Sehr geehrter Präsident, sehr geehrte Richter,

seit der Zeit des Prozesses auf Imrali 1999 findet in der Türkei eine intensive Diskussion über Demokratie und die Frage statt, wie eine ihr angemessene Verfassung beschaffen sein müsse. Ich bin der Überzeugung, dass beide Fragen eng miteinander verbunden sind. Die Unfähigkeit der Republik zur organischen Entwicklung in demokratischer Hinsicht und zur Ausgestaltung einer entsprechenden Verfassung und Rechtsordnung führte zu diesem letzten kurdischen Aufstand, als dessen Anführer mir der Prozess gemacht wird. Da sich ein Großteil der Geschichte der 75-jährigen Republik auf immer ähnliche Art und Weise wiederholte, zeigt sich nunmehr deutlich, dass Aufstände, Niederwerfung und Vernichtung keine Mittel zur Problemlösung sind, sondern in Ausweglosigkeit führen. Die mit dem Prozess sich stetig vertiefende Diskussion um eine demokratische Verfassung sucht nach einer wirklichen Klärung und Lösung, welche unumgänglich ist. Wie groß der Schmerz und die Verluste auch sein mögen, der Geist der demokratischen Zivilisation erfasst dieses Zeitalter nicht und mehr noch, dieser wurde dem Volk auf demagogische Art und Weise in Form einer unechten Demokratie aufgedrängt. Daher entsprach es meiner Erwartung, dass sich endlich durch eine objektive Diskussion aller Entwicklungen, allen voran der auf die kurdische Identität zurückzuführenden Aufstände, die das Rechtssystem an seine Grenzen brachten, und durch die Beachtung der Rechtsordnung eines Verfassungsstaates und deren praktischer Umsetzung, auch wenn dies mit innerem Widerstreben erfolgt, zumindest der Glaube an die grundlegende Philosophie eines universalen und demokratischen Rechts zeigen und sich dies, wenn auch in Grenzen, auf meinen Prozess auswirken würde. Dies ist die Voraussetzung für eine unabhängige Gerichtsbarkeit.
Sowohl die Anklageschriften der Staatsanwaltschaft als auch das Urteil des Gerichts sind Ausdruck der klassischen Haltung zu dieser Frage. So sehr hiermit die Verbundenheit zu den Gesetzen der Republik demonstriert wurde und dies auch die Aufgabe dieser Stellen war, so hätten in diesem Verfahren, das so sehr die Grenzen des formalen Rechts sprengt und an sich verfahrenssoziologisch im Rahmen eines Kriegsrechts behandelt hätte werden müssen, sowohl die Grundlagen dieses Verfahrens als auch universale Rechtsgrundsätze zur Sprache gebracht werden müssen, welche in ähnlichen Konfliktlagen zur Anwendung kamen, selbst wenn die Vorfälle ungesetzlich waren. Oder zumindest hätten hieraus resultierende Entscheidungen, auch wenn sie sich nicht direkt auf diesen Prozess ausgewirkt hätten, herangezogen werden müssen. Dies hätte zur Klärung eines zukunftsorientierten Lösungsweges beigetragen.
Es hätte sowohl auf die Auswirkungen von derartig viel Schmerz und Blut, von materiellem und ideellem Verlust auf die Ethik und Grundpolitik der Republik als auch auf deren Auswirkungen positiver wie negativer Art auf einen Demokratisierungsprozess hingewiesen werden müssen. Die Chance, auch in rechtlicher Hinsicht aus derartig großen Ereignissen Lehren zu ziehen, wird vertan, wenn man sich mit einem Abdruck der Ereignisse begnügt und wenn versucht wird, dieser Ereignisse durch die Anwendung klassischer Strafvorschriften Herr zu werden. Wenn dieses Rechtssystem nicht in der Lage war, ein derartig umfassendes Ereignis, d.h. einen Aufstand, der über Jahre anhielt und die gesamte Gesellschaft, ja sogar die ganze Welt erschütterte, zu verhindern, so muss auch dessen Verantwortung hierfür erkannt und, falls notwendig, der Mut zu einer Selbstkritik aufgebracht werden. Dies hätte zu einem Überdenken des formalen Rechts und zu der Erkenntnis geführt, dass eine neue Rechtsordnung unumgänglich ist, und zur Gestaltung eines lösungsorientierten Rechts beitragen können. Die Geschichte vieler Länder ist voller Beispiele dieser Art.
Ich habe versucht, meine Verteidigung auf dieser Grundlage zu entwickeln. Ich habe große Sorgfalt darauf verwandt, sowohl an die Ideologie und das Programm aus der Entstehungsphase der Organisation, in deren Namen ich gehandelt habe, als auch an ihre entwickelte Aktionsstruktur objektiv und kritisch heranzugehen.
Obwohl ich die in der Organisation in den letzten Jahren stattgefundenen Transformationen, die Notwendigkeit der Beendigung einer von mir nunmehr für sinnlos gehaltenen Gewalt angelehnt an politikwissenschaftliche Kriterien und das Bemühen um eine Umwandlung nach demokratischen Grundsätzen einschließlich entsprechender Belege dargelegt habe, wurde all dies nicht berücksichtigt. Ich habe unmissverständlich aufgezeigt, dass Methoden außerhalb eines demokratischen Systems, welches ich als einzige Garantie dafür ansehe, dass dieser letzte der kurdischen Aufstände, die sowohl in den letzten fast zwei Jahrhunderten schon Tradition hatten als auch ideologisch vom Realsozialismus nicht wenig beeinflusst waren, auch wirklich der letzte sein wird, keine Wirksamkeit entfalten und lediglich negative Folgen haben.
Ich habe die historische Notwendigkeit und den Sinn einer praktischen Umsetzung der Grundwerte einer demokratischen Zivilisation, die an der Schwelle zum Jahr 2000 ihren universalen Sieg auf historischer Grundlage bewiesen haben, zur Lösung aller fundamentalen Probleme wie die der Überzeugung, Meinung, kulturellen Identität und sogar diejenigen Probleme sozioökonomischer und politischer Art auch in der Türkischen Republik versucht darzulegen.
Ich habe meine Verteidigung unter dem Titel “Manifest einer demokratischen Lösung” als Beitrag zur Lösung der kurdischen Frage und als Teil einer allgemeinen Lösung in Buchform veröffentlichen lassen.
Ich denke, dass vor dem Kassationsgerichtshof meine Verteidigung und die dazugehörigen Dokumente tiefgehender analysiert werden. Obwohl auch meine Verteidigerinnen und Verteidiger selber an der Verhandlung teilnehmen und unter Einbeziehung der letzten Entwicklungen eine Verteidigung vortragen werden, empfinde ich es als eine historische Notwendigkeit, meine Überlegungen zu einer demokratischen verfassungsrechtlichen Lösung darzulegen, da ich der Überzeugung bin, dass durch dieses Verfahren auf Imrali ein Beitrag zu den Diskussionen um eine Demokratische Republik und deren Verfassung geleistet wird. Dies empfinde ich unter Berücksichtigung der Wichtigkeit meines Prozesses in Anbetracht der Ansprachen des Präsidenten des Verfassungsgerichts und des Präsidenten des Kassationsgerichtshofs zu Beginn des neuen Gerichtsjahres zum Thema Demokratisierung der Republik und ihrer Rechtsordnung nicht nur als meine Verantwortung, sondern als meine Pflicht.
Ich bin nach wie vor der Überzeugung, dass die von mir im Prozess erwähnten Dienste für eine Demokratische Republik auf der Basis von Frieden und Völkerverständigung und die daraus resultierenden Aufgaben, die jedem Menschen zufallen, für mich selber noch viel schwerwiegender sind, und ich bemühe mich diesbezüglich, alles Notwendige zu tun.
Meine Verteidigung vor dem Kassationsgerichtshof wird meine Verteidigungsschrift aus der ersten Instanz zur Grundlage haben.
Darüber hinaus werde ich Dokumente der unternommenen Schritte hinsichtlich der jetzigen Phase sowohl zur Beendigung des bewaffneten Kampfes als auch zur legalen demokratischen Transformation der Organisation PKK einreichen. Meine Verteidigerinnen und Verteidiger sind eher in der Lage, zu diesen Punkten eine umfassende rechtliche Argumentation anzuführen.
Ich bin mir der Pflicht bewusst, zu einer Klärung sowohl der mit dem Gerichtsurteil einhergehenden breiten Diskussion in der Öffentlichkeit als auch der Frage beizutragen, welche Auswirkungen dieses Verfahren auf die Demokratische Republik und deren verfassungsrechtliche Verankerung haben sollte. Meine Überzeugung, dass mir bei der Umsetzung der durch die Ansprachen des Präsidenten des Verfassungsgerichts und des Präsidenten des Kassationsgerichtshofs jedem einzelnen Menschen auferlegten Aufgaben die größte Verantwortung zukommt, ist gestärkt worden.
Schon jetzt habe ich zum Teil eingelöst, was ich vor Gericht als meinen Dienst für eine Demokratische Republik auf der Basis von Frieden und Völkerverständigung bezeichnet habe, und ich möchte noch einmal meine Überzeugung und Entschlossenheit bekräftigen, dass ich in der vor uns liegenden Periode diesen Weg vollständig realisieren werde.
Die Verletzung internationalen Rechts spielt in meinem Prozess eine große Rolle. Bei meiner Übergabe an die Türkei haben viele europäische Länder, allen voran Griechenland, selbst ihr nationales Recht missachtet und unter Voranstellung eigener staatlicher Interessen und solcher der Regierungen, die im Einzelnen noch aufgedeckt werden müssen, Methoden des Komplotts zu ihrer Handlungsgrundlage gemacht. Dies habe ich in einem Brief, den ich in einer der Hauptverhandlungen auf Imrali dem Gerichtspräsidium übergeben habe, als eine den heutigen Verhältnissen entsprechend aktualisierte Version der während des kurdischen Aufstands von 1925 von England praktizierten Politik bewertet.* Aus diesem Grund habe ich mein Bemühen dargelegt, diese Politik ins Leere laufen zu lassen, indem ich seit 1993 einen Dialog mit der Türkei anstrebte, da es nötig war, das Problem weg von den Methoden der Gewalt auf eine politische Ebene zu heben.
Meine Einstellung zu dem Prozess ist aufs Engste mit dieser existenziellen Realität verbunden. Meiner Überzeugung nach besteht keine einzige rechtliche Vorschrift unabhängig von den grundlegenden politischen Realitäten eines Landes. Das Gericht hat sich mit dieser Angelegenheit nicht in der ihm angemessenen Art auseinandergesetzt. Ich bin nach wie vor der Meinung, dass bei meiner rechtswidrigen Übergabe an die Türkei nicht die freundschaftlichen Beziehungen zur Türkei und ihre Interessen eine Rolle spielten, sondern die Absicht, den Konflikt in eine Sackgasse zu führen und die Türkei in ein noch größeres Abhängigkeitsverhältnis zu diesen Ländern zu bringen. Es ist wichtig, dass aus den Fehlern der bisherigen Verhandlungen Lehren gezogen werden und der Prozess auf der Grundlage des Einsatzes für einen freien Zusammenschluss des Landes und für eine Demokratische Republik stattfindet.
Die Anwendung des Paragrafen 125 des Türkischen Strafgesetzbuches in meinem Prozess halte ich für zu eng und technisch. Sowohl der wohl größte Aufstand der Republik als auch seine grundlegenden historischen, sozialen und politischen Gründe kommen so nicht zur Sprache. Ich bin der Überzeugung, dass ein Blick auf den Umgang und die Lösung ähnlicher Konflikte und Ereignisse, die in etlichen, heutzutage modernen Ländern in ihrer Geschichte aufgetreten sind, von existenzieller Wichtigkeit ist. Ein Vergleich mit derartigen historischen Beispielen würde eine objektive Annäherung eher ermöglichen als ein Prozess, der sich auf enge, formalrechtliche Aspekte beschränkt.
Quelle meiner grundlegenden Bedenken war, dass die in der Geschichte der Republik aufgetretenen Ereignisse dieser umfänglichen Qualität dazu nötigen, endlich in wissenschaftlicher Art aufgegriffen zu werden, und dass eine rein formalrechtliche Einstellung zu keiner Lösung, sondern sogar weiter in die Sackgasse führen würde.
Das von mir hiergegen gesetzte Herangehen war das einzig richtige und besteht darin, diesen Aufstand wirklich als das letzte umfassende Ereignis dieser Art und dieses Jahrhunderts in die Geschichte eingehen zu lassen, indem wir alle Lehren hieraus ziehen und uns im neuen Jahrhundert an der Übereinstimmung freier Individuen und einer freien Gesellschaft, an einer demokratischen Lösung, beruhend auf Konsens, und an der demokratischen Entwicklung der Republik orientieren.
Der wichtigste Punkt, der aus einem Aufstand resultiert, der das klassische Recht der Republik so an seine Grenzen brachte, konnte kein anderer sein als ein neuer verfassungsrechtlicher Ausdruck einer Demokratischen Republik.



*Während der Gründungsphase der Republik begann England wegen der Erdölvorkommen in den Gebieten Mosul-Kirkuk den Kurdenaufstand unter Führung von Scheich Sait 1925 als politischen Spielball zu benutzen und die Republik durch an Sultanat und Kalifat angelehnte Aufstände in Gefahr zu bringen.