Kurdistan
Informations-Zentrum
Vorwort zur
Verteidigungsrede von Abdullah Öcalan
Die
seit Jahrhunderten bestehende kurdische Frage ist auch am Anfang des 21.
Jahrhunderts noch immer ungelöst auf der politischen Tagesordnung.
Die Kurden sind das größte und älteste Volk der Welt,
dem sein Recht auf Selbstbestimmung vorenthalten wird.
Nach dem ersten Weltkrieg teilten die Siegermächte im Abkommen von
Lausanne das Siedlungsgebiet der Kurden im ehemaligen Osmanischen Reich
unter die neu entstandenen Staaten Türkei, Irak, Iran und Syrien
auf. Seitdem ist das kurdische Volk vor allem in dem durch die Türkische
Republik annektierten Teil Kurdistans brutaler Unterdrückung ausgesetzt:
Massaker, Deportationen und systematisch betriebene Zwangsassimilation,
gegen die es sich allein zwischen 1925 und 1938 in 16 Aufständen
zur Wehr setzte.
Die kurdische Sprache und Kultur sind durch die Türkische Republik
verboten. Jede Forderung der Kurden, dass universal gültige Menschenrechte
auch für sie als Kurden zu gelten haben, wird mit dem Vorwurf des
Separatismus belegt und unterdrückt. Die Existenz der Kurden ist
durch Staat, Verfassung und Gesetze nicht anerkannt.
Diese unverändert unmenschlichen Lebensbedingungen der Kurden führten
1984 zur Aufnahme des bewaffneten Widerstandes durch die Arbeiterpartei
Kurdistans (PKK) unter der Führung von Abdullah Öcalan. Der
türkische Staat bezeichnet diesen Widerstand offiziell als den 29.
Aufstand in der Geschichte der Türkei. Die PKK führt den
längsten organisierten Widerstand gegen den türkischen Staat
und verfügt im Gegensatz zu bisherigen kurdischen Parteien über
ein modernes Wertesystem. Während des Kampfes behauptete sie sich
15 Jahre lang militärisch gegen die Türkei, die innerhalb der
NATO die zweitgrößte Armee besitzt; sie belebte das kurdische
Bewusstsein, entwickelte es weiter und brachte die kurdische Frage auf
die internationale Tagesordnung.
Diese Entwicklung steht in engem Zusammenhang mit der Aufnahme des bewaffneten
Kampfes. Die Entstehungsbedingungen der PKK verdeutlichen dies: Nach dem
letzten niedergeschlagenen kurdischen Aufstand 1938 in Dersim sollte das
kurdische Bewusstsein endgültig ausgelöscht werden. Der türkische
Staat betrieb eine systematische, wirkungsvolle Assimilationspolitik,
um mit diesem Türkisierungsprozess die Grundlage weiterer Aufstände
zu beseitigen. In den 70er Jahren bekannte sich kaum ein Kurde zu seiner
Identität und Herkunft: die kurdische Identität war beinahe
ausradiert.
Der Vorsitzende der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), Abdullah Öcalan,
analysiert auch in seiner folgenden Verteidigungsschrift die dieser Politik
zugrunde liegende Absicht des türkischen Staates gegenüber den
Kurden als eine der totalen Verleugnung und Vernichtung. Abdullah Öcalan
stellt in seiner Verteidigungsschrift ausführlich die Entstehungsbedingungen
und Entwicklungen der Türkischen Republik sowie der PKK dar.
In dem Zeitraum von 1961 bis 1980 putschte das Militär dreimal; außer
dem bewaffneten Kampf war in dieser Situation kein anderes Mittel wirkungsvoll.
Der letzte Militärputsch vom 12. September 1980 hat in den kurdischen
Regionen und in der Türkei mit systematischer Repression ein gesellschaftliches
Klima der Angst erzeugt und jede Art alternativer politischer Äußerungen,
Opposition und Organisation unterdrückt. Mit dem bewaffneten Kampf
wirkte die PKK den Vernichtungsabsichten des türkischen Staates entgegen
und durchbrach sie. Ebenso arbeitete die PKK daran, einen politischen
Prozess der Lösung einzuleiten. Ab 1993 verkündete die PKK neben
unzähligen anderen Friedensinitiativen drei einseitige Waffenstillstände.
Die ersten beiden mussten beendet werden, da sie vom türkischen Staat
jedes Mal mit Vernichtung beantwortet wurden. Der letzte Waffenstillstand
vom 01. September 1998 wurde von der Türkei ebenfalls nicht zum Anlass
genommen, Wege für eine Lösung zu suchen: Während die PKK
eine Lösung auf politischer Ebene vorbereitete, wurde gegen Abdullah
Öcalan, die PKK und somit gegen das kurdische Volk ein Komplott internationaler
Dimension entwickelt. Schon 1996 wurde in Syrien ein Bombenattentat auf
Abdullah Öcalan verübt, das fehlschlug. Als am 1. September
1998 Abdullah Öcalan zum dritten Mal einen einseitigen Waffenstillstand
erklärte, wurde dieses Komplott fortgesetzt. Es wurde sowohl von
der Türkei als auch den USA und Israel der Druck auf Syrien, die
Anwesenheit Abdullah Öcalans nicht länger zuzulassen, soweit
erhöht, dass der Beginn eines Krieges drohte. Um einen Krieg mit
verheerenden Folgen für die Region und weltweit zu verhindern, verließ
Abdullah Öcalan am 9. Oktober 1998 Syrien. Er wählte nicht die
Möglichkeit, in die Berge Kurdistans zu gehen. Er entschied sich,
nach Europa zu gehen, da er konsequent seine neue Friedensoffensive fortsetzen
wollte. Am 12. November 1998 reiste er in Rom ein.
Konkrete Schritte auf diplomatischer Ebene zu erreichen, war sein Ziel.
Europa, das sich als Verfechter von Demokratie und Menschenrechten ausgibt,
sollte jenseits von Lippenbekenntnissen in die Pflicht genommen werden.
Aber die Kurden mussten die bittere Erfahrung machen, dass die gepriesenen
Werte Europas für das kurdische Volk keine Gültigkeit haben.
Die europäischen Staaten, allen voran Deutschland, pflegen seit Jahrzehnten
vielfältige Beziehungen zur Türkei und unterstützen diese
politisch, wirtschaftlich und militärisch, da strategische Interessen
des Westens vor das Lebensinteresse der Kurden gestellt werden. An einer
Lösung der kurdischen Frage waren europäische Staaten daher
nicht ernsthaft interessiert, auch nicht zu dem Zeitpunkt, an dem Abdullah
Öcalan mit seinem Friedenspaket in Europa eintraf, um den Prozess
einer Lösung zu beschleunigen. Auch dieser Möglichkeit wurde
keine Chance gegeben.
Die Verbündeten der Türkei, die USA, Europa und Israel, waren
sich einig, Abdullah Öcalans Asylgesuch nicht stattzugeben. Dies
eröffnete den Weg für die Geheimdienst-Operation, die zu seiner
Verschleppung aus Nairobi, Kenia, in die Türkei führte. Mit
der Auslieferung Abdullah Öcalans an die Türkei sollte die Geschichte
der kurdischen Aufstände wiederholt werden. Denn alle Aufstände
wurden durch die Gefangennahme und Hinrichtung der Führung niedergeschlagen
und beendet. Aber diese Berechnungen gingen nicht auf, da sich die Geschichte
entwickelt und daher nicht wiederholen lässt.
Auf die Entwicklung der Ereignisse seit dem 09. Oktober 98 reagierten
die Kurden in allen vier Teilen Kurdistans und in den Ländern der
Migration mit massenhaften Protestaktionen: Demonstrationen, Besetzungen,
öffentlichen Hungerstreiks und annähernd 70 Selbstverbrennungen.
Diese Einigkeit des kurdischen Volkes ist im Vergleich mit der Situation
vorheriger Aufstände einmalig und von neuer Qualität: Im Denken
der Kurden ist ein nationales Bewusstsein entstanden.
Es ist abzusehen, dass eine etwaige Hinrichtung Abdullah Öcalans
durch die Türkei für die Türkei, die Region und auch weltweit
schwerwiegende Konsequenzen nach sich zieht. Sowohl Krieg als auch Frieden
hängen vom Leben Abdullah Öcalans ab. Abdullah Öcalan selbst
ist sich dieser möglichen Entwicklungen bewusst und hält in
großer Verantwortlichkeit an seiner Friedensoffensive fest.
In der Türkei gibt es Interessensgruppen, die die Fortführung
des Krieges wollen, obwohl der seit 15 Jahren dauernde Krieg nicht nur
der kurdischen, sondern auch der türkischen Bevölkerung schwere
Verluste gebracht hat und obwohl zu sehen ist, dass es im klassischen
Sinn weder einen Gewinner noch einen Verlierer dieses Konfliktes geben
wird. Die Türkei hat in der Region eine wichtige strategische Rolle
und verfügt über ein großes Entwicklungspotential, das
sie jedoch auf Grund der von ihr praktizierten Politik nicht nutzen kann.
Der Staat wird von Gruppen beeinflusst und kontrolliert, die ausschließlich
ihre Eigeninteressen verfolgen. Susurluk hat gezeigt, dass Staat und Mafia
verstrickt sind und die Regierung ihrem eigentlichen Auftrag gemäß
handlungsunfähig ist. Nur eine Beendigung des Krieges wird eine Veränderung
dieser Verhältnisse möglich machen; denen, die vom Krieg profitieren,
wird ihre Grundlage entzogen werden. Genau aus diesem Grund stellen diese
sich gegen eine friedliche Lösung. Mit ihrem Triumph über die
Verhaftung Abdullah Öcalans heizten sie den Chauvinismus in der Türkei
an mit dem Ziel, eine Ethnisierung des Konfliktes zu betreiben und zwischen
den Völkern unumkehrbar Feindschaft zu schüren. Heute sind sie
es, die die Hinrichtung Abdullah Öcalans lautstark fordern. Die ungewisse,
politische Entwicklung seit der Verschleppung Abdullah Öcalans haben
die Befürworter des Krieges unter Führung der MHP für sich
zu nutzen gewusst; ihren Einfluss üben sie ihren eigenen Interessen
gemäß auf die Zukunft der Türkei und der Kurden aus.
Am ersten Tag des Prozesses gegen ihn legte Abdullah Öcalan dar,
dass dieser Prozess keine rechtliche Grundlage habe, er jedoch die Verhandlung
als Plattform nutzen wolle, um seine Analyse der politischen Situation
vorzustellen und Auswege aus der Kriegssituation aufzuzeigen: er stellte
sein Lösungspaket vor, das ein gleichberechtigtes und friedliches
Zusammenleben des kurdischen und türkischen Volkes im Rahmen einer
demokratischen Republik vorsieht. Dies war eine Ermutigung und Unterstützung
derjenigen im türkischen Staat und der Gesellschaft, die für
ein Ende des Krieges eintreten. Seitdem wurden breite Diskussionen geführt
über bis dato tabuisierte Themen: die Legitimität der Rechtsprechung
in der Türkei wurde in Frage gestellt, die Zusammensetzung der Gerichte
wurde kritisiert, die Staatideologie des Kemalismus zur Diskussion gestellt.
Immer mehr Menschen befürworteten eine friedliche Lösung der
kurdischen Frage und sprachen sich gegen eine etwaige Hinrichtung Abdullah
Öcalans aus. Auch auf türkischer Seite wurden notwendige Reformen
und konkrete Schritte zur Entspannung der Kriegssituation ausgearbeitet,
die jedoch zur Lösung der Probleme der kurdischen und türkischen
Gesellschaft nicht ausreichen. Diese ersten Schritte sind trotzdem nicht
zu unterschätzen; sie sind der Beginn einer langen und schwierigen
Entwicklung, die Gefahren in sich birgt.
Zum Zeitpunkt der Fertigstellung dieser Veröffentlichung beharren
die Befürworter des Krieges auf der Hinrichtung Abdullah Öcalans.
Er sagt dazu: Ich entwickle den Friedensprozess im Schatten des
Galgens.
Der von Abdullah Öcalan initiierte Schritt der PKK enthält große
Möglichkeiten für eine wirkliche Veränderung hin zu Frieden
und Demokratie. Die Aufgabe jedes demokratischen Menschen ist, diesem
Prozess zum Erfolg zu verhelfen.
Wir als Kurdistan-Informationszentrum (KIZ) setzen uns seit unserer Gründung
für eine politische Lösung der kurdischen Frage ein. Die nachfolgend
dokumentierte Verteidigungsschrift Abdullah Öcalans stellt einen
wichtigen Beitrag dazu dar.
Kurdistan
Informations-Zentrum, August 2000
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