1. Gespräch mit Filiz Köstak, Anwältin bei TOHAV

"Diese Überfälle, die wie eine Explosion über unser Land hereinbrachen, erwarteten wir überhaupt nicht. Erst später haben wir herausgefunden, dass die Inhaftierten bereits eine Woche vor Beginn der Überfälle erste Befürchtungen hegten. Insassen mit langjährigen Haftstrafen hatten früher schon ähnliche Operationen erlebt, sie kannten das Gefühl.

1.1. Aussichtslose Verhandlungen
Eine Anzahl von Gefangenen, etwa 200, hatte sich zum Todesfasten entschlossen, eine grosse Zahl schlossen sich später mit einem Hungerstreik an. Das öffentlich deklarierte Ziel der Hungerstreikenden war es, sich der Verlegung in die F-Typ-Gefängnisse zu widersetzen. Der Plan der Regierung hingegen war es, einen Gefangenen nach dem andern in diese Gefängnisse zu verlegen. Zur Unterstützung der protestierenden Hungerstreikenden hatte sich eine Solidaritätsgruppe gebildet, bestehend aus Menschenrechtsorganisationen, NGO, verschiedenen Kulturschaffenden, JournalistInnen und linken Parteien. Diese versuchten, Verhandlungen mit Regierungsvertretern zu führen und mit diesen einen Konsens auszuhandeln. Die Verhandlungen wurden am 53. Tag ergebnislos abgebrochen, nachdem die Regierung auf keine der Bedingungen eingehen wollte. Der Kontakt zwischen der Unterstützungsgruppe und den Hungerstreikenden brach ebenfalls ab, nachdem keine Zugeständnisse erlangt werden konnten und weitere Verhandlungen aussichtslos erschienen.

1.2. Die gewaltsamen Operationen
Am Dienstag, den 19. Dezember, am 58. Tag des Hungerstreiks, begannen die Operationen. Ich hatte geplant, mit KollegInnen zum Bayrampasa Gefängnis zu gehen, da der Dienstag der offizielle Besuchstag ist. Bereits am Morgen erfuhren wir von den Überfällen und drehten das Fernsehen an, weil wir versuchen wollten herauszufinden, was geschehen war. In den Acht-Uhr-Nachrichten erfuhren wir, dass genau um 04.30 Uhr 20 Gefängnisse quer durch das Land von einem Grossaufgebot an Armee- und Polizeieinheiten parallel gestürmt worden waren. Unsere Gruppe von Anwältinnen und Anwälten versammelte sich bereits um 09.00 Uhr im Menschenrechtsverein (IHD) in Istanbul. Wir versuchten, in die Gefängnisse anzurufen um zu erfahren, wie die Bedingungen der Häftlinge waren. Es war jedoch unmöglich, Kontakt herzustellen. Im IHD trafen immer mehr Angehörige der Inhaftierten ein. Viele von ihnen waren verzweifelt und weinten. Die AnwältInnen suchten den Kontakt zur Regierung, um diese aufzufordern, Tote zu verhindern. Die Hungerstreikenden hatten sich inzwischen in ihren Zellen verbarrikadiert und waren nicht von ihrem Vorhaben abzubringen, sich dem Transfer zu widersetzen. Sie bestanden auf ihrem Menschenrecht, wie sie es formulierten. Bereits jetzt hätten sie sehr unter den Folterqualen zu leiden, die Folterknechte ihnen zufügten. Sie waren überzeugt, dass dies in den Einzelzellen noch viel schlimmer werden würde, wo sie schutzlos und ohne Kontrolle Folter ausgeliefert wären. In den Grosszellen hatten sie mindestens die Gemeinschaft und die Solidarität der anderen Inhaftierten, was einen gewissen Trost darstelle.


1.3. Kontaktsperre
Die versammelten Anwältinnen und Anwälte beschlossen, die Gefängnisse unter sich aufzuteilen und zu versuchen, uns auf diese Weise Kenntnisse über die Ereignisse zu verschaffen. Wir TOHAV-Anwälte kümmerten uns unter anderen um die Gefängnisse in Bayrampasa und Ümraniye. Ich ging zusammen mit meinen KollegInnen Eren Keskin, Gülüzer Tuncer und Özcan Kiliç nach Bayrampasa. Als wir in die Nähe des Gefängnisses kamen stellten wir fest, dass die Gegend bis zu einem Kilometer im Umkreis des Gefängnisses von Polizisten abgeriegelt war. Durch eine kleine Seitenstrasse gelang es uns, bis zum Gefängniseingang vorzudringen. Hier wurden wir von Zivilpolizisten aufgehalten. Wir sahen Familienangehörige, die zwischen die Absperrung und die Gefängnismauern geraten waren. Polizisten schlugen auf sie ein, beschimpften sie und jagten sie weg. Dabei lachten sie. Aus den Fenstern und durch das Dach des Gefängnisses sahen wir Rauch aufsteigen. Schliesslich befahlen uns die Polizisten, wir sollten uns verziehen oder sie würden uns festnehmen. Wir wollten aber nicht einfach klein beigeben. Wir bemerkten, dass alle verschiedenen Einheiten da waren: Militär, Anti-Terror-Teams, verschiedene uniformierte und zivile Polizisten, Sondereinheiten. Die Familien, die sich nicht abwimmeln liessen und nach ihren Angehörigen fragten, wurden einfach festgenommen. Wir folgten einer Gruppe von ihnen und stellten den Polizisten Fragen zu den Operationen und erhielten zur Antwort, es sei ihnen verboten worden, uns Auskünfte zu erteilen.
Dann suchten wir nach dem Staatsanwalt oder dem Gefängnisdirektor oder sonst nach jemandem, der uns Auskunft geben könnte. Wir stiessen auf einige Gefängniswärter, die uns kannten und uns freundlich gesinnt waren und uns einige Informationen geben konnten. Auf diese Weise erfuhren wir, was sich im Innern abspielte. Die Gefängniswärter waren inzwischen entfernt worden und das Gefängnis war vollkommen in der Hand von Sonderkommandos der Armee. Sie erzählten uns, dass zahlreiche Verwundete in Spitäler überführt worden waren. Draussen war also die Polizei zuständig, drinnen die Armee. Die Spezialeinheiten waren aus Ankara, Yozgat, Silivri und von anderen Stützpunkten für diesen Einsatz hergebracht worden. Wir realisierten, dass diese Operationen von langer Hand vorbereitet worden waren und dass die Regierung entschlossen war, die Häftlinge gewaltsam in die F-Typ-Gefängnisse zu überführen, obwohl der Innenminister noch gestern vor laufender Kamera bestätigt hatte, dies sei noch Gegenstand von Diskussionen. Schliesslich nahmen sie auch zwei von uns fest. Die Anwältin Eren Keskin war in der gleichen Woche dreimal festgenommen worden.

1.4. Noch immer Chaos
Die ersten Tage waren sehr schwarz. Am 2. Tag waren die Informationen nur wenig klarer. Wir erhielten immer mehr Auskünfte über die Erschossenen und Verwundeten. Die Informationen der Regierung waren weiterhin sehr verwirrlich. Jemand, der als tot erklärt worden war, tauchte beispielsweise anderntags plötzlich wieder auf der Liste der Lebenden auf. Die Listen, die wir als Anlaufstelle für die Angehörigen führten, mussten immer wieder korrigiert werden. Alles war durcheinander - und noch immer herrscht Unklarheit. Es sind auch Leute durch den Todesstreik umgekommen, was bisher verheimlicht wurde. Wie viele es sind, wissen wir nicht. Viele der Verletzten wurden nicht behandelt, sondern einfach ihrem Schicksal überlassen. Auch heute, am 9. Tag nach der Operation, gibt es noch immer Verletzte, die keine Behandlung erhalten haben.
Am Tag der Operation hielt ich mich in Aksaray auf, in der Nähe des Spitals. Allein aufgrund des Sirenengeheuls der Ambulanzen konnte man vermuten, dass es sehr viele Verletzte und Tote gegeben haben musste. Ich erfuhr, dass einem meiner Klienten, Ali Ekber Düzova, der im Ümranyie-Gefängnis in Haft sass, in die Beine geschossen worden war und er ins Spital gebracht wurde. Ich fuhr sofort zum Spital, erhielt jedoch keinerlei Auskunft und wurde auch nicht zu ihm gelassen.

1.5. Zeugnisse aus erster Hand
Am letzten Freitag fuhr ich zum Gefängnis für Frauen und Kinder in Bakirköy. Unsere Verfassung sieht leider vor, dass auch Kinder im Gefängnis Haftstrafen absitzen müssen. In diesem Gefängnis konnte ich Kontakt zu Frauen aufnehmen, die von Bayrampasa hierher gebracht worden waren. Nach ihren Auskünften hatten die Soldaten bereits in den ersten Minuten der Erstürmung des Gefängnisses mit Kanas-Gewehren, die mit Nachtsichtgeräten versehen waren, auf die Gefangenen geschossen. Dieser Typ Gewehr ist der türkischen Armee vorbehalten und kann privat nicht erworben werden. Auch benutzten sie bei der Erstürmung des Gefängnisses Flammenwerfer. Die Frauen sind überzeugt, dass die verbrannten Leichen von diesen Flammenwerfern stammen und sich die Inhaftierten nicht selbst angezündet haben. Die Gefängnisinsassen von Ümranyie haben bestätigt, dass bei ihnen mit den selben Methoden vorgegangen wurde.
Ich erfuhr von verschiedenen Gefangenen, dass die Soldaten als erstes eine Zelle mit PKK-Gefangenen stürmte und diesen auf die Beine schoss. Sie warfen Rauchbomben in die Zellen sowie Tränengas und Pfeffergas. Sie öffneten die Zellen der Gefangenen und zerschossen die Fenster. Der Anführer der Soldaten forderte die Gefangenen auf, aufzugeben. Der Sprecher der PKK antwortete: "Wir sind unbewaffnet, hört auf, uns anzugreifen. Bringt den Obersten zu uns." Inzwischen hatten Soldaten begonnen, auf andere Zellblocks zu schiessen. Die Soldaten unterbrachen die Kontakte zwischen den Gruppen, sodass die einzelnen Gruppen nicht wussten, was mit den anderen geschah.
Die Operation in Bayrampasa dauerte insgesamt fünfeinhalb Stunden. Alle Häftlinge wurden schliesslich in Handschellen gelegt und in den Speisesaal gebracht. Dort mussten sie bis um Mitternacht warten, bis sie an verschiedene unbekannte Orte gebracht wurden. Sie durften sich nicht hinsetzen, obwohl viele von ihnen verletzt waren. Zahlreiche von ihnen mussten erbrechen oder wurden ohnmächtig, da sie während langer Zeit schutzlos den giftigen Gasen ausgesetzt waren. Die Gefangenen, die Brandwunden aufwiesen, wurden nicht behandelt. Die Frauen wurden nach Bakirköy gebracht und auf verschiedene Zellblocks verteilt, die ohne Heizung waren. Sie wurden einfach ihrem Schicksal überlassen wie sie gerade waren, einige in Unterwäsche, andere in Nachthemden, da sie bei der Operation im Schlaf überrascht worden waren und keine Gelegenheit erhielten, einige Habseligkeiten mitzunehmen. Die Frauen standen völlig unter Schock und waren in einem sehr schlechten psychischen Zustand. Für mich war es ein grosses Glück, dass die Frauen hierhergebracht wurden, sonst wäre es mir nicht möglich gewesen, mit ihnen in Kontakt zu treten.
Die Spezialeinheiten waren nach Ümranyie verlegt worden, nachdem sie in Bayrampasa ihr blutiges Geschäft abgeschlossen hatten. In Ümranyie begann die Operation ebenfalls im PKK-Zellblock. Es wurde nach dem selben Muster verfahren: Gasbomben und Schüsse aus automatischen Waffen. Die Gefangenen gerieten in Panik, alle schrien durcheinander und der Sprecher der Inhaftierten wollte mit dem Kommandanten der Soldaten sprechen, damit die Schiesserei aufhöre. Inzwischen ging die Schiesserei in den anderen Zellblocks weiter. Die PKK wollte versuchen, einen Dialog für alle Gefangenen herzustellen. Weil aber der Kontakt zwischen den Gefangenen unterbrochen war, konnten sie keine Informationen austauschen.

1.6. Erster Gefängnisbesuch
Wir Anwältinnen und Anwälte haben erst gestern, eine Woche nach den Operationen, eine Sondergenehmigung erhalten, um mit dem Befehlshaber und den Gefangenen zu sprechen. Wir konnten erstmals abklären, wie ihr Zustand war und ihnen einige Kleinigkeiten bringen, die die Verwandten uns mitgegeben hatten. Allerdings mussten wir die Pakete den Soldaten abliefern, die sie dann den Gefangenen übergaben. Die Gefangenen waren überglücklich, als sie uns sahen. Wir erhielten die Bestätigung, dass das Gefängnis in den Händen des Militärs ist. Es sind nur Soldaten anwesend. Das gesamte Gefängnispersonal ist suspendiert worden. So mussten wir alle Verhandlungen mit Militärs führen und die Gespräche zwischen uns AnwältInnen und den Gefangenen fanden in Anwesenheit von Soldaten statt. Die Gefängnisse befinden sich im Ausnahmezustand. Die PKK-Gefangenen wurden in den E-Block verlegt, weil ihr Block zerstört worden war. Von den rund 800 Inhaftierten in Ümranyie sind bereits etwa die Hälfte in F-Typ-Gefängnisse gebracht worden. Bis heute haben die Gefangenen keine frischen Kleider erhalten und durften auch nicht duschen. Sie haben sich vorwiegend von Sandwiches ernährt. Anstatt der vorgesehenen 50 sind gegenwärtig 250 Personen in einer Zelle zusammengepfercht.
Für die Verwandten fand der Kontakt zu ihren Angehörigen in den Gefängnissen zunächst nur über die Anwältinnen und Anwälte statt. Sie kamen von überall her: Dersim, Erzincan, ja sogar aus dem fernen Kars. Als wir in Ümranyie waren, stand eine alte 75-jährige Frau am Gitter und rief den Soldaten zu: "Sagt, ist mein Sohn noch am Leben? Sein Name ist XY." Die Verwandten sind verzweifelt, sie weinen und suchen ihre Angehörigen. Der IHD führt Listen über die Toten und Verwundeten und versucht herauszufinden, welche Gefangenen wohin gebracht wurden. Bei TOHAV werden wir überhäuft mit Anfragen. Inzwischen ist es auch den Familienangehörigen wieder erlaubt, mit den Gefangenen direkten Kontakt zu haben.
Hätte zwischen den PKK-Häftlingen und dem Militär kein Gespräch stattgefunden - so sind die Gefangenen überzeugt - hätte es noch viel mehr Tote gegeben. Der Hungerstreik wird aber weitergehen. Gegenwärtig sind etwa 250 Gefangene am Todesfasten, weitere 100 unterstützen sie mit einem solidarischen Hungerstreik. Sie erhalten keinen Zucker und auch kein Salz von den Soldaten. Es wird noch mehr Tote geben, wenn die Regierung den Dialog nicht aufnimmt. Der Justizminister sagte: "Das sind unsere Kinder, es braucht einen Konsens zwischen ihnen und uns." Gleichzeitig verharren sie aber auf ihrer Extremposition Gegenwärtig erhalten die Hungerstreikenden auch keine Unterstützung durch Menschenrechtsgruppen. Vereinzelt finden sich Personen, die etwas schreiben, die Situation ist aber ziemlich hoffnungslos.
Wir sind nicht sehr zuversichtlich, was die Zukunft dieser F-Typ-Gefängnisse betrifft. Das Gefängnispersonal soll stark reduziert und speziell ausgebildet werden. Ich befürchte, dass die Polizisten sich an den Häftlingen rächen werden."

Istanbul, 26. Dezember 2000/MR