Die
Rechte freier Individuen und einer freien Gesellschaft können nur
durch eine derartige demokratische Verfassung entstehen.
Meine
moralische und politische Legitimation bei der Verurteilung des alten
formalen Rechts besteht in der Entwicklung dieses demokratischen Rechts,
so utopisch es auch sein mag.
Ich bin überzeugt davon, dass sowohl die individuelle als auch die
gesellschaftliche Problemlösung und Befreiung hierin angelegt sind.
Aber meine Haltung ist nicht sonderlich ernst genommen worden. Ich gehe
davon aus, dass sich das Recht auf die konkrete, materielle Realität
stützt. Es existieren eine Reihe von Ereignissen und Tatsachen, die
noch nicht beendet sind und sich in einem Zustand fortgesetzter Bewegung
befinden - immer noch. Selbst diese Realität belegt die Ineffizienz
des bestehenden Rechts sehr klar. Es findet eine Diskussion um Menschenrechte
und Demokratie statt, die mit keiner vorangegangenen Periode in der Geschichte
der Republik vergleichbar ist. Von den bekanntesten Juristen wird nicht
nur das Verhältnis zwischen Demokratie und der bestehenden Verfassung
diskutiert, sondern sogar, inwiefern die aktuelle Verfassung selber einem
Rechtsstaat im Wege steht.
Eine der Hauptaussagen meiner Verteidigungsschriften besteht darin, dass
die Kurden, die eine Realität sind, als fundamentaler Bestandteil
bei der Gründung der Republik eine Rolle gespielt haben, ungeachtet
dessen, dass sogar ihre Existenz als Kurden im Unabhängigkeitskrieg
und bei der Gründung der Republik immer geleugnet wird. Es ist nicht
weiter schwierig, meine Behauptung auch in den Erklärungen und Direktiven
des Gründers der Republik, Atatürk, bestätigt zu finden.
Die Anwesenheit der Repräsentanten der Kurden in der ersten Großen
Nationalversammlung der Türkei belegt diese Tatsache ebenfalls. Als
aber in dieser Zeit, während der sich die Republik noch in ihrer
Gründungsphase befand, England aufgrund der Erdölvorkommen in
den Gebieten Mosul-Kirkuk begann, die Kurden als politischen Spielball
zu benutzen und die Republik durch an Sultanat und Kalifat angelehnte
Aufstände in Gefahr geriet, wurde alle Aufmerksamkeit auf die innere
Sicherheit der Republik konzentriert. Die völlige Niederschlagung
dieser Aufstände geschah nicht wegen deren demokratischer Ausrichtung,
sondern wegen ihrer Gegnerschaft zur Republik und aufgrund der Befürchtung,
sie würden die Republik als solche in Gefahr bringen. Auch gegen
die Aufstände der Kurden, die eine ethnische und religiöse Basis
hatten, wurde aus diesem Grund vorgegangen. Das Ziel war der Schutz der
Republik.
Das hierbei zur Anwendung gelangte Ausmaß von Gewalt ist diskussionswürdig.
Auch die nach der Niederschlagung der Aufstände eingenommene Haltung
ist zu kritisieren. Aber die Aufstände in der Phase der Republikgründung
und die doppelte Rolle, welche die Kurden spielten, muss mit Nachdruck
vor Augen geführt werden. Es war einer der größten Fehler
und ein Desaster, unter dem Vorwand möglicher Aufstände ein
extremistisches Nationalverständnis auf die gesamte Geschichte der
folgenden Republik auszudehnen. Es ist eine Tragödie, dass die durchgeführten
Maßnahmen bis hin zu einem Sprachverbot für die bei der Gründung
der Republik fundamental mitwirkenden Menschen führte, welches in
der Geschichte seinesgleichen sucht.
Ich glaube nicht, dass eines der fundamentalen Ziele des Gründers
der Republik, Atatürk, hierin bestand. Bei der Gründung war
der Fortbestand der Republik eine der Hauptsorgen. Jeder Betrachtungsweise
eines Problems lag diese Sorge zugrunde, und das ist auch verständlich.
Atatürk unternahm zwei Versuche einer Demokratisierung, und dass
er bei diesen Versuchen erfolglos blieb, kann nicht nur mit seiner autoritären
Art erklärt werden. Der Grad sozialer Entwicklung und inkompetente
Kader spielten bei der Erfolglosigkeit eine objektive Rolle. Es kommt
hinzu, dass die Möglichkeiten, welche die Republik der Wissenschaft
einräumte, Keimzellen zur Herausbildung freier Individuen waren.
Dies stellt eine der wichtigsten Entwicklungen im Unterbau der Demokratie
dar. Es ist offensichtlich, dass Atatürk in der Zivilisation den
angemessenen Ausdruck seines Ziels einer modernen Zivilgesellschaft erblickte.
Deren Verwirklichung war die Aufgabe, die den nachfolgenden Generationen
der Republik vermacht worden war. Dies ist die fundamentale Aufgabe, die
nicht eingelöst wurde. Hierfür zeichnen diejenigen verantwortlich,
die die Republik zu einer degenerierten Oligarchie machten.
Ich habe meine Verteidigungsschrift im Kern an diese Analyse der Republik
angelehnt. Bei der Entstehung der Bewegung PKK spielte die Transformation
der Republik in eine degenerierte Oligarchie eine entscheidende Rolle.
In dieser Zeit führte allein die Verwendung des Begriffes Kurde entweder
zu Haft oder auf den Weg in die Berge. Diese Realität ist nicht nur
auf die Abwesenheit von Demokratie zurückzuführen, sie stellt
eine Situation des Schrecken einjagenden Verleugnens ihrer Existenz dar.
Aus diesem Grund führte jeder Schritt, der im Namen der Organisation
auf Grundlage ihrer Programmatik oder ihrer Handlungsformen durchgeführt
wurde, zu einer noch stärkeren Radikalität. So, wie die extreme
Polarisierung und eine Situation von Gewalt in der Türkei der 70er-Jahre
sowie auch die weltweite Polarisierung während des Kalten Krieges
jeden Menschen und jede Organisation beeinflusste, so liegt es auf der
Hand, dass auch ich und die Organisation, die ich vertrete, hiervon beeinflusst
wurden. Mangelndes historisches und politisches Bewusstsein in der Zeit
der Entstehung der Bewegung und auch Analysen, die voller Fehler waren,
führten dazu, dass fast jede Organisation der damaligen Zeit zu einer
Art modernen religiösen Sekte wurde. Es ist eine schmerzhafte Realität
für alle, dass die Republik nicht nur Begriffen wie Demokratie und
Recht nicht entsprach, sondern selbst ein allgemeines Staatsverständnis
nicht erzielen konnte. Angeblich fand ein Kampf der Ideologien statt.
Aber im Nachhinein betrachtet, stellt es eine schmerzhafte Realität
dar, dass in vieler Hinsicht ein Kampf von Unwissenheit und Arroganz stattfand.
Hierfür können nicht nur Individuen und Organisationsmitglieder
verantwortlich gemacht werden: Es ist offensichtlich, dass die Verantwortung
für diese Situation die gesamte damalige Zeit und, was die Türkei
betrifft, vor allem die strikt an ihren eigenen Interessen orientierte
Oligarchie trägt. Es ist hier nicht meine Absicht, Schuldige zu suchen.
Ich will die jüngste Geschichte und die Entstehungsbedingungen der
Organisation objektiv darlegen.
Wie offiziell und konkret das Recht auch sein mag, es existiert nicht
unabhängig von dieser Realität. Ich bin überzeugt, dass
das Recht zumindest bei der Urteilsfindung einen gewissen Grad an Objektivität
zu berücksichtigen in der Lage ist.
Wenn man alle grundlegenden Besonderheiten dieser Zeit betrachtet, bezweifle
ich nicht, dass die programmatischen Ziele der PKK selbst in Zeiten sezessionistischer
Propaganda nie dem Wesen der Republik entgegengesetzt waren, die angestrebte
Einheit jedoch nur in einer Demokratischen Republik verwirklicht werden
kann und das Grundziel eben immer dieses gewesen ist. Gegenüber der
Anklageschrift der Staatsanwaltschaft habe ich betont, dass meine Verteidigung
einer solchen Republik sowohl wissenschaftlich begründet ist als
auch den Kern meiner Ziele bildet. Ich bin davon überzeugt, dass
meine Verteidigungsschriften dies zu Genüge bewiesen haben. Es ist
offensichtlich, dass wir eine ähnliche Realität wie alle Bewegungen
durchlebten, die in den 70er-Jahren in Form von Klassenkämpfen und
bzw. oder auf ethnisch-nationaler oder religiöser Basis für
Freiheit und Gleichheit weltweit vermehrt in Erscheinung traten.
Es wäre unverständlich, wenn die totale Leugnung einer kulturellen
Identität, die noch einschneidender ist als Einschränkungen
auf den Gebieten der Meinungs- und Glaubensfreiheit und Verbote, zu keinerlei
Reaktionen geführt hätte.
Aus diesem Grund führt meine Analyse dazu, dass, wie groß die
Schmerzen auch sein mögen, welche die PKK, deren Vorsitzender ich
war, und die die Organisationsmitglieder selber erlebten oder die durch
sie resultierten, die Entstehung der PKK legitim und aus dem Blickwinkel
der Moral und einer Demokratischen Republik zwangsläufig und eine
wissenschaftliche Notwendigkeit war, auch wenn es sich um ein radikales
Erheben gegen die offizielle gesetzliche Ordnung handelte. Dies ist auch
eine wichtige Schlussfolgerung in meiner Verteidigungsschrift. Und damit
führe ich, wie es scheint, eine der schwerwiegendsten Handlungsformen
gegen das formale Recht an. Eine derartig extreme Identitätsleugnung
lässt jedoch keinen Raum für andere Ausdrucksformen.
Ich glaubte an die Legitimität von Widerstand, um unserer Achtung
vor der Persönlichkeit des Menschen gerecht zu werden und in Würde
zu bestehen, auch wenn wir hiermit isoliert wären. Ich war immer
voller Besorgnis, dass ich auf andere Art meine Menschlichkeit nicht bewahren
könnte. Nach den Anklageschriften der Staatsanwaltschaft soll diese
Seite unbeachtet bleiben.
Aber in Zukunft, wenn es eine Demokratische Republik und eine demokratische
Verfassung geben wird, wird auch die wichtige Rolle dieses legitimen Widerstands
anerkannt werden.
Niemand hat die Fehler der PKK so klar erkannt und versucht, hiergegen
vorzugehen, wie ich. Aber es muss auch berücksichtigt werden, dass
die PKK sich auf der Suche nach einer fundamental freien Kultur und Identität
befand. Die an das formale Recht angelehnte Art der Anschuldigungen insgesamt
unterscheiden sich in keiner Weise von den traditionell dogmatischen Beschuldigungen
durch eine Religion.
Ein weiterer grundlegender Fehler, der in den Anklageschriften festzustellen
ist, betrifft die Analyse der Aktionsstruktur. Es kommt mir, als jemandem,
der dieses Geschehen am intensivsten erlebte, nicht sehr realistisch vor,
die Aktivitäten während dieses Aufstands, der von Umfang und
Dauer her als Krieg niederer Intensität analysiert wird, völlig
einförmig zu bewerten und in ihrer Gesamtheit, auch als Resultat
der in der Öffentlichkeit geschaffenen Reaktionen, mir anzulasten.
Innerhalb der Organisation habe ich fast jeden Tag einen internen Kampf
geführt. Ich habe übernatürliche Anstrengungen unternommen,
um den Kampf auf einer Ebene legitimer Verteidigung zu halten. Diejenigen,
die sich mit der inneren Struktur der PKK etwas beschäftigen, werden
meine Position gegen Personen und Aktionsverständnisse, die sich
ausserhalb einer legitimen Verteidigungslinie bewegten, klar erkennen.
Im Gegensatz zur Aktionsdichte und den Verlusten, die an vielen Orten
wie z.B. Algerien, Palästina, Bosnien, Kosovo u.ä. Ländern
erlebt wurden, blieben derartige Folgen bei unseren Aktivitäten auf
ein Minimum beschränkt und hieran wird meine Funktion und Rolle als
Individuum noch deutlicher. Dieser Umstand ist nicht deswegen von Bedeutung,
weil er mich vor einer strafrechtlichen Verurteilung schützen könnte,
sondern da es meines Erachtens auch aus dem Blickwinkel des Rechts unerlässlich
ist, die Fakten so zu sehen, wie sie sind. Wenn es im Ergebnis zu einer
richtigen Lösung kommen sollte, so wird dies insbesondere Folge dieses
Charakteristikums der Rechtsstruktur sein.
Ein weiterer wichtiger Schwerpunkt meiner Verteidigungsschrift bestand
in der Erklärung, dass die PKK und damit die kurdische Frage in einer
sich gegen Ende des Jahrhunderts verändernden Welt und unter den
Bedingungen der Türkei mit wichtigen Umwälzungen konfrontiert
war und ich habe versucht, die sich hieraus ergebenden Entwicklungen zu
erläutern. Auch dieser Umstand ist weder in der Anklageschrift noch
im Urteil ausreichend berücksichtigt worden. Ein rechtlicher Zusammenhang
der Entwicklungen wurde nicht hergestellt. Ich finde es notwendig, diesen
Punkt aufgrund der Wichtigkeit, den er für die Zukunft hat, klarzustellen.
Der Zusammenbruch des sowjetischen Systems in den 90er-Jahren führte
hinsichtlich der Folgen zu ähnlichen Effekten und Erschütterungen
wie die Zeit nach dem II. Weltkrieg. Die Unfähigkeit des sozialistischen
Systems, eine demokratische Entwicklung zu vollziehen, und die gleichzeitige
Fähigkeit des Kapitalismus, eigene autoritäre faschistische
Regime zu überwinden und die Demokratie auszudehnen, stellen die
Hauptursachen des Zusammenbruchs dar und führten zur Entwicklung
demokratischer Systeme weltweit. Hierbei spielten zweifelsohne wissenschaftlich-technische
Entwicklungen eine bestimmende Rolle. So, wie mit dem Zusammenbruch die
aus der Zeit des Kalten Krieges stammende Polarisierung an Bedeutung verlor,
begann auch das Gewaltverständnis der an diese Polarisierung angelehnten
Trennung von Rechts und Links sinnlos zu werden. Die in den Vordergrund
tretenden und an Wichtigkeit gewinnenden Grundwerte konzentrierten sich
auf Menschenrechte, Demokratisierung, Eintreten für kulturelle Identität
und ähnliche Leitthemen. Auch die Methoden der Kämpfe waren
immer weniger solche der Gewalt als solche des Friedens. Die Klassen-
und Nationalkämpfe bzw. -kriege der letzten ein bis zwei Jahrhunderte
verloren an Gewicht und Bedeutung und an ihren Platz trat die Erlangung
von Menschenrechten, Demokratisierung und hiermit kultureller Freiheiten
im Innern: Werte, die im Wesentlichen die Legitimation der auf Frieden
basierenden Grenzen dieses Jahrhunderts ausmachen.
Es herrscht ein generelles Einverständnis darüber, dass die
Entwicklungen in diese Richtung gehen.
In der Praxis nicht weniger Länder wurden wichtige Entwicklungen
durchlebt, die dies bestätigen. So, wie die Erschütterungen
der auf dieser Basis stattfindenden Transformationen aktuell in der Welt
anhalten, so haben diejenigen Länder, Organisationen und Individuen
die größten Entfaltungsmöglichkeiten, die derartige Entwicklungen
auf umfassendste Art in ihren Strukturen realisieren. Es ist auszumachen,
dass auch die Türkei der 90er-Jahre sowohl von ihren eigenen historischen,
gesellschaftlichen, ökonomischen und kulturell-politischen Gegebenheiten
als auch von der aktuellen Weltlage und insbesondere von den im Nahen
Osten stattfindenden Entwicklungen dieser Art aufs Heftigste beeinflusst
wird.
Die Gründung einer Republik auf den Ruinen des Imperiums eröffnete
aufgrund der inneren und äusseren Bedingungen der Zeit Atatürks
keine Möglichkeit zu einer demokratischen Evolution als Lösungsmethode
für die existierenden Probleme.
Unausweichlich kam es zu einer autoritären Phase. Die Bedingungen
des II. Weltkriegs und die Sicherheitsbedenken führten zu einer noch
stärkeren Fixierung nach innen. Aufgrund des Sieges der Demokratie
über den Faschismus in der damaligen Zeit und bedingt durch den Einfluss
der äusseren Ereignisse wurden zwar Anstrengungen unternommen, durch
eine Demokratisierung von oben zur Problemlösung beizutragen, dies
spiegelte sich jedoch in der staatlichen und gesellschaftlichen Struktur
und im Rechtsgefüge nur ungenügend wider. Die Entwicklungen
nahmen einen eher oligarchischen Charakter an. Die in dieser Richtung
stattfindenden oligarchischen Entwicklungen ignorierten die Philosophie
der Republikgründung und das Kräftegleichgewicht völlig
und gingen mit dem Militärputsch vom 27. Mai 1960 in eine neue Phase
über. Dieser Prozess wurde durch die Putsche vom 12. März 1971
und 12. September 1980 noch verstärkt fortgesetzt. Er hatte eine
stetig zunehmende ökonomische und gesellschaftliche Krise zur Folge.
Obwohl es zur Ausarbeitung neuer Verfassungen kam, führte diese Entwicklung
zu einer immer stärker klaffenden Distanz zwischen dem Staat und
dem ihm innewohnenden Recht und ebnete so willkürlichen Regimen den
Weg. Die Gesellschaft wurde nicht dem Recht bzw. den Grundnormen einer
Demokratie entsprechend regiert, sondern hinsichtlich der Vorteile und
Regeln derjenigen, die Macht und Stärke auf ihrer Seite hatten. Die
Republik entfernte sich zunehmend von ihrem anfänglichen Kräftegleichgewicht
und ihrer anfänglichen Struktur. Die Degeneration innerhalb des Regimes
nahm mit jedem Tag zu. Es fanden Entwicklungen statt, die selbst solche
der wildesten Phase des Kapitalismus überboten und mit keinem anderen
System vergleichbar sind. Alle versuchten, ihre eigene Haut zu retten,
nach dem Motto: Rette sich, wer kann. Der Verschleiß
grundlegender moralischer und rechtlicher Werte erreichte einen Höhepunkt.
Die Militärputsche haben mehr, als dass sie eine Lösung gebracht
hätten, zu einer Vertiefung der Krise geführt. Die Funktion
der jeweils hiernach etablierten Verfassungen ähnelte der eines Leichentuchs,
in welches die Gesellschaft eingewickelt werden soll. Der Zustand von
Gewalt zwischen Rechts und Links machte eine Lösung der Probleme
noch auswegloser. Aber diese Situationen können nicht als von selbst
entstandene aktuelle Entwicklungen gewertet werden.
In vielen ähnlichen Gesellschaften haben die historischen Voraussetzungen
sowie die Unfähigkeit, dem Zeitalter entsprechende positive Antworten
auf die Probleme der Zeit zu finden, und eine engsichtige Vorteilspolitik
die Basis für die Entwicklung der anzutreffenden Oligarchien gelegt.
Dies war die, wenn auch unverdiente, Realität. In der Türkei
begann unter dem Eindruck der Demokratisierung weltweit in den 90er-Jahren
eine intensive Diskussion dieser Lage. Die Diskussion war umfassend. Es
waren manche demokratische Schritte beabsichtigt. Die vorgesehenen Schritte
konnten jedoch nicht realisiert werden, da genau an diesem Punkt keine
Lösung der Ursachen des Krieges niederer Intensität, der gegen
den Kampf der PKK durchgeführt wurde, vorgesehen war, und darüber
hinaus führte die Konfrontation mit der nach wie vor existenten und
heftig diskutierten Gefahr der Bandenbildung den Staat in eine noch ausweglosere
Lage. Das Insistieren auf Gewalt führte zu den meisten politischen
Morden sogenannter unbekannter Täter in der Geschichte der Türkei
und ebnete negativen Entwicklungen den Weg, die z.B. darin bestanden,
dass das Recht fast vollständig der Willkür dieser Banden überlassen
wurde, wodurch die Gefahr völliger Entstellung des Staates bestand.
Ähnliche Entwicklungen fanden in der PKK statt.
Diese Situation, die ich in ihren Grundzügen darzustellen versuchte,
war Grund für eine entscheidende Umwandlung der PKK seit den 90er-Jahren
im Verhältnis zu der Phase, die sie seit ihrer Entstehung bis in
diese Zeit durchlief. Der Versuch des Waffenstillstands von 1993
und der Kampf, der in der PKK durch sie selber intensiviert wurde, sollten
diesen gefährlichen Prozess stoppen und waren von der Überlegung
geleitet, die neuen Entwicklungen in der Türkei zu verstehen und
hierauf eine Antwort zu geben. Meine derartigen Bemühungen sind eindeutig
und wichtig, auch wenn sie nicht genügend in die Tiefe gingen oder
beherrschend waren. Auch wenn meine Bemühungen in der damaligen Zeit
nicht zu den beabsichtigten Resultaten führten, so versuchte ich
doch, den in dieser Richtung stattfindenden Entwicklungen noch sensibler
und positiver zu begegnen. So, wie ich schon in meiner vorherigen Verteidigungsschrift
erklärt habe, wurden in der damaligen Zeit, wenn auch indirekt, wichtige
Botschaften des Staatspräsidenten, des Ministerpräsidenten und
des Großen Generalstabs, jeweils gemäß ihrer eigenen
Obliegenheiten, vermittelt. Als Erwiderung auf diese Botschaften unternahm
ich zweimal den Versuch eines einseitigen Waffenstillstands. Die entscheidenden
Gründe für meine damalige Haltung waren ohne Zweifel auch die
Entwicklungen weltweit und in der Türkei; sie war zugleich Folge
des Bedarfs nach einem neuen Verständnis und neuen Methoden, da das
alte Programm der PKK und ihre Aktionsstruktur festgefahren waren, und
zwar so grundlegend, dass diese Situation in eine Ausweglosigkeit führte
und die PKK also ihre Fähigkeit zur Problemlösung nicht mehr
aufzeigen konnte. Mit jedem Tag wurden die Auswirkungen dieser Situation
spürbarer. Auch wenn in der Zeit, als ich noch in Freiheit war, eine
ausgeprägte Kontrolle und Überprüfung stattfand, versuchte
ich seit 1996 eine Antwort auf das zu geben, was in den Konzepten des
Nationalen Sicherheitsrates als mein Teil vorgesehen war, den ich durch
intensive Verfolgung ihrer TV-Programme herauszufiltern versuchte. Ich
habe versucht, die Organisation in dieser Hinsicht vorzubereiten. Das
gegenseitige Anziehen der Methoden, deren Eignung zur Lösung sei
mal dahingestellt, vertiefte noch die Sackgasse und führte zu einer
unerträglichen Dimension von Schmerz und Verlust. Als ich beim Verlassen
Syriens Europa den Bergen vorzog, tat ich das in der Absicht, durch die
Schaffung eines politischen Weges die Gewalt zu einem kontrollierten Ende
zu bringen. Durch die Zwischenschaltung mancher Personen habe ich ein
Übermittlungssystem zu betreiben versucht. Meine Übergabe an
die Türkei fand unter diesen Voraussetzungen statt.
Während meiner Gefangenschaft habe ich diesen Umstand im Prozess
auf Imrali deutlich zur Sprache gebracht. Meine Verteidigung habe ich
versucht als ein Manifest des Inhalts zu gestalten, dass nach Beendigung
einer Phase der Gewalt weltweit ein grundlegender Wandel stattfindet und
auch in der Türkei nur durch eine umfassende demokratische Umwälzung
sowohl für die kurdische Frage als einen Teil der demokratischen
und kulturellen Umwälzung als auch allgemein eine Problemlösung
gefunden werden kann.
Mit den zustimmenden Antworten der Zentrale der PKK auf meine Aufrufe
in den Hauptverhandlungen, die bewaffnete Auseinandersetzung zu beenden,
ist ein entscheidender Rückgang der Vorfälle zu verzeichnen.
Auf meinen Aufruf hin, ab dem 1. September den bewaffneten Kampf zu beenden,
ist es durch den Anschluss der Organisation sowohl zu einem Rückzug
der Kräfte ausserhalb der Territorialgrenzen der Türkei als
auch zu einem 90-prozentigen Rückgang der Aktionen gekommen, was
selbst in den Feststellungen des Generalstabs zum Ausdruck kommt. Sowohl
die strategische Entscheidung als auch deren Umsetzung in der Praxis,
was seit Jahren geforderte Entwicklungen sind, haben zu positiven Eindrücken
in der Öffentlichkeit geführt. Einhergehend mit diesen Entwicklungen
wurden intensive Diskussionen um demokratische Schritte begonnen. Zweifelsohne
war bei diesen Diskussionen die historische Ansprache des Präsidenten
des Kassationsgerichtshofs zu Beginn des neuen Gerichtsjahres von der
Wichtigkeit eines epochalen Meilensteins.
Die Verhandlung vor dem Kassationsgerichtshof und das letztendliche Urteil
müssen im Lichte dieser Entwicklungen stattfinden. Wie auch immer
das zu fällende Urteil aussehen wird, es wird in der Türkei
auf der Schwelle zum Jahr 2000 wichtige Entwicklungen nach sich ziehen.
Um einer effektiven Vergangenheitsbewältigung in der Türkei
und einer Klärung ihrer Zukunft willen, wird es eine große
Rolle spielen, dass diesem Umstand genügend Rechnung getragen und
eine über den engen Strafrechtsrahmen hinausgehende Herangehensweise
gefunden wird.
Eine Einstellung gegenüber dem Gegenstand dieses Verfahrens, die
einer Wiederholung derjenigen aus klassischen Aufstandsperioden gleicht,
wird zu ähnlichen Aufständen führen, aber eine wissenschaftliche
und problemlösende Art und Weise kann bewirken, dass der jetzige
Aufstand tatsächlich als der letzte in die Geschichte eingeht.
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