Prof. Norman
Paech
Zur Verteidigungsrede
von Abdullah Öcalan
Am
15. Februar 1999 wurde Abdullah Öcalan auf dem Weg von der Residenz
des griechischen Botschafters in Nairobi (Kenia) zum Flughafen entführt
und in dem Flugzeug eines türkischen Geschäftsmannes gefesselt
in die Türkei gebracht. Ein Gangsterstück, welches eine wochenlange
Odyssee zwischen Damaskus, Moskau, Amsterdam, Rom und Athen beendete -
der kriminelle Schlusspunkt unter einem wenig überzeugenden Kapitel
europäischer Rechtskultur. Kein Staat wollte einem Mann Asyl gewähren,
der darum nachsuchte und wie kein anderer politischer Flüchtling
einen Anspruch auf eine Zuflucht gehabt hätte. Aber keine Regierung
wollte seine Botschaft hören und sich ernsthaft auf die kurdische
Frage einlassen, als ginge sie die Tragödie des kurdischen Volkes
an der Peripherie Europas nichts an. Sie wollten ihm nicht einmal die
Möglichkeit der Verteidigung seiner Sache vor einem Internationalen
Tribunal geben. Aus Angst, dass dann der ganze Umfang einer Jahrzehnte
langen Unterdrückungs- und Vernichtungsmaschinerie ihres NATO-Verbündeten
der Weltöffentlichkeit präsentiert und in die Verhandlung eingebracht
worden wäre, lieferten sie ihn der türkischen Gerichtsbarkeit
aus. Dabei war ihnen nicht unbekannt, dass der Europäische Gerichtshof
für Menschenrechte diese Gerichtsbarkeit bereits in zahlreichen Fällen
gravierende Mängel an Rechtsstaatlichkeit bescheinigt und wegen Verstoßes
gegen die europäischen Standards abgelehnt hatte.
Es ist unwesentlich, in welchem Umfang der Druck seitens der USA zur Verleugnung
der eigenen Rechts- und Asyltradition geführt hat. Sie hatte bereits
gemeinsam mit der Türkei Syrien zur Ausweisung Öcalans gedrängt.
Übersehen wir dabei aber nicht, dass vor allem die deutsche Regierung
sich dadurch erneut eines politischen Problems entledigen wollte, vor
dem sie nicht nur Jahre lang die Augen verschlossen hatte, sondern bei
dem sie mit politischer und militärischer Unterstützung zu der
verzweifelten Eskalation eines Befreiungskampfes mit über 30 000
Toten, über 3 Mio. Vertriebenen, verheerenden Verwüstungen und
Zerstörung des Lebensraums in Kurdistan, schweren Menschenrechtsverletzungen
und Kriegsverbrechen beigetragen hat. Auch diese Menschenrechtsverletzungen
sind in den bislang achtzehn Urteilen des Europäischen Gerichtshofs
für Menschenrechte gegen die Türkei festgestellt worden und
zahllose weitere Prozesse sind anhängig.
Die Entführung war ein Gemeinschaftswerk der Geheimdienste der Türkei,
der USA und Israels, soviel ist heute sicher. Gleichgültig, ob die
Regierung Kenias über das Kidnapping informiert und ihm stillschweigend
zugestimmt hat, nach den Strafnormen aller beteiligten Staaten ist es
eine Freiheitsberaubung gewesen und damit strafbar. Da die Behörden
Kenias aber nach allem was wir mittlerweile wissen, nicht zugestimmt haben,
stellt dieser Piratenakt auch eine schwere Verletzung der territorialen
Integrität und Souveränität Kenias dar und ist dementsprechend
völkerrechtswidrig. Das allein schon begründet schwere Bedenken
gegen eine Aburteilung des Entführten durch die Entführer. In
den letzten dreißig Jahren hat sich in der Völkerrechtslehre
zunehmend der Grundsatz durchgesetzt, dass aus einer Rechtsverletzung
nie ein neuer Rechtstitel erwachsen kann: ex iniuria ius non oritur.
Dieser Grundsatz ist in vielen Rechtsordnungen verankert. Nehmen wir die
zahlreichen Absonderlichkeiten und Rechtsverletzungen vor und während
des Prozesses von Imrali hinzu, so wird das zwangsläufige Todesurteil
vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, wo es jetzt
überprüft wird, keinen Bestand haben können.
Doch Rechtskultur hin und politisches Gangstertum her, die Entführung
und der Prozess haben auch die politischen Koordinaten der Kurdenfrage
verändert. Zweifellos kam Öcalan bereits mit der Intention eines
grundsätzlichen Wechsels in der Strategie des Kampfes um die kurdische
Identität und Selbstbestimmung nach Europa. Für die Öffentlichkeit
formuliert hat er sie aber erst während des Prozesses. Es war weniger
eine Rechtfertigung der Vergangenheit und schon gar nicht eine Verteidigung
der ihm zur Last gelegten Taten. Es war viel mehr ein breitgefächerter
Blick in die Zukunft, der Versuch eines programmatischen Anstoßes
zu einem Dialog mit der türkischen Gesellschaft und Regierung, der
bis jetzt so hartnäckig von dieser verwehrt wird.
Die hier ins Deutsche übertragene Verteidigungsrede von Abdullah
Öcalan ist als erneutes Angebot zur Eröffnung eines politischen
Dialogs über das Zusammenleben des türkischen und des kurdischen
Volkes in einem gemeinsamen Staat zu verstehen - auf der Basis sehr weitgehender
strategischer Entscheidungen. Diese reichen zurück bis in das Jahr
1995, als die PKK definitiv auf das Projekt eines eigenen Staates verzichtete
und die Zukunft des kurdischen Volkes innerhalb der Grenzen der Türkei
definierte. Die türkische Regierung ist nie auf diesen fundamentalen
Wandel in der kurdischen Politik eingegangen, sondern verfolgt bis auf
den heutigen Tag Journalisten und Politiker, die sich der kurdischen Frage
widmen, mit dem Vorwurf des Separatismus und Inhaftierung. Ebenso wenig
hat das türkische Militär die drei Waffenstillstandsangebote
der PKK von 1993, 1995 und 1998 angenommen, da es eine Lösung der
Kurdenfrage nur auf der Basis eines militärischen Sieges und der
bedingungslosen Kapitulation der kurdischen Guerilla suchte. Selbst die
jüngste Entscheidung der PKK, auf weitere militärische Aktionen
definitiv zu verzichten und die Guerilla aus ihren Kampfgebieten zurückzuziehen,
führt bisher auf der türkischen Seite noch nicht zu einer entsprechenden
Deeskalation. Immer wieder kommt es zu militärischen Aktionen der
türkischen Seite, die es der kurdischen Guerilla offensichtlich nicht
erlauben, vollkommen abzurüsten und zu demilitarisieren, um nicht
auf einen Verteidigungsschutz zu verzichten. Dennoch ist der Gewaltverzicht
glaubwürdig und der Rückzug der Guerilla weit fortgeschritten.
Die Verteidigungsrede lässt keinen Zweifel daran, dass der Gewaltverzicht
endgültig und definitiv ist. Wenn sie das Drehbuch der neuen Weltordnung
auch ablehnt, welches von den USA und der von ihr dominierten NATO diktiert
wird, kann sie es doch nicht ignorieren. Wer das neue Strategiedokument
studiert, welches im April 1999 zum 50jährigen Jubiläum der
NATO in Washington verabschiedet worden ist, weiß, dass ein Kampf
nach dem Vorbild der kolonialen Befreiungskämpfe gegen ein Mitglied
dieses Herrschaftsbündnisses nicht mehr erfolgreich sein kann. Was
die eritreische Befreiungsfront in einem dreißigjährigen blutigen
Befreiungskampf gegen Äthiopien noch erreichen konnte, ist gegen
einen NATO-Staat nicht möglich. Der Zerfall Jugoslawiens in mehrere
souveräne Einzelstaaten fand die Unterstützung der NATO, und
er ist unter ihrem Schutz noch nicht abgeschlossen. Gegen ihren Willen
wäre er nicht erfolgt. Denn die Erosion von Staaten enthält
immer ein unkalkulierbares Moment der Destabilisierung, welches die NATO
laut Strategie vom April 1999 notfalls mit militärischer Intervention
überall dort, wo die Interessen ihrer Staaten berührt werden,
verhindern wird. Und solch ein sensibles Interessenfeld stellt der Südosten
der Türkei dar. Die NATO hat lange genug gezeigt, dass sie den Zerfall
der Menschenrechte, die Unterdrückung eines Volkes und die Vernichtung
seiner Identität bereit ist hinzunehmen, wenn die Stabilität
ihres strategischen Koordinatensystems in der Region gesichert bleibt.
Das kurdische Volk und die PKK mussten einsehen, dass in einer unipolaren
Weltordnung ohne das klassische Gleichgewicht konkurrierender Weltmächte
und ohne das Funktionieren eines kollektiven Sicherheitssystems wie die
UNO der isolierte Kampf eines einzelnen, durch mehrere Staatsgrenzen geteilten
und in sich nicht einigen Volkes militärisch keine Chance hat. Dieser
Satz darf allerdings nicht vergessen machen, dass es der bewaffnete Kampf
war, der das kurdische Volk vor der Auslöschung seiner Identität
bewahrte. Ohne diesen Kampf hätte sich das kurdische Bewusstsein
nie zu einer Identität stiftenden Kraft entwickelt und wäre
die kurdische Frage wohl kaum auf die internationale Tagesordnung gesetzt
worden. Und die türkische Seite? Der Krieg hat sie keinen Schritt
näher an die Lösung der kurdischen Frage herangebracht aber
immer mehr in den Sumpf des Staatsterrors, der Korruption und Folter hinuntergezogen.
Der Krieg hat nicht nur ihr Land sondern auch ihr politisches System verwüstet.
Der
grundsätzliche Wechsel der Befreiungsstrategie von der militärischen
Bekämpfung des kemalistischen Systems von außen zu einem Kampf
um seine Demokratisierung mit ausschließlich politischen Mitteln
von innen ist daher die logische Folgerung aus dem Scheitern des Krieges.
Und es ist die zentrale Botschaft dieser Verteidigungsrede. Sie lautet,
dass das Ziel der Anerkennung der Identität des kurdischen Volkes,
seines Selbstbestimmungsrechts mit allen seinen kulturellen, politischen
und ökonomischen Folgerungen für eine menschenwürdige Existenz
innerhalb eines gemeinsamen Staatsverbandes nicht aufgegeben wird, dass
der Weg zu ihm aber nur über die durchgreifende Demokratisierung
aller Institutionen der türkischen Gesellschaft führt. Und diese
Botschaft sollte den Regierungen der NATO- und EU-Staaten nicht allzu
fremd klingen. Es werden keine Rezepte oder Modelle der Demokratisierung
gegeben, sei es der Föderalisierung, der Autonomie oder anderer Formen
kooperativer Selbstverwaltung. Die Rede ist ein Bekenntnis zur Integration
und ein Angebot zu gemeinsamen Bemühungen um Demokratie. Es werden
die zentralen Unzulänglichkeiten des politischen Systems benannt,
die unheilvolle Dominanz des militärischen Apparats, das grob gestrickte
Netz politischer Korruption, die Abwesenheit einer rechtsstaatlichen Tradition
und die Schwächen eines zu einer antidemokratischen Staatsideologie
erstarrten Kemalismus. Die Perspektive geht allerdings über die türkischen
Grenzen hinaus und erfasst ebenso die kurdische Existenz im Iran, Irak
und Syrien.
Das kurdische Volk muss aus dem tödlichen Zirkel herauskommen, in
den es durch staatliche Unterdrückung, Verachtung und Vernichtung
und immer wieder aufflammende Aufstände mit den Nachbarvölkern
eingepfercht ist. Da diese Völker derzeit keinen Ausweg finden, muss
das kurdische Volk selber den Teufelskreis durchbrechen. Die äußere
Lage des Autors und zum Tode Verurteilten erscheint schmachvoll und das
Odium der Niederlage kaum günstig für ein erfolgreiches Angebot
zu einem gemeinsamen Aufbruch gleichberechtigter Partner. Aber politische
und militärische Niederlagen sind nicht immer historische Niederlagen,
die die Lösung des Konfliktes nur auf der Leiche des anderen ermöglichen.
Öcalan weist in seiner Rede darauf hin, dass er den Wechsel seiner
Politik seit dem Waffenstillstandsangebot von 1993 im Auge hatte. Das
ist lange Zeit wohl verkannt worden. Die veränderte Strategie ist
kein Produkt von Verhaftung und Prozess, beide waren aber entscheidende
Katalysatoren ihrer Formulierung. Was in der Öffentlichkeit gern
als persönliche Niederlage eines gescheiterten Guerilla-Führers
interpretiert wird, entpuppt sich nun als zwar schmerzliche aber politisch
gewinnbringende Etappe auf dem Weg der politischen Lösung - wahrscheinlich
gegen die Absicht der Entführer, aber letztlich doch zu ihrem Nutzen.
Schauen wir zu den Nachbarn: All die militärischen und politischen
Niederlagen der PLO haben Israel nicht davor bewahrt, schließlich
mit ihr am gleichen Tisch verhandeln zu müssen.
Die Dialektik der Geschichte wird nicht durch militärische Siege
vorangetrieben, sondern durch die politische Klugheit und kämpferische
Zähigkeit dessen, der sein historisch unanfechtbares Anliegen auch
zum Zeitpunkt der vermeintlichen Aussichtslosigkeit nicht aus den Augen
verliert. Und zumindest in der Türkei gibt es deutliche Anzeichen
dafür, dass die Botschaft aus dem Gefängnis einen intensiven
Prozess der Reflexion über die Zukunft der Demokratie in der eigenen
Gesellschaft freigesetzt hat.
Die Verteidigungsrede ist ein Dokument dieser Reflexion. Sie richtet sich
nicht nur an das türkische, persische oder arabische Volk und seine
Regierungen, sondern auch an das eigene in viele Fraktionen zersplitterte
Volk - nicht zuletzt aber auch an uns Deutsche und unsere Regierung, die
die PKK immer noch als kriminelle Organisation stigmatisiert und verfolgt.
Die Politik der militärischen und politischen Unterstützung
des türkischen Krieges hat zweifellos keinen Beitrag zur Demokratisierung
in der Türkei geleistet - ebenso wenig wie der Guerillakampf. Dieser
ist nun beendet, ein neuer Vorschlag liegt auf dem Tisch. Er ist es wert,
genau studiert zu werden.
Norman
Paech, Juli 2000
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