Einleitung
Seit einem Jahr, genauer
gesagt seit September 1998 finden im türkisch-kurdischen Verhältnis
und im seit 15 Jahren andauernden Krieg gewaltige Veränderungen statt.
Wie während des bewaffneten Kampfes, so prägt der Vorsitzende
der Arbeiterpartei Kurdistan PKK, Abdullah Öcalan, auch seit seiner
Geiselnahme mit seinen Äußerungen, Erklärungen und Vorschlägen
die Tagesordnung der Türkei und die Politik im Lande. Mit seiner
Verteidigungsrede auf Imrali zu einer friedlichen Lösung der Kurdenfrage
und einer auf Gleichheit basierenden "Demokratischen Republik"
und zuletzt mit der Ankündigung des Rückzugs der bewaffneten
Kräfte der PKK aus den Staatsgrenzen der Türkei hat er die Diskussion
über eine Demokratisierung des Landes eingeleitet und somit seine
Gegner auf der türkischen Seite entwaffnet.
Seit Juli 1999 haben die Diskussionen um eine neue und demokratische Verfassung,
um eine "demokratische Republik" und eine friedliche Lösung
der Kurdenfrage zugenommen. Einer der höchsten Richter der Republik,
Dr. Sami Selcuk, vertiefte sie. In seiner Eröffnungsrede zum Gerichtsjahr
1999-2000 sagte der Erste Vorsitzende des Kassationsgerichtshofes am 6.
September 1999: "Die Türkei kann, sie darf ins neue Jahrhundert
nicht mit einer Verfassung gehen, deren Legitimität beinahe gegen
Null geht. (...) Der Verfassung fehlt die formelle Legitimität, und
sie ist ungültig. (...) Die Türkei ist kein 'verfassungsmäßiger
Staat', sondern nur ein 'Staat mit einer Verfassung'."
Eine Woche später kam die Antwort aus der kurdischen Region. Am 14.
September 1999 wurde in Diyarbakir der Presse und der Öffentlichkeit
eine "Deklaration zu Demokratie und Frieden" vorgestellt. Die
7 Punkte umfassende Deklaration wurde von VertreterInnen von 223 Nichtregierungsorganisationen,
Berufsverbänden und politischen Parteien, von Menschenrechtsgruppen
bis Arbeitgeberverbänden, von Gewerkschaften bis Handelskammern,
einem repräsentativen Spektrum der Gesellschaft in den 19 Provinzen
der kurdischen Gebiete, unterzeichnet: "Wir, die Unterzeichner der
Deklaration, Vertreter von demokratischen Nichtregierungsorgani-sationen,
Berufsverbänden und politischen Parteien der Region, verteidigen
die gerechte, friedliche und demokratische Lösung unserer gesellschaftlichen
Probleme. Wir fordern, dass die Waffen schweigen, dass kein geschwisterliches
Blut von Kurden und Türken mehr fließt und dass die gemeinsamen
Leiden gelindert werden. Wir erklären der Öffentlichkeit, dass
wir jede friedliche, gewaltfreie Initiative, die zur Lösung unserer
gesellschaftlichen Probleme ergriffen wird, unterstützen."
Und an diesen Diskussionen beteiligten sich mit einem Appell auch 60 namhafte
Schriftsteller, Künstler und Nobelpreisträger aus aller Welt,
darunter Günter Grass, Nadine Gordimer, Elie Wiesel, Jose Saramago,
Costa-Gavras, Ingmar Bergman, Arthur Miller und Harold Pinter, die hierin
die politische Lösung der Kurdenfrage forderten: "Mit Gewalt
ist weder die Türkisierung der Kurden zu realisieren noch wird sie
den Kurden zu ihren Rechten verhelfen. Die Türkei muss nun mit einem
für die gesamte Welt und das neue Jahrhundert beispielhaften Schritt
die kurdische Frage lösen, indem sie ihre kurdischen Staatsbürger
in ihren eigenen Rechten wahrnimmt." Diese neue Initiative der Intellektuellen
wurde der Öffentlichkeit am 11. Oktober 1999 auf einer Pressekonferenz
in Istanbul von Yasar Kemal, Ahmet Altan, Orhan Pamuk, Zülfü
Livaneli und Mehmed Uzun vorgestellt.
Mit den einseitigen Schritten der PKK wurde die Spirale der Gewalt angehalten
und insgesamt eine mildere Atmosphäre geschaffen, die von vielen
Seiten begrüßt wird.
Gerade jetzt brauchen die nach Frieden und Gleichheit schreienden Kurden
und die Demokratie und Menschenrechte verlangenden Türken eine große
Unterstützung aus dem Ausland. Freunde der kurdischen und der türkischen
Völker sind aufgefordert, sich jetzt einzusetzen.
Auf den folgenden Seiten werden wir uns auf eine Reise durch die jüngste
Vergangenheit begeben und versuchen, ein Dossier über die Geschehnisse
des Jahres 2000-1 (Zweitausendminuseins) zusammenzustellen.
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