Meine Liebe, teure Familie,
Zuerst umarme ich euch mit der ganzen Wärme meines Herzens und begrüße euch. Ihr habt zu beschweren, das ich so lange keinen Brief geschrieben. Darum habe ich diesen Brief, damit er möglichst schnell bei euch ankommt, auf türkisch geschrieben. Ich hoffe, ihr findet jemanden zum Übersetzen. Ich habe mir fest vorgenommen, in Zukunft auf deutsch und regelmäßig zu schreiben. Das habe ich mir zwar schon vorher oft Vorgenommen, dieser Vorsatz hat sich jedoch nicht verwirklicht, Ich will euch wirklich schreiben. Unzählige Briefe, die ich schreiben wollte, aber nicht geschrieben habe, viele Briefe angefangen, aber nicht zu Ende gebracht. Aber die Briefe, die ich dann geschrieben und abgeschickt habe, kann man an einer Hand abzählen. Aber man beschließt Vorsätze in der Hoffnung, das sie eines Tages Verwirklicht werden.
Zu erst einmal die Frage, wie es euch geht? In der Hoffnung, das es euch allen gut geht möchte ich zunächst mal feststellen, das es uns gut geht. Warum? Weil es in Tagen des Kampfes Hoffnung gibt. Es gibt ein Risiko, aber es gibt auch Hoffnung. Ja, eine Gelegenheit für die Hoffnung, Wie? Fragt man. Wer kämpft, siegt. Und wer siegt, wird leben. Aber Jemand, der gar nicht kämpft, verliert sowieso, und kann nicht leben. Natürlich gibt es im Kampf Risiko, ohne Risiko kann man nicht gewinnen. Die einzige Sache ohne Risiko ist der Tod. Und das ist auch das einzig garantierte für die, die vor dem Risiko fliehen. Wenn das so ist, dann ist die erste Bedingung im Leben zu kämpfen. Ja eine Revolution beginnt immer mit Hoffnung. Mit der Hoffnung zu gewinnen. Denn wenn nichts zu verlieren ist, kann man sehr viel gewinnen.
Das trifft besonders auf das kurdische Volk zu, das mit der Realität eines Völkermordes konfrontiert ist. In so einer Situation kann man es nicht akzeptieren, zu verlieren, denn zu verlieren würde auf jeden Fall den Tod bedeuten. Und diesen Preis kann keiner zahlen. Und zwingt dich, zu gewinnen. Und wir können sagen, daß das kurdische Volk noch nie in seiner Geschichte so nah am Sieg war. Natürlich kann sich das noch hinziehen, kann das noch sehr schmerzhaft werden. Aber früher oder später ist der Frieden das unvermeidbare Resultat. Unsere Parteiführung (P.Ö.) versucht in diesen Tagen den Grundriß des Friedens der Zukunft zu zeichnen. Das darf keiner falsch verstehen. Das ist keine billige Einigung (im Sinne von „nachgehen“ D.Ü.). Das ist der Vorschlag zu einer Lösung.
Ob das Gerichtsverfahren gegen P. Ö. nun rechtlich korrekt ist oder nicht, werde ich hier nicht diskutieren. Denn es ist nicht nötig. (Ein Gerichtsprozeß zwischen zwei Kriegsparteien kann nie unabhängig sein.) Das Problem ist kein juristisches, sondern politisches Problem. Darum kann auch die Lösung nur eine politische sein. Und die Verteidigung der P. Ö. bewegt sich, soweit wir das mitverfolgen können, in diesem Rahmen. Wenn man in die Details geht, kann man sehen, das sie nicht juristisch, sondern organisiert ist. Um den Frieden aufzubauen muß man Gesprächspartner sein. Und um Gesprächspartner zu sein, muß man als solcher anerkannt werden. Zunächst mal mußt du dich als zuverlässig bekannt machen.
Und je bestimmter das geschieht, um so stabiler wird auch das Fundament des Friedens. Natürlich ist es ziemlich schwer, einen solchen Kampf für den Frieden aus dem Gerichtsaal aus zu führen. Und man kann sehen, das trotz alle dem die P. Ö. aus diesen Umständen eine Gelegenheit geschaffen hat. Die P. Ö. bezeichnet diese Situation als „gelähmte Geburt“. Aber es ist trotzdem eine Geburt. Diese Geburt war von Anfang an das Ziel unseres Kampfes. Und 1993 waren immer wieder konkrete Schritte unternommen worden. Natürlich ist hier auch die Herangehensweise der P. Ö. an die Familien der Gefallenen der Gegenseite interessant. Dies zeigt, wie humanistisch die P. Ö. ist. Die eigentliche Größe ist, Verständnis für das, was die Gegenseite erlebt, zu haben. Und wir zeigen diese Größe. Er tut das nicht, weil er sich schuldig fühlt oder ihn sein Gewissen plagt. Die P. Ö. hat Verständnis für den Schmerz den sie empfinden, und das ist auch so. Denn, er teilt ihren Schmerz. Er hat es selbst schon Hunderttausende mal durchgemacht. Natürlich kann diese Herangehensweise der P.Ö. einige Verwirren, Aber die P. Ö. hat ihre eigene Art. Er ist kein Rebell oder Revolutionär nach klassischem Muster. Er führt sich nicht wie sie rasend auf und bemüht sich auch nicht um irgendein Image. Er will wirklich die Lösung. Und er will diese Lösung auch nicht einem Image opfern. Nein, er versucht die Gegenseite für dieses große Projekt, für dieses große Friedensprojekt zu gewinnen. Denn Frieden kann man nicht über die Kriegsparteien hinweg, sondern nur zwischen ihnen machen. Man braucht Partner. Man braucht Demokratie. Man braucht Freiheit und Unabhängigkeit. In diesem Rahmen ist zu erwarten, das einige Beziehungen, Verständnisse und Herangehensweisen sich ändern.
Das war es, was ich zu dieser Periode erklären wollte. Ich glaube, daß ihr sowieso euch darüber Gedanken gemacht habt. Auch wir versuchen, im Rahmen unserer eingeschränkten Möglichkeiten, den Kampf unserer P. Ö. zu unterstützen. Darum haben wir am 24. Mai einen unbefristeten Hungerstreik, mit Ablösung alle drei Tage, begonnen.
(...)
Bevor ich Schluß mache soll ich euch und allen anderen dort noch von allen Freunden hier Grüßen.
Eva