Türkei: Delegation vom 11.-12. April 2001
Die
Hungerstreiks gegen das Haftregime für politisch Gefangene
Ist
das Todesfasten von ein paar hundert Personen, von denen bis zum 12.4.01
neun verstorben sind, bloss eine hilflose Aktion einiger FanatikerInnen?
Nationalrätin und Europaratsmitglied Ruth-Gaby Vermot, Marianne
Roth vom SAH, Guido Ehrler vom Basler Gewerkschaftsbund, Reto Plattner
von augenauf und Anni Lanz von Solidarité sans frontières
haben sich anlässlich ihrer Delegationsreise vom Gegenteil überzeugen
lassen. Sie haben in Istanbul mit den folgenden sieben Organisationen
gesprochen, die unabhängig voneinander das Haf-tregime für
politische Gefangene ähnlich beurteilen und sich mit den Hungerstreikenden
solidarisieren oder zu-mindest ihrer Aktion grosses Verständnis
entgegen bringen:
1. TOHAV (Foundation for Social and Jurisprudence Researches)
2. HADEP (Demokratische, kurdisch orientierte Volkspartei)
3. KESK (Demokratische Gewerkschaftsvereinigung)
4. Anwaltskammer in Istanbul
5. IHD (Menschenrechtsverein in Istanbul)
6. TAYAD/TÜYAP (Vereine der Angehörigen politischer Gefangener)
7. Journalist der ZeitungCumhuriyet
Die
VertreterInnen der sieben Vereinigungen stimmen in den folgenden Punkten
überein:
1. Das Haftregime und die Struktur der F-Typ-Gefängnisse sind unmenschlich;
sie sind gegen die Men-schenwürde gerichtet und rechtsstaatswidrig.
2. Politische Gefangene sind einem Sondergesetz unterworfen (Art. 16,
Antiterrorgesetz), welches durch die umstrittene Verordnung zu den F-Typ-Gefängnissen
(ministerieller Erlass) ergänzt wird.
3. Das Antiterrorgesetz (Art. 16) wurde vor allem zur Unterdrückung
der PKK geschaffen; damit bestraft werden vor allem Personen (zu etwa
90% aller Angeklagten), die sich nie eine Gewalttat haben zu-schulden
kommen lassen und die bloss eine abweichende politische Meinung geäussert
haben. Das Gesetz unterdrückt die Rechte auf Versammlungs- und
Meinungsfreiheit.
4. Die wegen ihrer politischen Gesinnung Angeklagten werden vor ein
Sondergericht (Staatliches Sicher-heitsgericht) gestellt, wo die Verteidigungsrechte
massiv eingeschränkt sind.
5. Die Haftverordnung der F-Typ-Gefängnisse und die Gefängnisordnung
verstossen gegen verschiedene rechtsstaatliche Grundsätze wie Rechtsgleichheit,
Anwaltsgeheimnis etc..
6. Mit der Isolationshaft soll die Solidarität unter den politischen
Gefangenen, die ihr einziger Rückhalt ist gegen die menschenrechtswidrigen
und entwürdigenden Haftbedingungen (und gegen Verfolgung), zer-schlagen
werden.
7. Seit das Militär am 19.12.2000 die Gefängnisse erstürmt
hat, verweigert die Regierung den Dialog über die Verordnung mit
den NGOs, Berufsverbänden und Gewerkschaften. Er muss unbedingt
wieder auf-genommen werden.
8. Die europäischen Länder (Regierungen, Medien, NGOs) dürfen
zu den Hungerstreiks nicht länger schweigen; sie müssen das
neue Gefängnissystem nachhaltig kritisieren.
Die
Delegation ist voller Traurigkeit von ihrer Reise zurück gekehrt.
Sie ist betroffen durch das offizielle und öf-fentliche Schweigen,
durch die Erfolglosigkeit der Bemühungen ihrer türkischen
GesprächspartnerInnen und durch die systematische Isolierung aller
demokratischen Kräfte, die sich für den Dialog einsetzen.
Der türkischen Presse ist es verboten, über die Hungerstreiks
und über den erfolgten Tod von neun sowie über den bevorste-henden
Tod von über hundert Häftlingen zu schreiben. Vereinigungen,
Gewerkschaften und NGOs haben Ap-pelle an die Regierung gerichtet; ein
Zusammenschluss unter 17 Vereinigungen ist im Gange. Aber eigentlich
ist es schon zu spät, um zu verhindern, was leicht hätte verhindert
werden können. Die Todesmeldungen werden sich in diesen Tagen häufen.
Viele der Todesfastenden haben bereits irreversible Schäden erlitten,
die sie zu schwerst Behinderten machen. Friedliche Konfliktlösungen
sind in der Türkei nicht möglich. Gewalt, auch dieje-nige,
die gegen die eigene Person gerichtet ist, scheint in dem gewalttätigen
Staatssystem der Türkei der einzige Weg, sich Gehör zu verschaffen.
Diesmal, und es ist nicht der erste Hungerstreik in derselben Sache,
ist es noch nicht gelungen. Heute, am 21.April sind bereits 14 Hungerstreikende
verstorben. In drei Tagen besucht die Delegation Bundesrat Deiss, damit
sich die Schweiz unverzüglich für die Verbesserung der Rechte
und der Haftbedingungen politischer Gefangener einsetze.
Repression
gegen Aussenstehende
Alle aufgesuchten VertreterInnen von Verbänden, Gewerkschaften,
Medien und NGOs haben über Repressio-nen geklagt, die sie als involvierte
Personen täglich erfahren:
AnwältInnen
(RA)
Jede Einmischung, die nicht mit der staatlichen Ideologie übereinstimmt,
wird als Staatsfeindlichkeit erachtet und dem Terrorismus zugeordnet.
In diesem Bereich tätige AnwältInnen werden systematisch eingeschüchtert
(an-onyme Drohanrufe) und schikaniert sowie in ihren Rechten beschnitten.
RA können ihre KlientInnen in F-Typ-Gefängnissen (60 sind
geplant; zwei bzw. vier sind bereits in Betrieb) bloss einmal pro Woche
weniger als eine Stunde (abzüglich Wartezeit) besuchen. Die Gefängnisse
liegen ausserhalb der Städte und sind mit den öffentlichen
Verkehrsmitteln nur schwer erreichbar. Ein RA kann unter diesen Be-dingungen
nicht mehrere KlientInnen in F-Typ-Gefängnissen betreuen. Die RA
werden einer scharfen Kontrolle unterworfen und manchmal bis auf die
Unterwäsche durchsucht. Das Gefängnispersonal behändigt
und kopiert Akten und Adressbücher/Visitenkarten der RA. Somit
wird das Berufsgeheimnis der RA durch die Gefängnisver-ordnung
krass verletzt.
Politische Gefangene werden rechtsungleich behandelt. Unentgeltliche
Rechtspflege wird ihnen bestenfalls nur bis zur Anklage gewährt,
sie müssen ¾ (statt ½) der Haftzeit verbüssen,
werden vor ein Sondergericht (DGM) gestellt und sind in ihren Verteidigungsrechten
eingeschränkt. Sie werden systematisch gefoltert. RA können
sich gegen alle diese Rechtsverletzungen und Übergriffe nicht wehren.
Vollzugsbeamte
Demokratisch gesinnte BeamtInnen des Strafvollzugs, wie sie in der KESK
organisiert sind, haben seit der Er-stürmung der Gefängnisse
(am 19.12.00) unter harten Sanktionen zu leiden. Manche Beamten wurden
suspen-diert, vier inhaftiert (drei sind immer noch im Gefängnis
wegen Art. 169, Begünstigung von rechtsstaatswidrige Organisationen),
unzählige wurden versetzt. 42 Beamte des Kartal Gegängnisses
sowie 16 von Bayrampasa wurden versetzt. VollzugsbeamtInnen, die in
der KESK organisiert sind, werden nicht mehr in F-Typ-Gefängnissen
beschäftigt. Denn der Dialog mit Häftlingen ist untersagt.
Die Vollzugsbeamten werden selbst während ihrer 12-Sunden-Schicht
dauernd observiert. Der Strafvollzug ist technisch rationalisiert und
die Kon-trolle ausgebaut worden. Die Vollzugsbeamten leiden selbst unter
zunehmender Isolierung und Überwachung. Für viele ist wegen
der Versetzung das Familienleben nicht mehr möglich. Die Gefängnisse
befinden sich in wenig besiedeltem Gebiet, ohne schulische und soziale
Infrastruktur.
Angehörige
Verschiedene Büros der Vereinigungen von Familienangehörigen
der Gefangenen wurden von der Polizei ge-schlossen und zerstört.
Die Angehörigen haben kaum noch einen Ort, wo sie sich treffen
und sich gegenseitig stützen können. Ihre Versammlungslokale
werden meistens geräumt, die Mitglieder geschlagen und festge-nommen.
Der IHD in Istanbul veranstaltet bei jedem Todesfall ein 5-minütiges
Sit-in auf der Strasse vor seinem Büro. Wir haben ein solches beobachtet.
Nach kurzer Zeit tauchte bereits Polizeiverstärkung auf, doch die
Trau-ernden hatten sich zerstreut, bevor sie von der Polizei gewaltsam
vertrieben wurden.
Die Vereine der Familienangehörigen bildeten sich anlässlich
der ersten Hungerstreiks von politischen Gefange-nen gegen die Haftbedingungen
(1984, vier Jahre nach dem Militärputsch). Die Häftlinge konnten
1984 ihre For-derungen teilweise durchsetzen. 1996 fanden in den Gefängnissen
erneut grosse Hungerstreiks statt, die sich gegen die Einführung
des F-Typs richteten. Hungerstreiks und Todesfasten wurden von den Angehörigen
stets mitgetragen; sie wurden von den Staatsorganen hart angegriffen.
Die politischen Häftlinge dürfen von ihren Angehörigen
nur einmal pro Woche während einer halben Stunde besucht werden;
diejenigen im Spital dürfen nur besucht werden, wenn die Angehörigen
sie zum Abbruch des Todesfasten ermutigen. Doch auch die spärlichen
Besuchszeiten im Gefängnis werden durch zahlreiche Schi-kanen reduziert.
Die hungerstreikenden Gefangenen werden gefoltert (konkret: vergewaltigt,
vor den Augen ihrer Angehörigen geschlagen). Die Todesfastenden
werden durch die Zwangsernährung zusätzlich gefährdet
oder verletzt. Die Ärztekammer (Fatih Sürenkök) hat sich
wiederholt gegen das Vorgehen der Regierung ausgesprochen und dringend
deren Dialogbereitschaft gefordert. 13./21.4.01. a.l.