die Pistole
liegt mit auf dem Tisch. Unter diesen repressiven Bedingungen ist
es nicht erstaunlich, dass viele Gutachter keine Folterung feststellen
können. Auch droht gefolterten Frauen, die ihre Folter offen legen,
erneute Gewalt zurück im Gefängnis.
Schwierigkeit,
Systematik von Folter zu belegen:
Auf
diese Sachverhalte führen alle GesprächspartnerInnen die Schwierigkeit
zurück, den systematischen Charakter und das große Ausmaß
von Folter im Polizeigewahrsam und als Repressionsmittel statistisch zu
belegen: nur die wenigsten Folteropfer getrauen sich, eine Anzeige zu
erstatten; nur die wenigsten Folterungen, werden als solche begutachtet;
nur wenige Verfahren werden daraufhin eröffnet; nur bei einem Bruchteil
kommt es zu einem Urteilsspruch:
Am
Beispiel sexualisierter Folter kann dies verdeutlicht werden:
Die meisten Frauen, die festgenommen werden oder in den kurdischen Gebieten
von Dorfrazzien betroffen sind, werden Opfer sexualisierter Folter, so
die Erfahrungen der Menschenrechtsstiftung und des Istanbuler Projekts
Rechtliche Hilfe für Frauen, die von staatlichen Sicherheitskräften
vergewaltigt oder auf andere Weise sexuell mißhandelt werden.
Die meisten Frauen erfahren während ihrer Festnahme und im Polizeigewahrsam
sexualisierte Folter. Dabei ist Vergewaltigung sehr schwer nachzuweisen
und kann medizinisch nur binnen 48 Stunden begutachtet werden. Befinden
sich Frauen in Polizeigewahrsam ist diese kurze Frist nicht einzuhalten.
Während des Gefängnisaufenthalts können Frauen nur mit
massiven öffentlichen Druck erreichen, zur Begutachtung vorgelassen
zu werden. Hinzu kommen gesellschaftlich-kulturelle Tabuisierung und Scham,
die erlittene Folter offen zu machen. Wenn die Frist zur medizinischen
Feststellung abgelaufen ist, kann die Folterung über psychologische
Gutachten bestätigt werden. Doch dafür bräuchte man spezialisierte
und unabhängige Stellen, die Gutachten erstellen. Dies hat auch der
Europäische Menschenrechtsgerichtshof bereits mehrfach angemahnt
und die Türkei wegen ihrer Gutachtenpraxis verurteilt. Gutachten
von unabhängigen Stellen wie TIHV oder der medizinischen Fakultät
Capa werden jedoch selten vor Gericht anerkannt.
Prozesswelle
gegen Frauen, die öffentlich versuchen, sexualisierte Folter zu enttabuisieren
und gegen Folterer vorzugehen:
Selbst
gegen die Ex-Vorsitzende der Untersuchungskommission des türkischen
Parlaments Dr. Piskinsüt leitete die Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren
ein. Sie soll die Identität der Folteropfer preisgeben. Seit einem
Jahr haben Staatsanwaltschaften verschiedene Verfahren gegen Frauen, die
den Mut aufgebracht haben, gegen ihre Folterer auszusagen, sowie gegen
Rechtsanwältinnen angestrengt:
1)
Am 21.3.2001 erhob die Staatsanwaltschaft Istanbul vor dem Strafgericht
Beyoglu/ Istanbul Anklage gegen 19 Rednerinnen und Mitorganisatorinnen
des Kongresses Nein zur sexuellen Folter im Jahr 2000. 2)
Am 15.6.2001 stand die türkische Rechtsanwältin Eren Keskin
vor Gericht, die für das Istanbuler FrauenRechtsBüro gegen sexualisierte
Folter arbeitet, sowie der Chef-Redakteur der Zeitung Yeni Gündem.
Ihnen wird vorgeworfen staatliche Streitkräfte verunglimpft
zu haben. Frau Keskin ist angeklagt, weil sie auf einer Pressekonferenz
eine gefolterte Mandantin zitierte. Diese habe berichtet, dass sie in
der Haftanstalt Mardin die Augen verbunden, völlig entkleidet und
sexuell misshandelt worden ist. Yeni Gündem hat den Bericht abgedruckt.
3) Ein dritter Prozess läuft seit dem 28.6.2001 vor dem Staatssicherheitsgericht.
Angeklagt sind die Rechtsanwältin Fatma Karakas, ebenfalls Mitarbeiterin
des FrauenRechtsBüros Istanbul, und vier weitere Frauen wegen des
gleichen Tatbestands wie im Verfahren gegen die 19.
Sabine
Hess, Britta Wente
FrauenFluchtNetz Stuttgart und Tübingen
s.hess@em.uni-frankfurt.de
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