Hisbollah: "uneheliches Kind"
des türkischen Staates
von Mehmet Sahin
Seit Mitte Januar 2000 ist das Wort "Hisbollah"
und die dahinter stehende Organisation das am meisten diskutierte Thema
in der Türkei. Die einen sehen in der Hisbollah ein zur Bekämpfung
der PKK eingesetztes Instrument des Staates. Für die anderen ist
sie eine pro-iranische islamistisch-fundamentalistische Organisation,
die das Land Türkei und die türkische Nation zu spalten versucht.
Betrachtet man die Verteidigungsstrategie der Staatsmänner in der
Türkei, so fällt auf, dass sie mit allen möglichen Mitteln
versuchen, glaubhaft zu machen, nichts mit der Hisbollah zu tun zu haben.
Da fragt man sich: warum diese Eile und Hast?
Ja, welche Version ist nun richtig? Hat der türkische Staat eine
solche mörderische Bande aufgezogen, um sie gegen Oppositionelle
und den kurdischen Widerstand einzusetzen, oder haben "ausländische
Mächte" eine solche Organisation gegründet und in der Türkei
etabliert, um diese zu schwächen?
Um sich Klarheit zu verschaffen, ist es oft besser Fragen zu stellen und
nach Antworten zu suchen.
Fangen wir an: Wann wurde die Hisbollah in der Öffentlichkeit bekannt?
Mit welchen Machenschaften hat sie sich einen Namen gemacht? Und wo hat
sie diesen zweifelhaften Ruhm erworben? Wer waren die Zielobjekte dieser
Mörderbande? Man könnte noch weitere ähnliche Fragen formulieren,
aber wozu eigentlich, wenn doch alles vor den Augen der Öffentlichkeit
geschah?
Der Name "Hisbollah" fiel erstmals Ende der 80er Jahre. Ihren
eigentlichen Ruhm erlangte sie aber in den 90er Jahren, als täglich
auf den Straßen von Diyarbakir, Batman und Silvan Dutzende Menschen
am hellichten Tag vor aller Augen bestialisch getötet wurden - durch
Axthiebe auf den Kopf oder mit einem Schuß in den Hinterkopf.
Ihre Operationsgebiete waren also die vom Krieg beherrschten und von insgesamt
über 300.000 Sicherheitskräften - Armee-, Gendarmerie- und Polizeiangehörigen
- belagerten Städte Kurdistans.
Der Staat, der 10-15jährige Zeitungsverkäufer, Menschenrechtler
und Gewerkschafter verfolgte und 85% der Bevölkerung registriert
hatte, der also über alles Bescheid wusste, war auf einem Auge blind
und sah fast nichts, als kurdische Intellektuelle und Oppositionelle auf
offener Straße regelrecht hingerichtet wurden. Die Rede ist nicht
von Dutzenden oder Hunderten von Opfern, sondern von Tausenden. Einige
sagen, dass die Zahl der Opfer bei über 2.000 liege, andere hingegen
sprechen von noch mehr Opfern. Bedenkt man, dass es über 10.000 politisch
motivierte und unaufgeklärte Morde im Ausnahmezustandsgebiet gegeben
hat, wird das Ausmaß dieser Grausamkeiten deutlich. Zielobjekte
dieser Bande waren fast ausschließlich Kurden und ihre Operationsgebiete
waren bis vor wenigen Monaten die kurdischen Städte.
Hätte die PKK nicht einseitig ihre Waffen zum Schweigen gebracht,
und würden die bewaffneten Auseinandersetzungen noch andauern, dann
hätte die Hisbollah nicht den Versuch gemacht, sich in Istanbul oder
anderen westlichen Städten der Türkei zu etablieren. Dann würde
heute niemand über die Hisbollah sprechen.
So taucht die berechtigte Frage auf: Warum gerade jetzt, warum nicht vor
2 oder 3 Monaten oder vor einem Jahr? Dies hängt vielleicht auch
mit der innenpolitischen Tagesordnung der Türkei zusammen. Zu erinnern
ist nur an die Diskussionen, die bis Mitte Januar in der Türkei heftig
geführt worden sind: die Vollstreckung oder Aussetzung der Todesstrafe
gegen Öcalan und die Vorschläge und Äußerungen von
kurdischer Seite zur friedlichen Lösung der Kurdenfrage und zur Demokratisierung
des Landes haben die politischen Diskussionen in der Türkei beherrscht.
Der Druck für die Vollstreckung der Todesstrafe kam von der Tugendpartei
(Fazilet Partisi). In der Absicht, mit ihr abzurechnen und sie in die
Knie zu zwingen, hat der Staat die Hisbollah auf die Tagesordnung gebracht,
um der Bevölkerung zu zeigen, welche Grausamkeiten diese als eine
Organisation, die wie die Tugendpartei den Islam auf ihre Fahnen geschrieben
hat, anrichten kann. So wollte man die Unterstützung der Bevölkerung
für die Tugendpartei schwächen und ihrem Ansehen Schaden zufügen.
Und darüber hinaus wurde den Kurden, vor allem aber der PKK signalisiert:
"Seid still und mischt euch nicht in die Angelegenheiten des Staates
ein. Ihr wolltet Gegenschritte zum Friedensprozess, also bitte: wir rechnen
mit der Hisbollah ab."
Tatsächlich geschah beides: einige Altlasten wurden auf die anderen
geschoben und die Herrschaften haben ihre schmutzige Wäsche von den
anderen waschen lassen.
Sie fragen sich mit Recht: Wer steckt nun hinter der Hisbollah? Wir uns
auch. Und wir denken, diejenigen, die hinter Gladio und JITEM, hinter
der Konterguerilla und dem Susurluk-Skandal stecken, die stecken auch
hinter der Hisbollah. Sie ist ein "uneheliches Kind" des türkischen
Staates, der sie im Sumpf des Krieges in Kurdistan gezeugt hat. Die Hisbollah
ist also die kleine Schwester der o. g. paramilitärischen Organisationen.
Ihre Väter sitzen im innersten Zentrum des Staates, oder anders gesagt
im "Staat im Staate", dem Nationalen Sicherheitsrat.
Ohne gegen diesen Apparat vorzugehen, wird man weder die Verbrechen der
Hisbollah noch die Susurluk-Affäre oder andere von ihm ausgegangene
Operationen aufklären können.(ms)
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