Die
Wandlung der PKK ist keine Ausweglosigkeit, sondern eine Notwendigkeit
Der
Zusammenbruch des Sowjetsystems in den 90er-Jahren trägt mindestens
so viel Wirkungspotenzial für die demokratische Wandlung wie die
französische Revolution vor 200 Jahren. Dieser hat tatsächlich
in mehreren Ländern der Welt, vor allem in Osteuropa, den Entwicklungen
in Richtung Demokratie den Weg eröffnet. So, wie die sowjetische
Oktoberrevolution einen äußeren Beitrag zur nationalen Befreiung
in der Türkei geleistet hat, so hat dieser Zusammenbruch Auswirkungen
auf die benachbarten Staaten wie die Türkei und die Turk-Republiken
bezüglich der Beendigung des Status quo gehabt, der als Folge des
Kalten Krieges entstanden war und die Demokratisierung erschwerte, und
positive Entwicklungen herbeigeführt. Zweifelsohne sind die Errungenschaften
der Republik maßgebend gewesen. Dennoch, in diesen Jahren zeichnete
sich eine demokratische Entwicklung ab, die sich zwar nicht in den Gesetzen,
aber in der sozialen und politischen Struktur rasch wiederfand. In der
kurdischen Gesellschaft vollzog sich dies auf eine revolutionäre
Art durch die Serhildans* . Die kurdische
Realität wurde de facto von den höchsten Ebenen des Staates
anerkannt, auch wenn sich das nicht in den Gesetzen niedergeschlagen hat.
Außerdem kam es in dieser Zeit zur Aufhebung des Sprachverbots.
Dies ist ein wichtiger demokratischer Schritt. Auch wenn es an gesetzlicher
Garantie fehlt. Dieser Prozess war durch viele Auseinandersetzungen gekennzeichnet.
Und wenn wir von der Wandlung der PKK sprechen, dann berufen wir uns objektiv
vor allem auf die Entwicklungen im Lande und in der Welt. Die Entstehungsjahre
der PKK sind die Jahre, in denen streng ideologische Lager in Folge des
Kalten Krieges vorherrschten und der Status quo durch die Verleugnung
und Handlungsunfähigkeit über die kurdische Realität gekennzeichnet
war. Außerdem sind diese Entstehungsjahre von einer Jugend geprägt,
in der eine anarchistische Haltung dominierend war, die Demokratisierung
nicht kannte und die in rechte und linke Lager gespalten war. Sowohl in
dem Programm als auch in den Aktivitäten sind die tiefgreifenden
Einflüsse dieser dogmatischen, ideologischen Herangehensweise und
des radikalen Jugendwiderstands vorhanden. In den Strukturen der Parteien
und Organisationen in der Türkei kam es entsprechend der weltweiten
Entwicklung in den 90er-Jahren unvermeidlich zu Veränderungen, die
noch andauern. Auch innerhalb der PKK wäre es aufgrund der schweren
Kampfbedingungen, unter denen sie sich befand, zu solchen Entwicklungen
gekommen. Dass ich in diesen Jahren von dem Programm der PKK und ihren
alten Propagandaslogans Abschied nahm und nach neuen Wegen suchte, zeigt
nicht die Ausweglosigkeit, sondern die Notwendigkeit. Zu kritisieren ist,
dass dies zu spät vollzogen und nicht klar formuliert wurde und sich
auf dem Kongress und im Programm der PKK nicht ausreichend niedergeschlagen
hat. Die Notwendigkeit der Wandlung ist unumstritten. Deshalb ist das
Programm überholt. Es hat sich also gezeigt, dass programmatische
Formulierungen wie ein eigener Staat oder Ähnliches,
nicht realistisch und notwendig erscheinen. Das ist damit gemeint, wenn
die Rede davon ist, dass diese Jahre nicht genutzt wurden und es zu Wiederholungen
der vorherigen Ansätze kam. Um das zu überwinden, habe ich,
wie es in mehreren Unterlagen zu finden ist, gesagt, dass sowohl die Unabhängigkeit
als auch die Freiheit sinnvollerweise in der Einheit der Türkei als
der fortschrittlichste und praktischste Weg zu verwirklichen sind. Das
ist keine enge taktische Haltung. Es handelt sich hier um eine Einsicht,
die sich durch die wichtigen Lehren aus dem Leben und den Erfahrungen
gebildet hat. Auch wenn die Staatsbildung angestrebt wird, dann ist dies
auch innerhalb einer demokratischen Struktur der Republik der Türkei
am sinnvollsten realisierbar. Das ist die Schlussfolgerung, die in meinen
Reden vor meiner Festnahme dokumentiert ist.
Es darf nicht als widersprüchlich gewertet werden, dass ich die gleiche
Haltung einnahm, als ich meine Reise nach Europa einen Schritt zur Staatsbildung
genannt habe. Wenn die Tendenz zur Trennung überwiegen würde,
könnte man dies als einen großen Widerspruch oder als ein Zeichen
der Reue auslegen. Aber wenn man meine Ansichten über den politischen
Willen der Kurden im Allgemeinen zugrunde legt, wird man feststellen,
dass keine Widersprüchlichkeit vorhanden ist. Zum Beispiel sagt jeder,
dass sich unter der Beobachtung und sogar der Unterstützung der Türkei
eine kurdische politische Formation, sogar ein föderaler Staat im
Nord-Irak bildet. Also, es bildet sich in dieser Hinsicht hier ein Staat.
Die Rolle, welche die Türkei und die PKK dabei spielten, ist wichtig
und unbestritten. In dieser Hinsicht hat die HADEP durch die letzten Wahlen
eine regionale Macht, eine Autorität erlangt. Sie hat die regionale
Verwaltung in über vierzig Städten und Kreisstädten übernommen
und damit eine demokratische Staatsbildung vorangetrieben. Genauso ist
es eine unbestrittene Tatsache, dass eine Demokratische Republik durch
die Einheit der politischen Autorität gekennzeichnet ist und zum
ersten Mal in diesem Umfang eine demokratische Autorität in der kurdischen
Gesellschaft entstanden ist. Das bedeutet eine staatliche Macht innerhalb
des einheitlichen Staates. Insofern ist es kein Zeichen von Widersprüchlichkeit
und fehlender Ernsthaftigkeit, wenn ich in diesen Jahren von der Staatsbildung
gesprochen habe. Ich habe eine objektive Realität beim Namen genannt.
Es ist richtig, dass eine auf engstirnigem Separatismus basierende Politik
und Machtstellung eine große Ausweglosigkeit darstellt. Aber genauso
ist es eine große historische Entwicklung, innerhalb der staatlichen
Integrität und Struktur der Türkei durch eine demokratische
Beteiligung einen Platz einzunehmen und eine Macht zu sein. Es ist unumstritten,
dass sich diese Entwicklung trotz vieler Hindernisse schrittweise durchsetzt.
Was ich mit meinen Thesen über eine demokratische Lösung zum
Ausdruck bringen will, auch wenn diese zu spät eingesehen und nicht
ausreichend formuliert worden sind, ist, diese historische Entwicklung
vorauszusehen und der Wille, sich an dieser Entwicklung zu beteiligen.
Es ist weder eine gegenwärtige taktische Haltung noch eine prinzipienlose
Wandlung. Wir sind aufgefordert, aus den Ereignissen in einer Welt, die
große Entwicklungen erlebt, Lehren zu ziehen und unseren dringenden
und sehr wichtigen Problemen die erste Priorität zu geben und die
erforderliche Rolle zu übernehmen. Ich habe in meiner Verteidigung
die Thesen über ein neues Programm der PKK und eine neue politisch-legale
Linie entworfen. Obwohl diese Thesen nicht ausreichend sind, sind sie
ernst gemeint und meines Erachtens richtig. Sie sind das Ergebnis meiner
langjährigen politischen und ideellen Erfahrungen. Ich habe keinen
Zweifel daran, dass diese einen konstruktiven und wichtigen Beitrag zur
Demokratisierung im Allgemeinen und bei der Lösung der Kurdenfrage
leisten und eine Schlüsselrolle dabei spielen werden, wenn meine
Ansichten richtig verstanden werden.
Es ist eine Tatsache, dass ich einen inneren Krieg in Bezug auf das Organisations-
und Aktionsverständnis der PKK durchgemacht habe
Es ist möglich und richtig, dass die PKK unter meiner Verantwortung
von dem Zeitraum und von der Intensität her den wichtigsten und den
größten Kurden-Aufstand geführt hat und dies
viele schmerzhafte und rücksichtslose Seiten hatte. Aber wenn von
der inneren Struktur, von der Verantwortung und den Zuständigkeiten
der Organisation und der Mitglieder die Rede ist, dann stellt sich die
Realität anders dar.
Es ist schwer zu sagen, dass der von der PKK geführte Aktionismus
auf einem Guerilla- oder ähnlichen Krieg beruhte, der geordnet und
an Grundstrategien und -taktiken angelehnt war. Es ist auch ein großer
Irrtum zu glauben, dass sich die Form der Konfliktaustragung, insbesondere
auf höchster Führungsebene, so gestalten ließ, wie ich
es haben wollte. Eine eher richtige soziologische Bewertung ist es, zu
sagen, dass sich die Reste von Zerstrittenheit und Widersprüchen
der Stammes- und Familienstrukturen, die sich über Jahrhunderte gehalten
haben, sowie religiöser Unterentwicklung in der tiefgreifenden feudalen
Struktur der kurdischen gesellschaftlichen Realität, nun in der PKK
wiedergefunden und ausgedrückt haben. Jeder, der sich daran beteiligte,
handelte nach dem Motto Ich bin das Gesetz und missachtete
nicht nur die Grundsätze der offiziellen Verordnungen der PKK, sondern
verstieß gegen die traditionellen feudalen Regeln. Besonders 1987
richteten sich die Aktionen unter dem Vorwand der Bekämpfung der
Dorfschützer gegen die Zivilisten, darunter Frauen und Kinder, die
mit den Auseinandersetzungen nichts zu tun hatten. Genau an diesem Punkt
haben einige teilweise die ideologischen und politischen Ansätze
der PKK über Bord geworfen und versucht, unter dem Motto Die
Intellektuellen haben verloren, die Bauern sind an der Macht das
Wesen der Partei aufzulösen. Interne Auseinandersetzungen wurden
erzwungen, um durch die Möglichkeiten, die sie erhalten haben, die
tatsächliche Macht der Partei und das Volk unter ihren persönlichen
Einfluss zu bringen. Aufgrund der Federführung bestimmter Personen
habe ich diese Gruppe Vierer-Bande genannt. Dass ich im Zeitraum
1987-1997 in dieser Hinsicht einen enormen Kampf geführt habe, ist
meines Erachtens wichtig zu wissen. Das befreit mich ohne Zweifel nicht
von meiner Verantwortung; es ist jedoch von großer Bedeutung, um
mein Verständnis von Moral, Politik, Organisation und Aktionismus
zu begreifen. Es ist nicht schwierig nachzuweisen, dass die Aktionen,
welche die PKK in eine prekäre Situation gebracht haben, in dieser
Zeit durchgeführt wurden, und die Verantwortlichen, welche die Kontrolle
innehatten, diese Personengruppe waren. Diese Personen nutzten die Vorteile,
welche die ländlichen Gebiete ihnen gewährten, aus, um das zu
praktizieren, was sie wollten. Diese Praktiken haben sie mit Lügen
vertuscht. Diese Aspekte werden in den staatlichen Gutachten ausführlich
dargelegt und bewertet. Diese Personen schrecken nicht davor zurück,
ihren nächsten Genossen oder ihre Helfer im Volk zu bestrafen, um
ihren Einfluss zu vergrößern. Die Primitivität und Erbarmungslosigkeit
der Machtstrukturen in der kurdischen Gesellschaft und die Brutalität
der Stammes- und Dorf-Aghas begegnen uns hier in einer gefährlicheren
Weise. Übrigens geschah so etwas auch während des Befreiungskampfs
in vielen anderen unterentwickelten Gesellschaften wie z. B. in Afrika
und in jeder Volksgemeinschaft in der Vergangenheit. Die diesbezüglichen
internen Auseinandersetzungen der kurdischen Gruppen im Nord-Irak sind
allgemein bekannt. Die osmanische Dynastie hat sogar den Brudermord
zugunsten des Machterhalts in einem Erlass manifestiert. In der Zeit der
nationalen Befreiung hatte der Leibwächter von Mustafa Kemal Atatürk,
Topal Osman, willkürlich Abgeordnete im Parlament umgebracht, Menschen
lebend begraben und konnte erst auf den persönlichen Befehl von Atatürk
ermordet und die Gesellschaft somit von ihm befreit werden. Auch ähnliche
Aktivitäten von Cerkes Ethem** sind in dieser Hinsicht
untersuchenswert. Diese Beispiele habe ich deshalb aufgeführt, um
klarzumachen, dass solche Grausamkeiten bei Aufständen und in Guerilla-Kriegen
weit verbreitet sind. Außerdem ist dokumentiert, dass ein systematischer
Kampf gegen diese Banden-Mentalität in der PKK geführt worden
ist. Es ist bekannt, dass umfangreiche erzieherische und organisatorische
Maßnahmen dagegen ergriffen wurden und Personen, die sich davon
nicht abbringen lassen wollten, erst durch interne Kämpfe neutralisiert
wurden.
Es stellt sich die Frage, warum im Schlussplädoyer der Staatsanwaltschaft
die Verluste und Schäden umfangreich aufgelistet werden, obwohl solche
internen Auseinandersetzungen in den 90er-Jahren stattfanden. Die Antwort
wird sich finden, wenn man bedenkt, dass interne und externe Auseinandersetzungen
in diesen Jahren an Intensität zugenommen haben. Auch im offiziellen
Susurluk-Bericht der parlamentarischen Untersuchungskommission
wurde offen zum Ausdruck gebracht, dass besonders in den Jahren 1993-1996
häufiger erlebt wurde, dass auch Strukturen des Staates außer
Kontrolle gerieten, was zum großen Teil die Ursache für die
Fälle von Morden unbekannter Täter und von Verschwundenen
war, und dass die Staatsmacht rechtswidrig ausgeübt wurde. Und die
Rede ist immer noch von einer Bande, die nicht aufgedeckt worden ist.
Nach einer offiziellen Statistik sind ca. 18.000 Morde und Vorfälle
geschehen, die bisher ungeklärt sind. Das sind Zahlen, die nicht
in Zusammenhang mit der PKK gebracht werden. Kurzum, das Chaos dieser
Jahre stieg ins Unermessliche. Das hängt mit dem Konflikt mit der
PKK zusammen. In einer von intensiven Auseinandersetzungen gekennzeichneten
Situation treten solche Entwicklungen häufig auf, wie die aktuellen
Beispiele in Bosnien, Kosovo und in der Vergangenheit in Palästina
und Irland zeigen. Dort waren die Ereignisse noch schmerzlicher. Es ist
leicht verständlich, wenn man daran denkt, dass die PKK zum ersten
Mal in diesem Umfang eine Machtposition erlangt hat, diese nicht verlieren
wollte, und die persönlichen Eigenschaften bzw. Entwicklungen der
sie verkörpernden Personen eine große Rolle dabei gespielt
haben. Die PKK hat den Zustand nicht erreicht, wonach sie eine reguläre
Armeemacht ausgebaut hätte und jede Aktion nach Befehlen durchgeführt
worden wäre. Trotz aller Anstrengungen waren die erzielten Fortschritte
sehr beschränkt. Ich erwähne diese Tatsachen, um die Wahrheit
zu vermitteln, nicht um von meiner Verantwortung abzulenken. Ich habe
vielseitige Anweisungen gegeben, Perspektiven gezeigt und versucht, intensiv
umzuerziehen. Aber das alles hat nicht gereicht, um meine Vorstellung
und die offizielle taktische Linie der Organisation durchzusetzen. Es
blieb begrenzt. Die individuellen und regionalen Initiativen haben eher
überwogen.
Das ist die wahre Seite der Entwicklungen, die nicht akzeptiert werden
können. Verkommene Entwicklungen, die großes Leid nach innen
und nach außen mit sich brachten. Da in den letzten Jahren solche
Personen und Strukturen entmachtet wurden, kamen solche Ereignisse viel
seltener vor. Dies konnte durch einen internen Kampf erreicht werden.
Wenn ich es noch einmal betone: Diese Ereignisse kamen bei uns im Gegensatz
zur weit verbreiteten Propaganda weniger vor, als es in anderen von Gewalt
geprägten Situationen der Fall war. Ein objektiver Beobachter würde
hierbei unseren persönlichen Beitrag leicht feststellen.
Eine noch deutlichere, ähnliche Situation ergab sich für die
Zeit nach 1996, als der Staat anfing, für Gesetzesordnung zu sorgen,
und die Fälle von unter ungeklärten Umständen verschwundenen
Menschen zurückgingen. Ich halte es für sehr wichtig, die Verantwortung
meiner Person und der Organisation für die von der Anzahl und von
der Qualität her schmerzhaften und verlustreichen Ereignisse dieser
Jahre klarzustellen. Der Vorwurf, Mörder von 30.000 Menschen
oder Baby-Mörder zu sein, ist unmenschlich, ungerecht
und außerhalb jeglicher Realität. ICH LEHNE DAS AB. Wahr ist,
dass hier ein Kampf geführt wurde, der legitim und mit großen
Opfern für ein menschenwürdiges Leben verbunden war und eine
demokratische Gesellschaft und eine Demokratische Republik anstrebte.
Wenn dieser Kampf nicht so geführt wurde, wie es erwünscht war,
und die Ereignisse und Morde, die ich nie akzeptieren kann, die aber auch
weder ethisch noch politisch akzeptabel sind, stattfanden, kann nur dann
gerecht gehandelt worden sein, wenn die objektive und subjektive Verantwortung
beider Seiten richtig dargestellt worden ist. Ich bin einer der Hauptverantwortlichen.
Aber ich bin nicht der alleinige Verantwortliche. In einem gesellschaftlichen
Aufstand, dessen demokratische und kulturelle Forderungen mehrmals offiziell
anerkannt, deren Erfordernisse aber nicht erfüllt worden sind, haben
alle die Verantwortung, von demjenigen an der Staatsspitze bis hin zu
ungebildeten und gnadenlosen Menschen, wir alle. Es ist eine moralische
und politische Pflicht, dies so schnell wie möglich einzusehen, und
dass jeder seinen Beitrag dazu leistet. Eine faire Justiz kann nur entwickelt
werden, wenn sie sich auf eine solche ethische Philosophie und demokratische
Politik stützt.
Bei den Tatsachen über die der PKK und hauptsächlich mir zugerechneten
Auseinandersetzungen, Verluste und Schmerzen will ich meine Verantwortung
in dieser Weise festgestellt haben. Ich habe diesbezüglich keinen
Zweifel daran, dass ich am ehesten einen gerechten Frieden verlange und
verdiene. Es steht genauso fest, dass ich alle meine verfügbaren
Mittel dafür einsetzen und meinen Beitrag dazu leisten werde.
Zwei Wege, zwei historische Resultate in der Beziehung der Türkei
zu den Kurden und ihrem Aufstand
Die Hauptursache dafür, dass die Türkei seit der Gründung
der Republik innenpolitisch nicht den Weg zur Demokratisierung gefunden
hat, außenpolitisch eine Makulatur darstellte und keine Führungsrolle
in Anbetracht ihrer Macht übernehmen konnte, liegt darin, dass sie
in der Kurdenfrage nicht die erforderliche wissenschaftliche und demokratische
Haltung einnahm. Kennzeichnend für ihren Weg und ihre Haltung bis
in die Gegenwart ist, dass bei den Aufständen und deren Zerschlagung
keine Schlussfolgerungen gezogen wurden und die Wunde offen gelassen wurde.
Weder bei der Analyse noch bei der Behandlung wurden wissenschaftliche
Maßstäbe gesetzt. Stattdessen wurde eine Politik betrieben,
die durch gegenseitige Ängste gekennzeichnet war und unter den aktuellen
wirtschaftlichen und politischen Gesichtspunkten bestimmt wurde. Das hat
das Problem noch weiter verschärft. Manchmal glaubte man, das Problem
mit strafrechtlichen Maßnahmen zu lösen. Einige Zeit wurde
die Situation dadurch unter Kontrolle gehalten, dass den Funktionsträgern
von feudalen Stämmen oder religiösen Institutionen Privilegien
gewährt wurden. Ebenso wurde geglaubt, dass lediglich durch die wirtschaftliche
oder bildungspolitische Entwicklung das Problem gelöst wird. Da diese
Haltung sich mehr auf die Grundlage der Leugnung der kurdischen Identität
stützte, konnte auch die kleinste Gegenhaltung und Entwicklung in
dieser Frage sich davon befreien, radikal zu sein.
Wenn alle heute über den Radikalismus der Methoden der PKK reden,
übersehen sie jedoch dabei die historische Grundlage und die politische
Herrschaftsform, auf die sich dieser stützt. Die Art der Unterdrückung,
die bis zu einem Sprachverbot ausgedehnt wurde, führt zu der Entwicklung,
dass jeder Vorstoß dagegen, entsprechend der Unterdrückung,
gewaltig ist. Es muss eingesehen werden, dass eine einseitige und von
ihren historischen Ursachen losgelöste Betrachtung die Probleme enorm
verschärft und damit erfolglos bleibt. Alle spüren inzwischen
am eigenen Leib, dass die Türkei vor dem Jahr 2000 wegen dieser Frage
in eine ausweglose Situation geraten ist. Während manche direkt am
Krieg Beteiligte große Verluste und großes Leid tragen, häuft
eine kleine Gruppe als Kriegsgewinnler ein Vermögen an, was inzwischen
zu ihrer wesentlichen politischen und persönlichen Lebensform geworden
ist. Anscheinend ist in der Gesellschaft eine Art Arbeitsteilung entstanden.
Dabei hat es eine entscheidende Rolle gespielt, dass eine Schattenwirtschaft
von Kriegsgewinnlern entstand, es zu großen sozialen Zusammenbrüchen
und Divergenzen kam, die Politik ihre Funktionen nicht mehr ausübte
und in sich selbst gefangen ist. Es ist so zur Gewohnheit geworden, als
ob die Türkei dazu verurteilt wäre. Statt nach Lösungen
zu suchen, hat sich eine gesellschaftliche Haltung durchgesetzt, wonach
die einzelnen Personen oder Gruppen kurzfristig und nach Eigeninteresse
handeln. Das ist die gefährlichste Haltung in einer Gesellschaft.
Die Ursache liegt einerseits darin, dass die aktiven Kreise der Gesellschaft
nicht imstande sind, eine konstruktive Politik zu entwickeln und nach
ethischen Grundsätzen zu handeln. Auf der anderen Seite sind die
staatlichen Organe zum großen Teil handlungsunfähig. Solange
dieser Zustand nicht überwunden wird, kann von einem Voranschreiten
der Türkei keine Rede sein.
Anfang 1990 wurde teilweise sowohl beim Demokratisierungsprozess im Allgemeinen,
als auch bei der Kurdenfrage im Speziellen, um es beim Namen zu nennen,
eine wissenschaftliche und eine demokratische Haltung eingenommen. Es
hat vielleicht historisch der Republik den größten Schaden
zugefügt, dass dieser Ansatz nicht weiterentwickelt wurde. Das sinnlose
Beharren auf Krieg hat auf beiden Seiten zu großen Verlusten in
einem unerträglichen Ausmaß geführt. Die soziale Degeneration
und die wirtschaftliche Krise haben die größte Dimension erreicht.
Ich will diese Aspekte nicht weiter ausführen, da diese sowohl in
der Anklageschrift und im Schlussplädoyer als auch in meiner ersten
Verteidigung ausführlich behandelt wurden. Der Prozess von Imrali
erlebt selbst die gegenwärtige Ausweglosigkeit der Türkei und
geht in diesem Sinne auf eine solche historische, gesellschaftliche und
politische Realität zurück. Wird der Prozess im Einklang mit
der bisherigen Haltung hinsichtlich der Vergangenheitsbewältigung
das Problem weiter verschärfen? Oder wird er zumindest durch die
Vorgehensweise einen auf die Zukunft gerichteten Ausweg einschlagen oder
Zeichen in dieser Richtung setzen? Das sind die Hauptfragen, nach deren
Anworten gesucht werden muss. Es hängt von der Antwort auf die Fragen
ab, ob der Prozess im klassischen Sinne stattfindet. Von jetzt an, so
glaube ich, werden Diskussionen über diese beiden Fragen und ihre
Antworten sowohl in der Gesellschaft als auch auf der Ebene des Staates,
sowohl im Inland als auch im Ausland geführt werden und Früchte
tragen.
Ich halte es für mich persönlich für eine historische Aufgabe,
Antworten auf diese Fragen zu geben. Meine Antworten bilden den Kern meiner
Verteidigung. Es ist meines Erachtens der wichtigste Aspekt meiner Verantwortung
für den Umfang und die Entstehung des Problems und damit des Aufstands
und seiner Entwicklung, auf die folgenden Fragen Antworten zu geben: Welche
Zukunft erwartet uns aus diesem Konflikt, aus dem Aufstand, und wie soll
eine neue Ordnung gestaltet werden? Ich glaube, es ist von lebenswichtiger
Bedeutung zu wissen, dass die Antwort auf die Zukunft genauso richtig
sein muss wie die auf die Vergangenheit.
Es gibt keine größere Fehleinschätzung als die, die Realität
der PKK ausschließlich unter engen strafrechtlichen Gesichtspunkten
zu beurteilen. In diesem Prozess möchte ich diese Gefahr ausschließen.
Es ist wahr, dass die PKK die Geschichte der Türkei im letzten Vierteljahrhundert
wesentlich beeinflusst hat. Noch richtiger ist es, dass sie diesen Einfluss
vom Umfang und von der Dauer her ausüben wird. Wenn wir das falsch
einschätzen, dann wird die Türkei als Verliererin ins 21. Jahrhundert
eingehen. Im Falle einer richtigen Beurteilung wird sie nicht nur das
schwerste Schlüsselproblem loswerden, sondern es bedeutet für
sie die Chance, im nächsten Jahrhundert eine Vormachtstellung in
der Region zu erlangen. In diesem Sinne steht die Türkei vor einer
Wende, vor einem Scheideweg. Noch wichtiger und notwendiger scheint es,
dass wir uns keine Fehler und Irrtümer leisten können und zu
einer richtigen Lösung gezwungen sind. Die eigentliche Unehrlichkeit,
der eigentliche Verrat an diesem Punkt ist, die Realität nicht einzusehen
und sich nicht darum zu bemühen.
Kinderkrankheiten sind sowohl im Leben der Personen als auch in der Geschichte
der Organisationen zu erleben. Damit muss man bis zu einem gewissen Grad
mit Verständnis und Vergebung umgehen. Aber wenn die Zeit reif ist,
machen sich die Leute in der Tat der Verantwortungslosigkeit und des Verrates
schuldig, wenn sie auf ihren Fehlern beharren und ihre Rolle nicht entsprechend
der historischen Notwendigkeit übernehmen. In diesem Sinne sehe ich
es als meine vorrangige Aufgabe an, neben der Vergangenheit der PKK auch
ihre Zukunft zu hinterfragen und ihre mögliche Rolle bei den Entwicklungen
zu bestimmen. Diese Haltung wird meines Erachtens dazu beitragen, neben
der juristischen Beurteilung der Vergangenheit einer sich selbst fesselnden
Politik, sogar der Wirtschaft und der Innen- und Außenpolitik den
Weg zu ebnen. Ich glaube, dass eine Demokratische Republik, die auf grundlegenden
Menschenrechten und Demokratie basiert, über die jetzt schon diskutiert
wird, der Türkei helfen wird, sich in der Region hervorzutun und
ihre Führungsrolle zu übernehmen.
Das Beharren auf bewaffnetem Kampf und Ausweglosigkeit bedeutet, das nächste
Jahrhundert zu verlieren
Aus dem Prozess von Imrali ist folgende Schlussfolgerung zu ziehen: Wenn
die Kurdenfrage im herkömmlichen Sinne und von demokratischen und
kulturellen Aspekten losgelöst betrachtet wird, bedeutet das eine
Verschärfung des auf einer festen Infrastruktur etablierten Konfliktes
und eine Ausweglosigkeit. Ich halte es für sehr gefährlich,
nicht für meine Person, sondern für die Zukunft des Landes,
dass während des Prozesses eine die Emotionen ausnutzende Haltung
eingenommen wurde. Man muss, unabhängig vom Schutz meiner physischen
Existenz, die mit großen Gefahren verbundenen Entwicklungen voraussehen.
Es handelt sich keinesfalls um eine Drohgebärde. Jedoch sind Entwicklungen
möglich, die für jeden, der politisch-strategisch denkt, vorauszusehen
sind. Ich möchte sie im Folgenden auflisten:
1 - Der bewaffnete und militärische Konflikt wird immer mehr institutionalisiert
und fortgesetzt. Die PKK wird diese Angelegenheit jahrelang weiterführen
können, weil sie neben den geografisch günstigen Gegebenheiten
im Inland und in allen wichtigen Ländern der Welt und an beiden Seiten
der Grenzen ihre Stellungen hat, über Erfahrungen verfügt, ihren
logistischen Bedarf decken kann, leicht Waffen beschaffen kann, über
finanzielle Mittel verfügt, Mitglieder anwerben und zusätzliche
Reserven bilden kann. Ein Krieg niedrigen oder mittleren Grades kann leicht
fortgeführt werden. Auch das Militär kann aufgrund seiner Erfahrungen
und der überlegenen technischen Ausstattung den Krieg länger
aushalten und fortsetzen. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich diese militärische
Tendenz durchsetzt, ist in der Tat sehr groß. Der Krieg könnte
sich über die vergangenen 15 Jahre hinaus auf das kommende Jahrhundert
ausdehnen. Natürlich besteht die Gefahr, dass dieser Konflikt noch
größere Ausmaße annimmt. Denn die Region ist instabil
und für jegliche Allianzen geeignet. Hinzu kommen mögliche weltweite
politisch-militärische Konstellationen, die den Konflikt eskalieren
lassen könnten. Es ist vielleicht das für Konflikte gefährlichste
Gebiet der Welt. Denn hier stoßen viele gegensätzliche Interessen
aufeinander. Der Nord-Irak ist ein kleines Beispiel hierfür. Es ist
jetzt schon schwer einzuschätzen, wohin das führen wird.
Es ist möglich, dass es zu neuen Verhaltensweisen der Araber kommt,
mit oder ohne Saddam. Sie werden ihre Beziehungen zur PKK erweitern, je
nach Interessensgegensätzen mit der Türkei. Dabei werden sowohl
das Wasserproblem eine Rolle spielen als auch die historisch und wirtschaftlich
bedingten Gegensätze. Dies ist eine wichtige Grundlage für die
Verschärfung des militärischen Konfliktes. Die Araber werden
ihre Aktivitäten mit Unterstützung der befreundeten Staaten
durch die Kurden im Allgemeinen, durch die PKK im Speziellen, erweitern
und fortsetzen.
Der Iran wird bei seinen historischen und zur Zeit auch noch ideologisch
bedingten Gegensätzen mit der Türkei sowohl durch die Hisbullah,
aber vielmehr durch die Kurden, die PKK ausspielen und den Konflikt verschärfen.
Der Iran wird bei der Fortsetzung des Konfliktes ein wesentlicher Faktor
bleiben. Die zur Zeit beschränkten Beziehungen sind mit einem größeren
Entwicklungspotenzial verbunden.
Syrien wird insbesondere nach einem Frieden mit Israel seine Gegensätze
mit dem Norden, also der Türkei, sowohl wegen des Wassers und der
Provinz Antiochia als auch wegen seiner Beziehungen zum Irak und sogar
zum Iran auf die Tagesordnung setzen. Dieses Land wird die Kurden, die
PKK als die nächsten Verbündeten betrachten und bei der Verschärfung
des Konfliktes eine wichtige Rolle spielen.
Israel wird sich nach einem Frieden mit den Arabern noch unabhängiger
und intensiver mit den Kurden befassen und seine Beziehung vielleicht
in einem größeren Umfang ausbauen.
Hinzu kommt Russland, das seine Gegensätze mit der Türkei in
Bezug auf die Turk-Völker, den Kaukasus, den Balkan oder sogar den
Nahen Osten immer mehr in den Vordergrund stellt. Es kann seine ablehnende
Haltung gegenüber der Türkei wie z. B. zur Zeit in Armenien,
Serbien und Zypern ausdehnen. Es wird die Kurden und die PKK ausnutzen
wollen und als Supermacht imstande sein, den Krieg zu verschärfen.
Der Ausbau der geringen Beziehungen und des Interesses sind unvermeidlich.
Dieses Land kann bei der logistischen und technischen Ausstattung beschleunigend
mithelfen.
Die Rolle Europas und seines Teils Griechenland ist offensichtlich. Als
Gebiete, in denen sich die Kurden und die PKK am meisten etabliert und
an Stärke gewonnen haben, werden diese eine umfangreiche, vielseitige
Rolle spielen.
Amerika und England halten zwar eine Allianz mit der Türkei, verfolgen
aber auch ihre sonstigen Ziele wie z.B. im Irak. Sie versuchen durch den
israelisch-arabischen Frieden ihre Beziehungen zur arabischen Welt auszubauen
und schließlich wieder Beziehungen zum Iran aufzunehmen. Wie sich
das im Nord-Irak abzeichnet, sind die beiden Staaten dabei, ihre Beziehungen
zu anderen Staaten zu vergrößern, was mit einem Risiko für
die Türkei verbunden ist.
Die zur Zeit eingeschränkten Beziehungen dieser strategischen Machtzentren
zu den Kurden und damit zur PKK bergen ein großes Entwicklungspotenzial
in sich und sind konfliktverschärfend. Welche Rolle diese auf eigenen
Interessen beruhenden Beziehungen in dem Konflikt gespielt haben, ist
bekannt, obwohl diese Staaten das offiziell zurückweisen. Die Beziehungen
alleine zu den strategischen Außenmächten zeugen von der Dimension
dieser Gefahr. Außerdem haben die genannten Mächte, wie wir
wissen, in der Vergangenheit oft Bündnisse gegen die Türkei
geschlossen und werden dies auch in Zukunft weiter ausbauen und sogar
in Kriegsszenarien übertragen.
Ein weiterer Grund dafür, dass der militärische Konflikt weiter
ausgedehnt wird, ist die Wahrscheinlichkeit der Einigung der kurdischen
Bevölkerung im Iran, Irak, Syrien, im Kaukasus und überall in
der Welt. Diese Einheit ist zum großen Teil durch die PKK verwirklicht
worden. Dieser Aspekt ist neu und dessen Beurteilung ist von besonderer
Bedeutung. Von der Fläche und der Bevölkerung her sind genügend
logistische, personelle, finanzielle und diplomatische Kapazitäten
vorhanden, und diese werden erweitert.
Das Gefahrenpotenzial des Konfliktes ist besser zu verstehen, wenn wir
uns neben der günstigen geografischen Lage die große Unterstützung
der Kurden in der Türkei und die der Anhänger in den Gefängnissen
vor Augen halten.
Allein dieser Aspekt, den wir ausführlicher darlegen könnten,
zeigt uns, welches Gefahren- und Zerstörungspotenzial dieser bewaffnete,
militärische Konflikt in sich trägt, gefährlicher und zunehmend
schärfer als in der Vergangenheit. Das ist die größte
Gefahr für die Zukunft.
Um einen Vergleich mit der Libanonisierung, der Jugoslawisierung oder
Irakisierung in der Vergangenheit zu ziehen, wird die Verschlechterung
des Problems in Bezug auf die Menschenrechte und Demokratie die Türkei
in die Isolation treiben und zum Werkzeug gefährlicher Szenarien
machen. Es ist offensichtlich, dass diese Frage unter günstigen Bedingungen
zum Anlass für ein Eingreifen wie im Falle Kosovo genommen wird,
weil die kurdische Bewegung, vor allem im Nord-Irak, weltweit ihren Platz
eingenommen und sich ihre Institutionen geschaffen hat. Die derzeitigen
Bedingungen werden die Gewaltanwendung noch mehr fördern, extrem
nationalistische Strömungen stärken und eine härtere Gangart
in der Machtausübung der Regierung zur Folge haben.
Eine demokratische Haltung zu den Problemen, allen voran zur Kurdenfrage,
ist die einzige Möglichkeit, diese Entwicklung zu unterbinden. An
dieser Stelle kommt der Politik des Frieden im Lande, Frieden in
der Welt eine große Bedeutung zu.
2 - An erster Stelle werden die Kurden in der Region, dann alle Kurden
im Nahen Osten und in der restlichen Welt von den genannten strategischen
Mächten gegen die Türkei aufgehetzt. Die Vertiefung des Krieges
und der Ausweglosigkeit wird die Türkei vielleicht zur einzigen Zielscheibe
machen. Die Gefahr wird noch größer, wenn die derzeit herrschende
Stimmung nicht nachlässt und in Feindseligkeiten ausartet und die
religiösen, innerreligiösen, schweren wirtschaftlichen und sozialen
Gegensätze hinzukommen. Die Bevölkerung der Region ist, wie
wir in der Geschichte und bei der PKK gesehen haben, jederzeit für
einen Aufstand prädestiniert, wenn die Probleme ungelöst bleiben.
Mit der PKK wird dieser Zustand somit ständig anhalten. Eine durch
Misstrauen, Angst, Hass und schwere wirtschaftlich-soziale Krise gekennzeichnete
Tragödie ist nicht auszuschließen. Es liegt auf der Hand, dass
ein Ausweg aus diesem Zustand noch schwieriger wird, wenn man die vielseitigen
technischen Möglichkeiten der Beziehungen und die Überwindung
der Jahrhunderte lang abgebrochenen Kontakte für möglich hält.
Wenn das Problem weiter verschärft wird, werden die Staaten, die
Probleme mit der Türkei haben, allen voran die Nachbarstaaten, sowohl
die eigenen Kurden als auch die zu ihnen geflüchteten gegen die Türkei
ausspielen, für deren Politisierung sorgen und für ihre Zwecke
benutzen. Diese Möglichkeiten sind zur Zeit begrenzt, und diese Staaten
warten - wie sie es formulieren - die Zeit nach APO ab und
werden in Zukunft ihre diesbezüglichen Pläne auf die Tagesordnung
setzen. In Wirklichkeit werden die strategischen Ziele dieser Mächte
durch die Existenz meiner Person gestört, und diese wollten mich
deshalb nicht aufnehmen, auch wenn sie dadurch angeblich der Türkei
einen Gefallen tun wollten. Die Ausspielung der Kurden gegen die Türkei,
vor allem die doppelzüngige griechische Haltung ist nicht nur strategischer
Natur, sondern aktuell und gefährlich. Der Prozess erfordert daher
eine realistische Beurteilung. Es muss bedacht werden, dass eine engstirnige,
emotionale, auf Verleugnung basierende Haltung, ergänzt von rechten
und rassistischen nationalen Vorurteilen, die Zukunft der Türkei
gefährdet. Es ist notwendig, eine richtige, strategisch-politische
Haltung einzunehmen.
3 - Die Verschärfung des Konfliktes und der Ausweglosigkeit wird
der Wirtschaft schweren Schaden zufügen. Die zur Zeit andauernde
Wirtschaftskrise hängt eng mit diesem Problem zusammen. Nicht nur
die Militärausgaben, sondern auch die Hindernisse in Bezug auf die
Mobilisierung des reichen wirtschaftlichen Potenzials der Region, die
lahmgelegten wirtschaftlichen Projekte, die hohe Arbeitslosigkeit und
die Kriegswirtschaft wirken sich auf die Volkswirtschaft der Türkei
zerstörend aus und verschärfen zunehmend die Krise. Die Volkswirtschaft
der Türkei, welche in der Region und im Nahen Osten eine Vorreiterrolle
spielen könnte, ist zu einem ausgeplünderten Markt geworden.
Es ist offensichtlich, dass die Fortsetzung des Konfliktes und der Ausweglosigkeit
diesen Zustand noch weiter verschlechtern und in eine Sackgasse führen
wird. Eine Bevölkerung, die unter den Bedingungen des Krieges und
des Konfliktes lebt, ist wirtschaftlich gesehen am unproduktivsten und
verursacht die höchsten Kosten. Keine Volkswirtschaft kann langfristig
diese Bevölkerung tragen, geschweige denn auf den Weg der Entwicklung
bringen.
4 - Im Bereich der Bildung und Kultur ist eine Rückentwicklung unumstritten.
Im Konfliktzustand wird sowieso keine richtige Bildung vorangetrieben;
die derzeitige Bildung leidet unter Qualitätsmängeln. Das bekannte
Niveau der kurdischen Sprache, neben den geringen Fortschritten im Türkischen,
sind Ursache dafür, dass die Bevölkerung ungebildet und unkultiviert
bleibt und in religiöse und traditionelle Denkweisen zurückfällt.
Und dies führt wiederum zu Unwissenheit und Angst, zu gesundheitlichen
Problemen, sozialen Krisen und zu Konflikten zwischen den Personen, Stämmen
und schließlich zu den bekannten Aufständen. Die Fortsetzung
und Vertiefung der Konfliktsituation wird die soziokulturellen Probleme
zum Wegbereiter vieler unangenehmer Entwicklungen machen und diese Bevölkerung
zum gefährlichsten Potenzial werden lassen.
5 - Die Fortsetzung des Konfliktes und der Ausweglosigkeit wird wie in
der Vergangenheit insbesondere ein Hindernis für die Demokratisierung
in der Türkei bedeuten. Die in der Staatsstruktur erwünschten
demokratischen Maßnahmen werden nicht durchgeführt werden können.
Folglich wird es zu einer Verdrossenheit und Bedeutungslosigkeit der Politik
führen. Egal, unter welchem Namen die Politik, Politiker und politischen
Parteien auftreten, werden sie das Schicksal von Gescheiterten teilen.
Schließlich betreffen die Grundbedingungen und die Ausweglosigkeit
alle gleichermaßen und machen erfolglos.
Diese Situation zeigt ihre Auswirkungen auch auf die zivilen Institutionen
und die Medien. Diese entwickeln sich zu Organen, die nicht schöpferisch
agieren, sich nicht um die tatsächlichen Probleme der Bevölkerung
kümmern und sich dem Volk entfremden. Auch die Gewerkschaften befinden
sich in einer ähnlichen Lage.
Die strukturellen Probleme der Gesellschaft nehmen einen krisenähnlichen
Zustand an. Die ethischen Werte verfallen. Die Familien lösen sich
rasch auf und haben immer weniger Aussicht auf Fortbestand.
Institutionen und Personen, die sich in beschränktem Umfang entwickeln,
werden im Zusammenhang mit dem Krieg blockiert. Als Folge dieser Entwicklungen
ist auch die Justiz vor große Probleme gestellt. Die Notwendigkeit
einer Verfassung und von Gesetzen, die sich auf demokratische Rechte und
auf Menschenrechte stützen, wird von Tag zu Tag größer.
6 - Ein krasses Beispiel für die Auswirkungen der derzeitigen Ausweglosigkeit
ist im außenpolitischen Bereich zu sehen. Insbesondere Europa setzt
den eigenen Willen durch und lehnt unter dem auf eigenen Interessen basierenden
Vorwand der Demokratie-Defizite eine Mitgliedschaft in der Europäischen
Union ab. Da dieses Problem auf einer demokratischen Basis nicht gelöst
wird, kommt es nicht nur im Inland sondern auch im Ausland zu großen
negativen Folgen. Das hindert das Land daran, in dieser Richtung einen
Sprung zu machen. Die zunehmende Abhängigkeit, bedingt vor allem
durch die Schuldenzunahme, verbaut sogar die Chance, internationale Initiativen
zu ergreifen und zu nutzen. Das führt zur Abhängigkeit von bestimmten
Mächten und macht das Land für Konfliktsituationen anfällig.
Der verwirkte Frieden im Inland erschwert auch den Frieden im Ausland.
Aufgrund der Verschärfung des Problems konnten die umfangreiche Öffnung
und die Führungsrolle insbesondere im Nahen Osten, im Kaukasus, auf
dem Balkan und in Zentralasien nicht wahrgenommen und genutzt werden.
Die Erklärungen, die im Zusammenhang mit einem schweren Strafprozess
zum Ausdruck gebracht werden, scheinen vielen vielleicht sinnlos zu sein.
Über den Prozess von Imrali sollen diese Erklärungen jedoch
für jede Person und für jede Institution in Bezug auf mögliche
Entwicklungen von Bedeutung sein und müssen zur Diskussion stehen.
Wenn man die Ergebnisse des Prozesses für eine Lösung tatsächlich
nicht nutzt, werden die oben schwerpunktmäßig genannten Aspekte
dauerhaft ihre starken Auswirkungen auf die Tagesordnung und die Zukunft
der Türkei zeigen. Die Bedeutung des Prozesses ergibt sich aus dem
Zusammenhang mit diesen Problemen. Das sind die Wahrheiten, über
die viele Menschen schweigen, obwohl sie sie ahnen.
Diese zentralen Punkte legen offen dar, warum wir diesen Zustand des Konfliktes
und der Ausweglosigkeit nicht weiterführen können. Das führt
uns nämlich in einen Sumpf, aus dem man nicht herauskommt, sondern
bei jeder Bewegung weiter versinkt. Das ist die Eigenschaft der Ausweglosigkeit.
In einer solchen Situation hat es keine Bedeutung, ob man siegt oder verliert.
In diesem Sinne ist es wichtig, die legitimen Forderungen des Aufstands
zu berücksichtigen und zusehends die mit Gefahren verbundenen Aspekte
zu unterbinden. Die gegenseitigen, falschen und übertriebenen, wiederholten
Einstellungen dürfen keineswegs mehr fortgesetzt werden. Denn daraus
kann man nichts gewinnen. Durch die Feststellung, dass die realistischen
demokratischen und kulturellen Forderungen des Aufstands für das
gesamte Land gültig sind, können sie leicht erfüllt werden.
In dieser Hinsicht ist es ein Problem, dessen praktische Lösung am
leichtesten ist. Es ist nicht Palästina, Kosovo oder Irland.
Wenn sie aus dieser Perspektive betrachtet wird, bietet die Gerichtsverhandlung
auf Imrali eine wahre und historische Gelegenheit. Wir sollten diese Gelegenheit
ergreifen, damit wir wenigstens das erfahrene Leid und die erlittenen
Verluste nicht noch einmal erleben bzw. hinnehmen. Die Zukunft kann keine
größeren Krisen und Dunkelheiten ertragen. Ich muss betonen,
dass es möglich und unsere einzige Alternative ist, sich anhand der
gezogenen Lehren positiv der Zukunft zuzuwenden und die zu dem Nachteil
führenden Hauptgründe in Gründe zu verwandeln, die Gewinn
bringen.
*Volksaufstände
**Oberhaupt
der Tscherkessen - ließ 1923 den aus der Sowjetunion zurückkehrenden
Vorsitzenden der Türkischen Kommunistischen Partei, Mustafa Suphi,
und weitere Genossen aus dem Zentralkomitee ermorden.
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