Stick- und Nähkurse als Lockvogel für Geburtenkontrolle
Gespräch bei der Gewerkschaft  der Gesundheits- und Sozialdienste (SES)          
von Monika Morris

Am 08. Juni 1998 führten wir ein Gespräch mit Mitarbeiterinnen der Gesundheits- und Sozialsdienst Gewerkschaft. Die Frauen der S.E.S. betonten zunächst, daß gerade Frauen und Kinder vom schmutzigen Krieg am stärksten betroffen sind. Ihr Leben werde bestimmt von Armut, Hilflosigkeit und Angst. Der türkische Staat verhindere jedoch mit allen Mitteln eine Organisierung von Frauen. Frauen wie Sükran Aydin, die sich in die Öffentlichkeit trauen, seien eher die Ausnahme. In Urfa z.B. hätten die Sicherheitskräfte ein als Frauen-Treffpunkt bekanntes Büro, gestürmt und geschlossen. 
Die Frauen machten uns auf die entwürdigende Prozedur der erzwungenen Jungfräulichkeitskontrollen aufmerksam, die für die Mädchen und Frauen eine ungeheure Demütigung darstellen. Zudem berichteten sie über die besorgniserregende Gesundheitsversorgung und katastrophalen Bedingungen, unter denen Krankenschwestern und ÄrztInnen ihren Dienst in Krankenhäusern versehen müßten. Die Situation für die Patientinnen sei gleichfalls unhaltbar. So müßten sich z.B. 2 - 3 Frauen mit ihren Babies ein Bett teilen. Außerdem fehle es an medizinisch-technischer Ausstattung, so daß zahlreiche Eingriffe bei Komplikationen nicht vorgenommen werden könnten bzw. Behandlungen unterbleiben müßten. 
Weiter berichteten die S.E.S.-Frauen über ein staatliches Geburtenkontrollprogramm, welches die Gewerkschafterinnen als Assimilierungsinstrument bezeichneten. Begonnen habe es z.B. in Urfa vor etwa einem Jahr. Zur Umsetzung dieses Programms würden Krankenhäuser und Gesundheitsämter mißbraucht. Auf unsere Frage nach einer ersten Einschätzung dieses Erprobungsjahres, erklärten die Frauen, daß es nichts Schriftliches darüber gebe.
Das Programm diene vordergründig der Vermittlung von Bildung, natürlich ausschließlich unter den Bedingungen, der Ideologie und dem Interesse des türkischen Staates. Im Vordergrund stehe die Propagierung der Ein-Kind-Ehe und richte sich vorzugsweise an junge Mädchen und junge Frauen primär in den ländlichen Gebieten. Die in diesem Programm Tätigen würden direkt die Familien in den Dörfern aufsuchen und die Frauen entweder ins Kino einladen oder ihnen Stick- und Nähkurse anbieten, um überhaupt erst einmal ihr Interesse zu wecken. Im Rahmen dieser Veranstaltungen werde dann das Thema Familienbildung und -planung angesprochen. 
Die „AusbilderInnen“ (zumeist kurz ausgebildete Ehefrauen von Polizisten oder Soldaten) zögen sich jedoch von denen zurück, die bemerkt hätten, was hier vermittelt werden soll. Viele würden stutzig und fragten sich, wie es sein könne, daß sonst für nichts Geld da sei und plötzlich für eine Mutter-Kind-Beratung Geld überhaupt keine Rolle mehr spiele.
Eine unserer Gesprächspartnerinnen bemerkte, daß im Schwarzmeer-Gebiet auch Armut herrsche und es viele Kinder gebe, aber dort würden solche Projekte nicht durchgeführt. Es gehe eindeutig darum, die Geburten weiterer kurdischer Kinder zu verhindern. 
Die Methoden seien durchaus geschickt, subtil und für Frauen (und Männer) erst einmal nicht transparent. Die Frauen erzählten darüber hinaus, daß es Pläne zur Wiedereinführung von Internaten für kurdische Kinder gebe.
Männer würden in das Programm zwar auch einbezogen, aber bei weitem nicht in dieser Intensität . Sowohl die türkische Umwelt- (!) als auch die Frauenministerin unterstützen öffentlich das Projekt „zur Weiterbildung von Frauen“. So seien sie schon 1995 im kurdischen Gebiet gewesen und hätten Informationsveranstaltungen durchgeführt. Sie als Mitglieder der S.E.S. (die zur KESK gehört) hätten hingegen so gut wie keine Möglichkeiten, die Öffentlichkeit über Hintergründe und Intention des staatlichen Programms zu informieren. Es würde jedoch versucht, die Frauen in Einzelgesprächen aufzuklären, aber selbst das bereite zumeist große Schwierigkeiten. 
Ob dieses staatliche Geburtenkontrollprogramm aus EU-Geldern mitfinanziert werde, konnten uns die Frauen nicht konkret beantworten. Sie hielten eine solche Untersützung aber für durchaus denkbar.
Auf unsere Frage nach ihrem Arbeitsalltag unterstrichen die Frauen, daß ihre Arbeit als Gesundheitsge-werkschafterInnen massiv behindert werde. Zwei Frauen seien erst kürzlich aus dem Gebiet Diyarbakir vertrieben worden, weil sie für die S.E.S. gearbeitet hätten. Diesen Frauen (und Männern) werde nach ihrer Ausweisung in eine vom türk. Staat bestimmte Region/Stadt untersagt, Diyarbakir und das umliegende Gebiet zu betreten, außerdem erfolge eine zusätzliche Bestrafung in Form von Arbeitsverboten. 
Vor einiger Zeit habe es die Absicht von Ärzten und Ärztinnen zum Bau einer Poli-Klinik gegeben, in der die Menschen kostenlos hätten behandelt werden sollen. Dieser Plan sei von den türkischen Behörden schon im Keim erstickt worden. 
Am 8. März, dem Internationalen Tag der Frau, habe die Gewerkschaft diesen Tag feiern wollen. Ein solches Fest sei nicht zugelassen worden; Polizei- und Sicherheitskräfte hätten anreisende Frauen aus anderen Städten den Zugang nach Diyarbakir verwehrt und sie verprügelt. Ein Fest mit Tee und Musik für Frauen ohne besonderen Anlaß habe die Polizei die ganze Zeit über beobachtet oder gestört. 
Alle GesprächspartnerInnen (u.a. auch der S.E.S.-Vorsitzende Ali Ürküt) beklagten, daß ihnen jegliche technischen Mittel und jede Unterstützung fehlten, um effektiv und sinnvoll arbeiten zu können. So seien sie z.B. nicht in der Lage, Statistiken zu erstellen, die so wichtig wären. 
Sie benötigten dringend Hilfe zur Selbsthilfe und wünschten sich eine solche Unterstützung von Organisationen und Einrichtungen in Europa, insbesondere auch aus Deutschland. Auf eine mögliche Unterstützung, den Austausch und Kontakt mit Frauen (Freier Frauenverein oder auch Freie Frauen Stiftung) in Istanbul angesprochen, erklärten unsere GesprächspartnerInnen, daß es dahingehende Versuche gegeben habe. Das Problem bestünde aber darin, vielfach nicht verstanden zu werden. Die Konflikte in Kurdistan seien eben grundlegend andere als in Istanbul oder anderen Teilen der Türkei. So könnten z.B. Begriffe, die in Istanbul gebräuchlich seien, unmöglich in Kurdistan verwendet werden.  
Doch trotz all der Be- und Verhinderungen, der Bedrohungen und Verfolgung - alle GewerkschafterInnen erklärten einmütig und unmißverständlich, daß sie den Kampf für die Rechte und Freiheit der kurdischen Menschen fortsetzen würden.*
 

Jungfräulichkeitskontrollen werden häufig aber nicht nur bei jungen Frauen, die der Unterstützung der Guerilla verdächtigt werden, angewandt. Sie müssen sich zwangsweise auf Polizeistationen oder im Krankenhaus einer solchen frauen- und menschenverachtenden Prozedur unterziehen. Ärzte und Krankenschwestern werden gezwungen zu bescheinigen, daß diese Frauen keine Jungfrauen mehr seien. Nicht selten werden Frauen zuvor von Soldaten oder Polizisten vergewaltigt. Häufig ist aber auch die erzwungene ärztliche Bescheinigung der Freibrief für Vergewaltigungen. Diese Jungfräulichkeitstests kann sind als Folter-  und Kriegswaffe gegen die Frauen zu sehen.

Der Nationale Sicherheitsrat hat aufgrund von Volkszählungen festgestellt, daß die Zahl der Geburten kurdischer Kinder in einem seiner Ansicht nach schädlichen Ausmaß zugenommen habe und die Existenz des türkischen Staates gefährden würde. Daraufhin seien verschiedene Programme zur Geburtenkontrolle für die Gesamttürkei entwickelt worden. Anwendung finden sie jedoch nach den Aussagen unserer GesprächspartnerInnen primär in den kurdischen Gebieten oder den Großstädten der Westtürkei, in denen zahlreiche kurdische Flüchtlinge leben. 

Diese Internate werden kurdischen Familien als Bildungsangebot für ihre Kinder schmackhaft gemacht. Die Absicht des türkischen Staates ist jedoch, mithilfe dieses Angebots die Kinder ihrer Sprache, Kultur und Identität zu entfremden - sie mithin zu türkisieren. Es gab eine Zeit, in der der Staat den Familien die Kinder entrissen hat und sie in Internate zwecks Assimilierung zwang. Von dieser brachialen Methode wurde jedoch wegen des massiven Widerstands der kurdischen Bevölkerung Abstand genommen.*