Brief an Eva

Ich habe Dich an einem regnerischen Herbsttag im Mittleren Osten kennengelernt. Genauer gesagt habe ich, als wir völlig durchnäßt auf dem Berg Çiyayê Sipî Rast hielten, zum ersten Mal deine Stimme gehört. Ich denke, es war feucht und neblig wie nach einem tropischen Regen. Das Feuer, das wir anzündeten, war typisch für mich: Es gab viel Rauch und wärmte kaum. Obwohl Feuer das Symbol meines Landes ist, hast du besser gelernt, es anzuzünden, als ich. Ich weiß genau, wenn Du in diesem Moment Feuer entzündet hättest, hätte es wahrscheinlich nicht einmal geraucht. Ich bin sicher, es wäre gut und wärmend geworden. Das war in demselben Moment klar, in dem Du in meinem Land, in meinen Bergen, Deinen Körper dem Feuer überlassen hast. Ist das nicht sonderbar? Du bist sogar fähig, in meinem Land ein besseres Feuer zu entfachen als ich.

Während ich dort nur einen kurzen Besuch abstattete, warst Du eine Guerilla Kurdistans an der Front. Nach meinem Besuch wählte ich den Weg zurück in Dein Land, aber Du denjenigen in meines. Ich gehe den Weg in Dein Land, das bei der Zerstörung meines Landes eine wichtige Rolle spielt, ja, sogar die Panzer herstellt, die mein Haus verwüsten. Du dagegen kämpfst gegen die Panzer, gegen die Waffen, die Dein Land herstellt und verkauft und die gegen mich eingesetzt werden. Aber es ist nicht Dein Land, sondern nur Dein Staat. Dein Staat war Deutschland, aber Deine Heimat ist heute Kurdistan. Ich dagegen hatte lange Zeit weder eine Heimat, die ich lieben und an die ich denken konnte, noch den Mut, sie mir in meinen Gedanken zu formen und dafür mit der Waffe zu kämpfen.

Vielleicht kämpfe ich auf meine Art und Weise; aber unsere Methoden sind verschieden. Ich habe mich dafür entschieden, ein Flüchtling in Deinem Land zu sein - Du dagegen bist eine Kämpferin in meiner Heimat. Ich profitiere davon von dem, was Deine Väter erreicht haben. Du gehst, um meine Väter und mich, um meine Heimat aus der Sklaverei zu befreien. Du bist eine Kämpferin - ich dagegen floh vor dem Krieg. -

Wir saßen damals an einem Weg unterhalb des Çiyayê Sipî und warteten auf den Wagen, der uns nach Dicle bringen sollte. Ob Du es aus den Unterhaltungen oder aus meinen Vorwürfen, daß ich schon einen Tag Verspätung hätte, herausgehört hast - ich weiß es nicht. Es gab einen Moment des Schweigens, und Du richtetest Deine Augen auf mich. Durch den Schleier von Rauch, der die Augen tränen ließ, hörte ich zuerst Deine Stimme. Eine Frage in gebrochenen Türkisch. Dann sah ich durch diesen Rauch das Himmelblau Deiner Augen, das ich während der zwei Tage unserer gemeinsamen Reise nicht wahrgenommen hatte.

Auch Dein Gesicht voller Sommersprossen ist mir im Gedächnis geblieben. Mir fiel ein, daß unsere Großmütter immer von den 'çavsîn û porzer', den Blonden und Blauäugigen gesprochen haben. Ich dachte vielleicht an die Geschichten über die 'gavurlar', die Ungläubigen, die man uns erzählte. Dies alles und Deine unverblümte Art beunruhigten mich.

Mir fiel Hemingway's 'Wem die Stunde schlägt' ein; Du erinnertest mich an einen anderen Freiheitskampf, der vor langer Zeit geführt wurde, und in dem die Angehörigen internationaler Brigaden Seite an Seite kämpften. Haben die Freunde Deiner Vorfahren auch in Spanien gekämpft? Auch, wenn die Solidarität heute nicht so groß wie damals ist, kämpfen doch jetzt, mehr als fünfzig Jahre später, wieder Menschen wie Du gegen einen Staat.

Weißt Du, bevor ich Dir antwortete, war ich erst mit Hemingway's Internationalisten unterwegs. Danach mit Ilya Ehrenburg an der spanischen Widerstandsfront. Du kamst von dort, von ihren Barrikaden, von Madrid, wo sie mit Blut an die Wände schrieben: 'Keinen Fußbreit den Faschisten!' Dann Dein Gesicht mit den Sommersprossen, das der Farbe der Erde widerstand und Deine Augen, die mich an das Blau des Wassers von Rûbar-i Sîn erinnerten. Wenn ich damals geahnt hätte, daß dieses Blau den Widerstand, den Glauben und einen Willen so unbeugsam wie die Berge Kurdistans in sich trug, hätte ich Dir keine Antwort auf Deine in gebrochenem Türkisch gestellte Frage zu geben vermocht.

"Heval, warum gehst du nach Europa? Erwartest du von dort denn noch irgend etwas?" fragtest Du mich. Wenn ich mich richtig erinnere, war Dein Name damals 'Kani'; 'Brunnen', 'Quelle'. Auch wenn ich mich irre, möchte ich, Daß Dein Name immer 'Kani' bleibt. Sei immer wie eine Quelle für unser trockenes Land: Dem mit Dir gleichzeitig festgenommenen Guerillakommandanten, der dem Verhör nicht standgehalten hat, zum Trotz Den vor Dir oder nach Dir Festgenommenen, den Überläufern und am Ende zu Verrätern Gewordenenen zum Trotz.

Woher hätte ich wissen können, daß die, die mir eine so einfache, mich mit einem Satz verurteilende, Fragen stellte, in den Kerkern der Kolonialisten soviel Kraft bekommen wird?

Woher hätte ich wissen können, daß Du von Menschen, die Kurdisch sprechen wie wir, aus der Region, in der wir uns begegneten, festgenommen werden würdest. Daß sie Dich in ein Kurdistan bringen würden, in dem sogar die Luft türkisch zu sein hat, um Dich dort zu verurteilen.

Woher hätte ich denn wissen können, daß Du, während sich die schnurrbärtigen Männer kaufen lassen, in Mus und Van ein Widerstandsepos schrieben würdest?

Wenn ich das alles zusammenfasse, kann ich Dir nur soviel sagen, Heval Kani: Das ist der Krieg! Wie das Ende sein wird, wer weiß es? Aber eine andere Gewißheit gibt es. In den vier, fünf Tagen, in denen wir damals unterwegs waren, hörte ich ein einziges mal deine Stimme. Und, wie ich schon sagte, hast Du mich da verurteilt.

Jetzt gibt es niemanden der Deine Stimme überhört:

Draußen diejenigen, die auf Dich eine Hoffnung setzen.
Drinnen und draußen die, die Angst vor Dir haben.
Dein Staat und meine Heimat.
Diejenigen, deren Häuser zerstört, die vertrieben und ermordet werden mit Waffen, die Dein Staat liefert.
Jeder, wir alle, kennen Dich sehr gut.
Die, die sich ergeben haben, schämen sich ihrer Männlichkeit, seit sie von Dir gehört haben. Und die Kämpfer sind stolz auf Dich!

Nun habe ich noch zwei Wünsche: den ersten, daß ich diese Stirn küssen möchte, die du immer so klar und aufrecht gehalten hast - und den zweiten, die Hände deiner Mutter zu küssen.

NEJDET BULDAN, 5.8.1998