PRESSEMITTEILUNG NR.2
(08.03.99)
Redaktionen Kurdistan/Türkei/NaherOsten
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· „Nicht erklärterAusnahmezustand„ auch in den türkischen
Metropolen
· Weiterer Höhepunkt der staatlichen Angriffe: Der Journalist
und Gewerkschafter Süleyman Yeter wurde in Istanbul zu Tode gefoltert
Von der Menschenrechtsdelegation aus Deutschland, die sich derzeit in der Türkei aufhält und in den kommenden Tagen verschiedene Städte Kurdistans besuchen wird, erreichte uns ein erster Bericht zur Situation in Istanbul, den wir hier wiedergeben:
„Seit der Entführung Abdullah Öcalans in die Türkei hat
sich die Lage extrem zugespitzt; die HADEP in Istanbul spricht von einem
„nichterklärten Ausnahmezustand„. Die Polizei hat Schießbefehl,
offiziell wird sie dazu angehalten, „auf die Beine„ zu zielen. In den letzten
drei Wochen gab es laut IHD (Insan Haklari Dernegi - türkischer Menschenrechtsverein)
mindestens 2000 Verhaftungen in Diyarbakir und 1500 in Istanbul, wobei
diese Zahlen sicherlich sehr tief gegriffen sind. Unbestätigte Schätzungen
gehen von 10.000 Verhaftungen türkeiweit aus; die Zahl der Verhaftungen
steigt ständig, als Anlaß reicht ein kurdischer Geburtsort im
Ausweis. Laut IHD-Bericht vom Februar wurden in der gesamten Türkei
20 Radio- und TV-Sender sowie vier Zeitungen vorrübergehend geschlossen
und eine Partei (DKP) verboten. Ein Verbotsverfahren gegen die Demokratische
Volkspartei HADEP läuft noch, am heutigen Tag soll vor dem Verfassungsgericht
zunächst über den Antrag entschieden werden, die Partei von den
Wahlen auszuschließen. Insgesamt gab es in Istanbul 63 Razzien gegen
Vereine, Parteien und Kulturzentren; allein dabei gab es 417 Verhaftungen.
Unter den Festgenommennen waren unter anderem die Hauptdarsteller des Films
„Günese yolculuk„, der auf der diesjährigen Berlinale große
Beachtung fand.
Zur Lage der HADEP erklärte uns der stellvertretende Provinzvorsitzende
in Istanbul, Veli Haydar Gülec, daß es allein gegen das Parteibüro
in Istanbul in den letzten zwei Monaten vier Razzien gab, andere Büros
sogar bis zu zehnmal überfallen wurden. Einige sind vollständig
geschlossen. Der HADEP-Vorsitzende, der Generalsekretär, große
Teile des Parteirats und viele Wahl-Kandidaten sind in Haft. „Wir machen
unseren Wahlkampf derzeit bei der Anti-Terror-Polizei„, erklärte Gülec.
Auch wenn die Partei nicht verboten werden sollte, seien durch die
Behinderungen und Angriffe keine demokratischen Bedingungen und kein gerechter
Wettbewerb mit anderen Parteien gegeben. Das befürchtete Teilnahmeverbot
entbehre jeder juristischen Grundlage. Der Staatsanwalt argumentiert mit
dem, was die Partei in Zukunft machen könnte, z.B. Propaganda für
die PKK auf MedTV. Bei einer Nichtteilnahme werde die HADEP die Wahl nicht
als legitim anerkennen.
Die Angst des Staates vor der HADEP ist darin begründet, daß
sie insbesondere bei den Bürgermeisterwahlen, die zeitgleich mit den
Parlamentswahlen stattfinden, große Erfolge erzielen könnte.
In den Ausnahmezustandsgebieten rechnet man mit einer Zustimmung von mindestens
60% selbst in den „schwächsten„ Gebieten der HADEP. Die öffentliche
Diskussion über die kurdische Problematik ist derzeit überhaupt
nicht mehr möglich. Laut Gülec möchte sich niemand „das
brennende Hemd anziehen.„ Auch der Unternehmerverband TÜSIAD, der
noch im vergangenen Jahr mehr Rechte für die kurdische Bevölkerung
forderte, schweigt jetzt zu diesem Thema.
Am Vortag des Internationalen Frauentags am 8. März gab es in
Istanbul drei Versuche, öffentlich Presseerklärungen zu verlesen.
Eine Veranstaltung wurde durch die Polizei vollständig verhindert,
bei zwei weiteren gab es Polizeiangriffe, bei denen es wiederum sehr viele
Verhaftungen gab, darunter drei Mitarbeiterinnen des Mesopotamischen
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Kulturzentrums und hunderte HADEP-Mitglieder; eine tausendköpfige Menschenmenge wurde auseinandergetrieben. Istanbul, 8.3.99„
Am gestrigen Sonntag erreichten die staatliche Übergriffe einen weiteren Höhepunkt. Bereits am Freitag wurden sämtliche Mitarbeiter der Zeitung Dayanisma festgenommen. Alle Festgenommenen wurden zur berüchtigten „Anti-Terror-Abteilung„ des Istanbuler Polizepräsidiums gebracht, wo einer von ihnen, der Gewerkschafter Süleyman Yeter, am Sonntag zu Tode gefoltert wurde. Verschiedene Menschenrechtsorganisationen gaben heute eine Pressekonferenz,. Die anwesenden Organisationen berichteten über die bekanntgewordenen Umstände der Ermordung und äußerten große Besorgnis über das weitere Schicksal der 42 Personen, die noch immer in der „Anti-Terror-Abteilung„ gefangengehalten werden. Auch die Anwälte der Familie Süleyman Yeters gaben eine Erklärung ab, die wir nachfolgend dokumentieren:
An die Presse und die Öffentlichkeit
Am 5.3. 1999 wurde Süleyman Yeter, zuständig für die
zentrale Ausbildung bei der Gewerschaft Limter-Is, zusammen mit allen Mitarbeitern
von Dayanisma Gazetesi (Zeitung „Solidarität„), festgenommen. In der
Anti-Terror-Abteilung des Polizeipräsidiums Istanbul ist er am 7.3.99
während des Verhörs ums Leben gekommen.
Heute, am 8.3., haben wir als Anwälte der Familie, die beauftragt
wurden, den Fall zu untersuchen und an der Autopsie teilzunehmen, bei der
Staatsanwaltschaft in Istanbul-Fatih und bei der Gerichtsmedizin folgendes
festgestellt.
1. Der am Tag des Vorfalls zuständige Staatsanwalt in Istanbul-Fatih,
Fevzi Gümüshan, erklärte uns, daß am Morgen dieses
Tages um 7.30 Uhr der Vorfall passiert sei und ihm dies um 8.30 Uhr mitgeteilt
wurde. Er habe sich daraufhin zur Antiterror-Abteilung begeben, um die
Polizisten zu verhören.
Auf unsere Frage, ob die anderen in Polizeihaft befindlichen Personen
befragt wurden, antwortete dieser: „Wieso sollte ich mich an die
wenden? Was die Polizei getan hat, hat sie nicht vor deren Augen getan.
Wenn es nötig sein sollte, kann das Gericht ihre Aussagen später
einholen.„
Nach den Aussagen des Staatsanwalts von Fatih waren nach seinen ersten
Erkentnissen am Körper des ermordeten Süleyman Yeter keine offensichtlichen
Folterspuren zu erkennen.
2. Nach Befragung der Staatsanwaltsschaft haben wir uns zur Gerichtsmedizin begeben. Bei der unter Aufsicht des zuständigen Staatsanwalts Irfan Özleyen stattgefundenen Autopsie wurde folgendes festgestellt:
a) auf beiden Seiten der Stirn zwei etwa 1 cm große rotumrandete
Wunden.
b) eine etwa 1,5 cm große rotumrandete Wunde am Kinn, die noch
nicht verheilt war
c) die gesamte vordere Seite des Halses ist geschwollen und stark gerötet.
d) auf der rechten Bauchseite in der Nähe der Nieren eine faustgroße
rote Stelle
e) unterhalb dieser Stelle ein 4-5 cm langer Bluterguß unter
der Haut
f) am rechten Unterarm eine etwa 2cm große und am rechten Ellenbogen
eine 1 cm große gerötete Wunde
g) um die rechten Wade eine runde Hautabschürfung und mehrere
Wunden
h) am Rücken zwei etwa 10 cm große Wunden
Aufgrund dieser eindeutigen äußeren Spuren läßt sich feststellen, daß Süleyman Yeter bei den Anti-Teror-Einheiten gefoltert wurde. Er hatte vor seiner Festnahme keinerlei gesundheitlichen Probleme. Wenn wir die häufigen Fälle von Folter und unsere Beobachtungen in Betracht ziehen, müssen wir davon ausgehen, daß er in Polzeigewahrsam durch Folter ermordet wurde.
Rechtsanwältin Gülseren Yoleri
Rechtsanwalt Keles Öztürk
Rechtsanwalt Tahsin Aycik
Rechtsanwalt Metin Kozan
Rechtsanwalt Metin Narin
Für Hintergrundgespräche und Vermittlung von Telefoninterviews mit der Delegation stehen wir Ihnen gerne zur Verfügung. Es besteht außerdem die Möglichkeit für Medienvertreter, sich an den Delegationsreisen zu beteiligen.
Newroz-Delegationsbüro, 08.03.1999