Schlussfolgerung:
Der Entwicklungsprozess von Imrali kann ein historischer Neuanfang werden
Der
Prozessverlauf auf Imrali kann, wie in Grundzügen dargelegt, in Bezug
auf den Beginn einer neuen Phase als historische Chance bewertet werden.
Jede Gesellschaftsordnung in der Geschichte ging aus einem wichtigen Konflikt
hervor. Ich bin davon überzeugt, dass das Ergebnis dieses Konfliktes
und Aufstands die demokratische Gesellschaftsordnung der Zukunft sein
wird. Es ist unausweichlich, dass das Beharren auf Konflikt und Ausweglosigkeit
die negativen geschichtlichen Entwicklungen vertiefen wird, und dass eine
positive und auf eine Lösung hin orientierte Haltung die Auseinandersetzung
beenden und damit zu einer Situation des dauerhaften Friedens und der
Brüderlichkeit führen wird. Aus diesem Grund hat es eine große
Bedeutung, dass wir unser Leid und unsere Verluste nicht zu einem Mittel
der Rache, sondern zum Anlass für eine Lösung und einen Frieden
nehmen. Wir sollten überlegt und logisch handeln und somit unsere
Verluste und Gewinne richtig bewerten. Wenn wichtige gesellschaftliche
Probleme nicht gelöst werden, dann führen diese stets zu Leid
und Verlusten. Wenn wir uns die Ereignisse in der Geschichte und in der
Gegenwart vor Augen führen, werden wir viele schwerwiegende Beispiele
dafür finden.
Es ist notwendig und möglich, diesem letzten Aufstand, der unter
der Führung der PKK geführt wurde, diesem Konflikt ein tatsächliches
Ende zu bereiten. Das muss im Lichte der richtigen Bewertung
der Aufstände, die aus einem langen historischen Prozess resultieren
und wichtige gesellschaftliche Ursachen haben, sowie den daraus zu ziehenden
Lehren geschehen. In meiner Verteidigung habe ich versucht, die Argumente
im Wesentlichen darzulegen. Ich muss auf jeden Fall betonen, dass ich
- auch wenn Defizite und Fehler vorhanden sein könnten - den richtigen
Weg gezeigt habe. Davon bin ich genauso überzeugt, wie ich entschlossen
und aufrichtig bin. Der wissenschaftliche und demokratische Inhalt meiner
Herangehensweise ist unumstritten. Es soll nicht als ein Zeichen der Ausweglosigkeit
oder Schwäche gewertet werden, dass ich meine Verteidigung nicht
nach den Gesetzen, sondern nach dem Aspekt der ethischen und politisch
demokratischen Werte und einer diesbezüglichen Lösung ausgerichtet
habe. Es soll als ein Meilenstein in der historischen Entwicklung angesehen
werden. Es soll auch als Resultat unserer großen Erfahrung bewertet
werden, dass eine andere Haltung die Ausweglosigkeit nur verschärfen
würde.
Was ich ab jetzt in meinem Leben machen kann, ist, mit dem starken und
treuen Volk zusammen einen neuen Prozess des Friedens und der Brüderlichkeit
zu schaffen. Es ist von historischer Bedeutung, unser entschlossenes Versprechen
für eine Demokratische Republik in diesem Sinne zu bewerten. Ich
werde zweifelsohne die Erfordernisse hierfür erfüllen, soweit
ich die Gelegenheit dazu finde. Die Glaubwürdigkeit meiner Worte
wird sich nur dadurch zeigen, dass sie in der Praxis bewiesen wird.
In dieser Hinsicht spielt die Sensibilität des Staates ohne Zweifel
die entscheidende Rolle. Ich halte die Erklärung der Abteilung für
Terror- und Nachrichtendienst des Generaldirektoriats der Polizei nach
dem ersten Tag der Verhandlung für wichtig. Sie erschien am 2. Juni
1999 in der Zeitung Cumhuriyet wie folgt: Es sind keine
Zugeständnisse an die PKK, wenn man einige Schritte zur Lösung
des Südost-Problems macht. Die Öffentlichkeit muss darauf vorbereitet
werden. Hierbei stehen die Medien vor großen Aufgaben. Es sind schon
große Entwicklungen, wenn der Staat einen positiven Schritt unternimmt
und dadurch die Vorfälle um fünfzig Prozent zurückgehen
(...) Der Staat geht an das Problem nicht mit Rache- und feudalen Gefühlen
heran, sondern wissenschaftlich. Wenn eine endgültige Lösung
des Problems möglich erscheint, dann nimmt der Staat keine Trotzhaltung
ein. Er wird nach den Resultaten aus diesem Prozess einige demokratische
und kulturelle Schritte einleiten und damit diese Sache beenden. Das türkische
Volk hat keine Tragkraft mehr, weiterhin mit dem Terror zu leben.
Hier sind wir mit einem besonderen Beispiel eines verantwortungsbewussten
und sensiblen Staates konfrontiert. Wenn diese Haltung in die Praxis umgesetzt
wird, kommt es dadurch zu den erwünschten Entwicklungen. Der einseitige
Waffenstillstand vom 1. September 1998 hat die Zusammenstöße
nicht nur auf fünfzig Prozent, sondern um viel mehr gesenkt, weshalb
wir in dem Entwicklungsprozess von Imrali ausdrücklich darauf eingingen.
Zu dieser Entwicklung kam es nicht von selbst oder aufgrund der Schwäche.
Dies konnte nur durch eine verantwortungsbewusste Haltung, die Erfordernisse
des Beginns eines neuen Prozesses sowie durch die Sensibilität des
Staates und unsere Erwiderung im Rahmen unserer Möglichkeiten verwirklicht
werden. Ab jetzt ist es nötig, dass diese Schritte, wie in der erwähnten
Erklärung zum Ausdruck gebracht, eingeleitet werden, dass die PKK
ihren bewaffneten Kampf beendet und diesem Fall ein Ende gesetzt wird.
Ich möchte anmerken, dass ich davon überzeugt bin, dass ich
durch den Gebrauch meines moralischen Einflusses meine diesbezügliche
Rolle erfolgreich spielen werde. Tatsächlich ist die Tragkraft unseres
Volkes erschöpft.
Der Weg zur Lösung unserer Probleme geht nun über die Entwicklung
des demokratischen Systems und der Festlegung seiner Grundlagen. In diesem
Punkt lässt die Rede des Vorsitzenden des Verfassungsgerichtes anlässlich
des 37. Jahrestages auf einiges hoffen und zeigt in die richtige Richtung.
Daraus einige Zitate:
In
der Republik der Türkei, die einen auf Menschenrechte achtenden,
demokratischen, laizistischen und sozialen Rechtsstaat darstellt, müssen
die Menschenrechte und -freiheiten im Einklang mit zivilisierten und internationalen
Maßstäben geschützt und entwickelt werden.
Eine weitere Einschränkung in der freien Meinungsäußerung
hängt mit der Frage der Sprache zusammen. Im Paragraf 26, Absatz
3 heißt es: Eine Sprache, die nach Gesetz verboten ist, kann
bei der Meinungsäußerung und -verbreitung der Meinung nicht
ausgeübt werden. In der Europäischen Menschenrechtskonvention
gibt es jedoch keine einschränkende Regelung in Bezug auf die Nichtausübung
einer Sprache bei der Meinungsäußerung und -verbreitung.
Die Bemühungen, die in der Verfassung und in den Gesetzen verankerten
Einschränkungen und Verbote aufzuheben und bezüglich der Menschenrechte
das Niveau in den zivilisierten Demokratien zu erreichen, gehen weiter.
Unsere Medien, zivile Gesellschaftsorganisationen und Wissenschaftler
bringen Vorschläge dahingehend ein, in der Verfassung den Aspekt
der Freiheit der Meinungsäußerung auszudehnen. Somit hoffen
wir, dass durch die Meinungsbildung in der Politik und in der Öffentlichkeit
eine Änderung der Verfassung verwirklicht werden kann. Das die Menschenrechte
betreffende Rechtssystem, welches als Maßstab für den Grad
der Zivilisation gesetzt und verstanden wird und international eine große
Verbreitung gefunden hat, muss in unseren Gesetzen umgesetzt werden. Aufgrund
der internationalen Abkommen müssen unsere Verfassung und Gesetzgebung
überprüft werden und die in diesen Abkommen vorgesehenen internationalen
Standards in unser Rechtssystem übernommen werden.
Diese Zeilen deuten auf die Grundlagen der demokratischen und kulturellen
Rechte hin und zeigen einen Lösungsweg. Das ist die eingeschlagene
Richtung, und sie ist auch eine Notwendigkeit für eine zeitgenössische
und demokratische Zivilisation, die früher oder später entwickelt
wird. Die Demokratische Republik der Türkei und ihre demokratische
Verfassung werden der konkrete Ausdruck hierfür sein.
Auch wenn ich nach Paragraf 125 des Strafgesetzbuches verurteilt werde,
betone ich meine Überzeugung, dass ich in ethischer und politischer
Hinsicht von der Geschichte freigesprochen werde. Ich begrüße
und halte es für eine ehrenvolle und tugendhafte Aufgabe, mich für
einen stolzen und gerechten Frieden in den Dienst der Demokratischen Republik
zu stellen.
Hochachtungsvoll
ABDULLAH
ÖCALAN
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