Vorwort

"Wer ist ein Held? Der seinen Feind zu seinem Freund macht!" - so lautet ein altes hebräisches Sprichwort.
Frieden macht man mit Feinden. Mit Feinden ist man im Krieg. Je länger der Krieg dauert, um so tiefer werden Angst, Hass, Vorurteile. Der Feind erscheint nicht mehr als Mensch, mit dem man streitet, sondern als Teufel, als Dämon.
"Frieden stiften" heisst daher in erster Linie, das Bewusstsein von Menschen zu verändern, Millionen von Menschen auf beiden Seiten. Der Feind muss zuerst ent-teufelt, ent-dämonisiert werden. Er muss wieder Mensch werden. Mit einem Menschen kann man sich schlagen, aber auch wieder vertragen. Einen Menschen kann man verstehen, auch wenn er entgegengesetzte Meinungen oder Interessen hat. Aber mit Teufeln, Untermenschen, Ungeziefer macht man keinen Frieden. Man vernichtet sie.
Politiker, Diplomaten können ihre Aufgabe erst dann erfüllen, wenn die Menschen auf beiden Seiten ihre Grundeinstellung verändert haben. Das ist die Aufgabe der Friedensstifter auf beiden Seiten.
Ich maße mir nicht an, Türken und Kurden einen Rat zu erteilen. Ich nehme an, dass sie mit guten Ratschlägen versorgt sind. Ich kann ihnen höchstens etwas aus meiner eigenen Erfahrung vermitteln. Und auch das tue ich mit vielen Vorbehalten. Nicht alles, was irgendwo in einer Situation richtig ist, stimmt auch in einer anderen oder anderswo.
Ich bin nicht als Friedensstifter geboren. Ganz im Gegenteil. Als Kind musste ich mit meinen Eltern aus Nazi-Deutschland fliehen. Meine Familie hat dort viele Generationen lang gelebt. So habe ich erlebt, wie ein verrückter Rassenwahn, ein entgleister Nationalismus, ein irrationeller Hass, das Leben von Hunderttausenden über Nacht verändert hat. Meine Antwort war Hass. Als dann später deutsche Städte in Schutt und Asche bombardiert wurden, war ich froh.
Als 15-jähriger Junge bin ich Terrorist geworden. So jedenfalls bezeichnete uns die englische Kolonialregierung im damaligen Palästina, gegen die wir kämpften. Die Organisation, der ich beigetreten war, legte Bomben, schoss und steckte in Brand. Bei mir zu Hause war ein Waffenlager. Darauf stand Todesstrafe. Wir betrachteten uns als Freiheitskämpfer. Später trat ich aus, weil mir diese Methoden zuwider wurden. Aber seitdem kenne ich nur einen Unterschied zwischen Terroristen und Freiheitskämpfern: Freiheitskämpfer sind auf meiner Seite, Terroristen auf der anderen Seite.
Dann, 1948, als ich schon 24 Jahre alt war, wurde ich Kommandosoldat im ersten israelisch-arabischen Krieg. Ich habe viel gesehen. Ich war Augenzeuge der grausamen ethnischen Säuberung, die von beiden Seiten praktiziert wurde. Als ich, beinah am Ende des Krieges, schwer verwundet wurde und im Krankenhaus rings um mich herum junge Menschen mit dem Tode rangen, beschloss ich, den Rest des mir geschenkten Lebens dem Frieden zu widmen.
Das führte mich dazu, den Feind zu suchen und zu versuchen, ihn zu verstehen. Ich will hier nicht die Entstehungsgeschichte des israelisch-palästinensischen Konfliktes erzählen, sie ist einzigartig und hat dazu geführt, dass heute zwei Völker im selben Lande leben, in einem Kriegszustand, der schon 120 Jahre andauert, in den schon eine fünfte Generation hineingeboren ist. Zwei Völker, die sich gegenseitig nicht anerkennen, die selbst die nationale Existenz der anderen Seite leugnen. Israelis waren überzeugt, dass es kein palästinensisches Volk gibt, unsere ehemalige Ministerpräsidentin, Golda Meir, hat das auch verkündet. Wenn es aber kein palästinensisches Volk gibt, dann gehört das ganze Land uns. Und Palästinenser sind dann nichts weiter als Terroristen, gewöhnliche Verbrecher, die man ein für allemal niederschlagen muss.
Wie kann man so eine Einstellung, die jeder Israeli von Kindheit an verinnerlicht, im Elternhaus, in der Schule, in der Armee, praktisch überall, verändern? Meine Antwort war immer: Dialog. Dialog ist der Weg. Es gibt keinen anderen.
Dialog ist keine Gefühlsduselei. Es ist eine politische und psychologische Handlung.
Ein Dialog zwischen "Feinden" hat mehrere simultane Ziele. Er soll dazu führen, dass jede Seite den anderen versteht, seine geistige Welt, seine Gefühle, seine Interessen, um zu erforschen, was für ein Kompromiss möglich ist. Aber der öffentliche Dialog soll auch dazu führen, dass Millionen von Menschen auf beiden Seiten - mit Hilfe der Massenmedien - sehen, dass man miteinander sprechen kann, dass menschlicher Umgang mit der anderen Seite möglich ist, kurz, dass der teuflische Feind ein menschlicher Feind ist, ein feindlicher Mensch, mit dem man sich versöhnen kann.
Ein Beispiel: vor 17 Jahren galt Jassir Arafat bei allen Israelis als Erzterrorist, ein arabischer Hitler, dessen einziges Ziel es war, alle Israelis ins Meer zu werfen. Um ihn zu vernichten, fiel die israelische Armee in den Libanon ein. Mitten im Krieg überquerte ich die Front und traf mich öffentlich mit Arafat. Das hatte man noch nie gesehen. Sogar das Israelische Fernsehen war gezwungen, noch am selben Abend den Bericht über diese erstmalige Begegnung, die von einem deutschen Team gefilmt worden war, zu senden. Natürlich taten das auch die arabischen Fernsehstationen.
Israelis sahen, wie sich der Terroristenführer mit einem israelischen Parlamentarier freundschaftlich unterhält. Plötzlich sah man ihn mit anderen Augen. Palästinenser sahen, wie ein Mitglied des israelischen Parlaments mitten im Krieg ihren verehrten Führer umarmt. Also sind nicht alle Israelis Räuber und Mörder, die die Palästinenser in die Wüste treiben wollen. Grundeinstellungen begannen ins Wanken zu geraten, neue Vorstellungen begannen sich zu bilden.
Ich glaube, dass es heute die Pflicht friedensliebender Türken und Kurden ist, sich zu treffen und mit einem Dialog zu beginnen. Vielleicht zuerst im Ausland, dann zu Hause. Millionen von Türken und Kurden müssen sehen, dass auch die anderen vernünftige, menschliche Wesen sind, dass ein Dialog möglich ist. Die ersten brauchen dazu Mut, aber langsam wird man sich daran gewöhnen.
Türken müssen sich damit abfinden, dass es ein kurdisches Volk gibt, das ein Recht auf Identität, Menschenrechte und Freiheit hat. Kurden müssen sich damit abfinden, dass dieser Teil ihres Volkes im türkischen Staat als nationale Minderheit mit vollen Rechten leben wird, und dass ein großes, selbständiges Kurdistan heute nicht möglich ist. Öcalan muss befreit werden. Der türkische Staat muss eine neue, moderne Form annehmen, einen modernen Nationalismus, der multikulturelle Einflüsse aufnehmen kann.
Kemal Atatürk war eine der großen Figuren des 20. Jahrhunderts. Ich selbst habe ihn als junger Mensch verehrt. Aber wir sind dabei, ein neues Jahrhundert zu erleben, und auch in der Türkei werden sich, am Ende, neue Ideen durchsetzen.
Man muss nicht gegen die Türkei sein, wenn man den Kurden helfen will. Man muss nicht gegen die Kurden sein, wenn man den Türken helfen will. Man kann für beide sein, ja man muss für beide sein, wenn man ihnen helfen will.

Uri Avnery
Tel-Aviv, 7. November 1999