Frankfurter
Rundschau, 28.09.2002 Zwischen Anerkennung und Abschiebung, beladen mit Erinnerungen - seit fünf Jahren wartet eine sexuell gefolterte Kurdin auf das Ende ihres Asylverfahrens Von Annegret Böhme Manche Tage sind endlos. Ayse Celik steht am Wohnzimmerfenster und sieht auf den Häuserblock gegenüber. 70er-Jahre-Plattenbau, fünfstöckig. Es nieselt. Das Licht, das durch die Stores ins Zimmer fällt, ist fahl. "Hier sind so wenig Menschen auf der Straße", sagt Celik (Name von der Redaktion geändert) über die Kleinstadt in Mecklenburg-Vorpommern. Celik lebt nicht hier, sie wartet. Die Asylanträge von ihr und ihrem Mann wurden abgelehnt. Beide haben dagegen geklagt - vor über fünf Jahren. Seitdem warten sie auf die mündliche Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht. Zwei Kinder hat Celik in dieser Zeit auf die Welt gebracht. Als sie in Deutschland um Asyl bat, war Celik sechzehn und seit kurzem verheiratet, eine Kurdin aus einem Dorf im Osten der Türkei. Ihre Mutter hatte die Hochzeit früh arrangiert, weil keine Männer im Haus waren. Der Vater war tot, einer der Brüder beim Militär, der andere ging tagsüber arbeiten. In dem von Kurden bewohnten Gebiet herrschte Ausnahmezustand. Es waren viele türkische Militärs und Sondereinheiten in der Gegend. "Meine Mutter dachte, die Heirat sei der beste Schutz. Aber dann ist es mir doch passiert." Sexuelle Folter durch Staatsdiener ist keine Seltenheit in der Türkei. Nach Berichten von Amnesty International werden Männer und Frauen besonders häufig nach Festnahmen und in Polizeigewahrsam missbraucht. Als Täter werden Militärangehörige, Gendarmen oder Polizisten benannt. Die Schilderungen der Opfer gleichen sich. "Ihre Augen werden verbunden, sie werden mit Gewalt ausgezogen und nackt aufgehängt. Es sind mehrere Männer anwesend: Sie spotten, sie drohen. Sie traktieren die Geschlechtsteile ihrer Opfer mit Elektroschocks und vergewaltigen sie manchmal mit Gegenständen, Polizeiknüppeln oder Wasserschläuchen." Die Berliner Anwältin Jutta Hermanns kennt einzelne Fälle. Ihr "Frauenrechtsbüro gegen sexuelle Folter" ist Anlaufstelle für türkische und kurdische Frauen, die inzwischen in Deutschland leben. Zusammen mit ihrer kurdischen Kollegin Eren Keskin hat Hermanns ein ähnliches Projekt in Istanbul gegründet. Die Mitarbeiterinnen dokumentieren Fälle sexueller Folter, vermitteln Therapien und ziehen für die Frauen vor Gericht. Von den rund 40 Frauen, die sich bisher an das Berliner Projekt gewandt haben, trauten sich nur drei, ihre Peiniger anzuzeigen. In den meisten Fällen laufen die Asylverfahren noch, verbunden mit der Angst vor Abschiebung: "In so einem unsicheren Status kann man nicht leben und nicht sterben und erst recht nicht prozessieren", sagt Hermanns. Celiks Wohnung ist aufgeräumt, blanke Tische, staubfreie Regale. In den dämmrigen, mit Teppichen gepolsterten Räumen verbringt sie viel Zeit. Sie hat keine Ausbildung und lebt von Sozialhilfe. Tagsüber sind die Kinder im Kindergarten, ihr Mann hilft in einer Imbissbude aus. Wenn sie Besuch hat, läuft Celik zwischen Küche und Wohnzimmer hin und her, deckt den Tisch, räumt ihn ab, deckt ihn wieder. Sobald sie sitzt, klemmt sie die Hände zwischen die Oberschenkel, als friere sie: "Ich fühle mich hier nicht wohl", sagt sie. Ihre Nachbarn aus dem Wohnblock hat sie einmal eingeladen, die Gegeneinladung blieb aus. Im Briefkasten hat sie schon Kondome gefunden und einmal eine Schlinge. Sie versteht es als Aufforderung, sich hier bloß nicht niederzulassen. Wegen Vergewaltigung und sexueller Folter Asyl in Deutschland zu bekommen, ist nicht selbstverständlich. Mit dem neuen Zuwanderungsgesetz steigen für Opfer geschlechtspezifischer und nichtstaatlicher Verfolgung die Chancen, als Flüchtlinge nach der Genfer Konvention anerkannt zu werden. Aber sie müssen den deutschen Behörden selbstverständlich erzählen, was ihnen passiert ist. Ayse Celik hat das nicht getan. Sie redet nicht über die Razzia, als Uniformierte in ihr Haus kamen. Auf der Suche nach ihrem Mann, der nicht zu Hause war. Sie spricht in Andeutungen. Die Männer schickten die Schwiegermutter weg, in einen anderen Raum. Celik war schwanger. Sie verlor ihr Kind, aber sie redet nicht von "sexueller Folter", sie sagt: "Sie haben mein Kind auf dem Gewissen." Das Asylverfahren berücksichtigt nicht die Situation von Menschen, die auf drastische Weise Gewalt erfahren haben. Fehlen die Beweise - und im Falle einer Vergewaltigung bleiben selten Belege -, muss die Frau ihre Erlebnisse glaubhaft machen. Sie muss bei der Anhörung nicht nur exakte Orts- und Zeitangaben machen, sondern auch jedes Detail erwähnen. Viele tun das nicht. "Die meisten reden überhaupt nicht darüber", sagt der Frankfurter Anwalt Ludwig Müller-Volck. Er vertritt Flüchtlinge im Asylverfahren, darunter viele Kurden. Wenn seine Mandantinnen Andeutungen machten, sei das schon viel. Eher senden sie Signale, auf der Suche nach einem Empfänger. "Dann sitzen sie da und jammern über Belangloses oder zeigen eine Heidenangst, abgeschoben zu werden. Bei mir selbst hat es ewig gedauert, bis ich überhaupt mitbekommen habe, was das bedeuten kann." Manche Frau bricht bei der mündlichen Verhandlung zusammen. Für eine Anerkennung ist es dann fast zu spät. Wer zu lange wartet, wirkt auf die Behörden unglaubhaft. Aber Folteropfern hat es die Sprache verschlagen. Sie haben gelernt zu verdrängen, um psychisch zu überleben. Für viele türkische und kurdische Frauen ist sexuelle Gewalt ohnehin ein Tabu. Sie schweigen nicht nur aus Scham. Wenn sie reden, riskieren sie den Ausschluss aus der Familie, die nur so ihre Ehre retten kann. Eine Frau, die über das, was ihr angetan wurde, nicht einmal mit dem Ehemann oder der Mutter spricht, wird sich auch fremden Beamten nicht anvertrauen. Celiks Schwiegermutter sagte, das Paar müsse weg aus dem Dorf. In Istanbul besorgte ihnen ein Fluchthelfer Papiere, zwei Wochen später landeten Celik und ihr Mann in Deutschland. Und jetzt redet Celik nicht viel über die Vergangenheit. Sie erzählt, dass sie nachts nicht schlafen kann, weil sie an die Familie zu Hause denkt, dass sie sich oft krank fühlt. Sie klagt über Kopfschmerzen. Und sie macht sich Sorgen, weil sie immer vergesslicher wird. "Ich lese etwas in der Zeitung, dann hole ich mir ein Glas Wasser, und wenn ich zurückkomme, habe ich alles vergessen." Seit kurzem geht sie einmal im Monat zur Therapie. Ihr Mann war zuerst dagegen. "Er hatte Angst, sie könnten uns die Kinder wegnehmen, weil ich in Behandlung bin." Die Therapeutin habe ihr anfangs geraten, aktiv zu werden, Ausflüge zu machen, in die Großstadt. Celik musste ihr erst erklären, dass sie sich nur im Umkreis von 30 Kilometern um ihre Wohnung bewegen darf. Celik hat nie einen Sprachkurs besucht. Auch ihrer Therapeutin kann sie sich nur in gebrochenem Deutsch mitteilen. Es gibt im Osten Deutschlands kaum Einrichtungen, die Opfer von Folter betreuen und geschulte Dolmetscher einsetzen. Und Celik kann sich im laufenden Asylverfahren nicht aussuchen, wo und wie sie lebt. Als Ayse Celik vor fünf Jahren nach Deutschland kam, musste sie kurz nach der Einreise ihre Fluchtgründe vortragen. Die Anhörung dauerte mehrere Stunden. Celik hatte nichts zu trinken mit und stand unter Stress. Spätere Fotos zeigen sie mit wunden Lippen - aufgebissen, vor Aufregung. Sie erzählt, der Anhörer habe Fragen gestellt "wie ein Kommissar". Er wollte jedes Detail wissen: Wer hat wem wann die Tür aufgemacht? Was für Kleider trugen die Beteiligten? Manchmal habe er durcheinander gefragt, als läge er auf der Lauer, sie bei Widersprüchen zu ertappen. "Der Staatsanwalt dachte, ich lüge." Celik sagt nicht "Anhörer", sie redet vom "Staatsanwalt". Dann fragt sie plötzlich, ob sie noch Tee holen soll, geht in die Küche und setzt Wasser auf. Celik hat dem "Staatsanwalt" gesagt, dass sie wegen der Verfolgung ein Kind verloren hat. Von der sexuellen Gewalt hat sie nichts erzählt. Sie hätte beantragen können, dass eine Frau sie anhört. "Geht das?", fragt Celik, fünf Jahre später. Am Nachmittag holt Ayse Celik ihre Kinder aus dem Kindergarten. Es nieselt, die Straßen sind leer. Die Jungs halten die Hände ihrer Mutter fest, den ganzen Weg zurück. Celik hat die Kinder kurz nacheinander bekommen, im Asylbewerberheim. Zwei Jahre wohnte sie dort mit ihrem Mann und den Babys in einem Zimmer. "Die meisten Fotos von damals habe ich zerrissen", sagt Celik. Sie ekelte sich vor den Gemeinschaftstoiletten und hatte Angst vor dem Hausmeister. Vom Münzfernsprecher im Heim waren keine Auslandsgespräche möglich. Wenn sie mit Verwandten reden wollte, musste sie in den Ort laufen, der drei Kilometer entfernt war. Sie hatten einen alten Fernseher, aber keine Satellitenschüssel. "Du gehst wegen der Politik dort weg. Du kommst hierher und willst dich austauschen. Aber dann kannst du nicht einmal Nachrichten hören", sagt Celik. "Ich möchte mich gern politisch engagieren", fügt sie hinzu und schenkt Tee nach. Wenn sie zu kurdischen Festivals fahren will, bekommt sie den kleinen Zettel nicht, der ihr erlaubt, den Landkreis zu verlassen. Celiks Kinder liegen auf dem Teppich und durchblättern die Özgür Politika auf der Suche nach Autobildern. Der Große malt mit dem Kuli einen kleinen Kreis auf die Zeitung, versieht ihn mit zwei Strichen und erklärt: "Mutti hat die Augen zu." Sie quengeln nicht, sie lassen ihre Mutter in Ruhe, aber sie bleiben immer beieinander. Nebeneinander sitzen sie am Tisch und essen einen Teller Suppe. Geht der eine zur Toilette, muss der andere auch. Fünf Jahre wartet die Familie auf ein Ja oder ein Nein. Fünf Jahre zwischen Anerkennung und Abschiebung. Für Asylverfahren ist das normal. Für Ayse Celik sind es Jahre mit Tagen, die nie vorbeigehen. Für ihre Kinder ist das das Leben.
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