Eine Wende im demokratischen Lösungsprozess

Einleitung

Meine Verteidigung enthält in erster Linie keine detaillierte Antwort auf die Anklageschrift des Hauptstaatsanwaltes der Republik, sondern eine Bewertung des letzten Aufstands der Kurden unter Führung der PKK und die Möglichkeiten einer historischen Versöhnung und Lösung der Kurdenfrage. Das halte ich für viel wichtiger als meine persönliche Verteidigung. Ich habe versucht, die Friedenschancen in diesem bewaffneten Konflikt zu zeigen, der als ein Krieg von mittlerer Größenordnung betrachtet werden kann.
Diese Ansicht habe ich zum ersten Mal in der Ära des Staatspräsidenten Turgut Özal formuliert. Auf der Pressekonferenz vom 15. März 1993 hatte ich erklärt: Unsere Haltung besteht nicht darin, dass wir uns sofort von der Türkei trennen wollen. In dieser Hinsicht sind wir Realisten. Das darf nicht einfach als bloße Taktik aufgefasst werden. Es gibt zahlreiche Gründe hierfür. Wer die Geschichte sowie die politische und ökonomische Lage unserer beiden Völker kennt, weiß, dass es keine Trennung geben wird. Beide Völker sind eng miteinander verbunden. Wie ich in vielen Interviews erklärt habe, streben wir eine Neugestaltung der Beziehungen an.
Es herrschen jahrtausendealte Beziehungen und jahrtausendealte Widersprüche, die sich zu einem gordischen Knoten verknüpft haben. Unsere Grundauffassung ist, dass diese Beziehungen auf einer freien und gleichberechtigten Basis neu gestaltet werden müssen. Ständig werden wir “Separatisten” genannt; doch genau diese Haltung fördert den Separatismus.
Unsere gegenwärtigen Beziehungen lassen sowohl das kurdische als auch das türkische Volk ausbluten und zerstören ihre Lebensgrundlagen.
Bevor mich internationale Mächte durch ein Komplott in die Türkei entführten, sagte ich anlässlich des einseitigen Waffenstillstands vom 1. September 1998 deutlich: Krieg ist ein Wahnsinn, wenn er nicht aus einem sehr wichtigen Widerspruch entsteht. Vor allem dürfen blinder Terror und Gewalt nie einen Platz unter den Menschen erhalten. Wenn die massive Gewalt, der wir ausgesetzt sind, verringert oder beendet würde, wenn die Menschenrechte und die Entwicklung der Demokratie die Beziehungen bestimmen würden und zur Lösung des Konfliktes der politische Dialog gesucht würde, dann - so denke ich - gibt es kein Volk und keine Partei, die sich mehr nach friedlichen Methoden sehnt als wir.
Ich habe weiter ausgeführt: Das Hauptproblem der Türkei besteht zur Zeit darin, dass die Demokratie vor demagogischem Missbrauch bewahrt werden muss, damit sie sich wieder am Volk orientiert, wie es ihrem ursprünglichen Sinn entspricht.
Das bedeutet nicht, die Republik zu verunglimpfen. Auf keinen Fall bedeutet es, sie zu spalten oder zu teilen. Es bedeutet die Demokratisierung der Republik. Sie liegt im Interesse der Türkei. Das bedeutet auch, dass die völlig erschöpfte Türkei beginnen kann, Atem zu holen. Diejenigen, die für die Republik Verantwortung tragen, müssen vor allem den Mangel an Demokratie in den Mittelpunkt stellen.
Über die Gewalt sagte ich Folgendes:
Wir sind diejenigen, die am meisten unter der Anwendung von Gewalt gelitten haben. Wer darf uns tadeln, dass wir in einer Situation unendlich ungleicher Machtverteilung die Selbstverteidigung wählten, um unsere legitimen Menschenrechte und unsere Identität und Kultur zu bewahren und um uns vor der Vernichtung zu retten. Wir haben nur ein Grundrecht in Anspruch genommen, das in der Deklaration der Vereinten Nationen und auch in der Verfassung der Türkischen Republik enthalten ist.
Ich habe diese Zitate aus folgendem Grund gewählt: Einige Leute könnten fälschlicherweise behaupten, dass ich diese Ansicht unter den schwierigen Bedingungen der Einzelhaft entwickelt hätte. Auch die Anklageschrift erzeugt den Eindruck, dass diese Ansichten, die ich bei früheren Vernehmungen vertreten habe, keine große Bedeutung hätten. Aber alle meine Erklärungen zeigen das Bedürfnis, die ideologischen Standpunkte der 70er-Jahre und die von ihnen geprägten Programme der PKK zu überwinden und die politischen Strukturen der heutigen Welt und der Türkei der 90er-Jahre zu verändern. Sie betonen nachdrücklich, dass die Prinzipien und Programme vor dem Hintergrund dieses großen Experiments überprüft und revidiert werden müssen. Meine Haltung dazu wird sich in diesen Jahren weiter entwickeln.
Dasselbe gilt für mein Verständnis von Gewalt. Im Sinne der Verteidigung der Menschenrechte, der Identität und der kulturellen Existenz ist Gewaltanwendung nicht abzulehnen. Es ist allgemein bekannt, dass innerhalb der Organisation ein intensiver Kampf gegen alle Formen von Gewalt geführt wurde, die über diesen Rahmen hinausgehen.
Die Anklageschrift differenziert in dieser Frage überhaupt nicht. Außerdem ist es nicht objektiv, alles als “Terror” zu bezeichnen und die gesamte Schuld einer Seite zuzuschreiben. Ich habe es nicht für notwendig gehalten, diese Punkte ausführlich zu kritisieren und mich dagegen zu verteidigen. Vielleicht werden meine Rechtsanwälte auf diese Fragen in ihren juristischen Plädoyers genauer eingehen.
Wie immer man es nennen will, mit Namen, Ursprung und Zielen - für mich ist die wichtigste Aufgabe, die Notwendigkeit des Friedens für jene umfangreiche bewaffnete Auseinandersetzung aufzuzeigen, die offiziell als “Krieg niederer Intensität” bezeichnet wird. Das Prinzip “jeder Krieg hat einen entsprechenden Frieden” und die Suche nach einer konstruktiven Lösung ist das Hauptziel meiner Verteidigung geworden. Es ist von großer Bedeutung, die Vergangenheit zu beurteilen, die Programme und die politische Linie der Realität anzupassen, um eine Lösung zu fördern. Genau das wurde von mir erwartet. Die Umwandlung in eine Plattform für den Frieden ist der beste Weg, um das fortzusetzen, worum ich mich vor meiner Entführung bemüht habe.
Im Allgemeinen bewegen sich PKK-Verteidigungen zwischen zwei Extremen: Entweder die hartnäckige Verteidigung der klassischen Linie oder ihre Preisgabe. Beides versperrt den Weg zu einer Lösung. Bei meiner Verteidigung habe ich es mir zur Pflicht gemacht, diese Linien zu überwinden.
In meiner Verteidigung vertrete ich weder den klassischen kurdischen Nationalismus noch dessen linke Version, die von der gleichen Tendenz geprägt ist. Die jetzige Periode hat diese Tendenzen überwunden. Ich habe es nicht für nötig erachtet, lange Diskussionen über Geschichte, Gesellschaft und Identität zu führen. Es ist besser, diese Themen der Wissenschaft und den Wissenschaftlern zu überlassen. Politische Hintergründe hat das Auslassen dieser Themen nicht. Aber davon abgesehen haben wir zu diesen Fragen schon viele Einschätzungen gegeben. Dies gilt auch für die politische Kritik der Türkei. Viel diskutierte Themen zu wiederholen schien mir nicht so kreativ. Dies gilt auch für die Programme der PKK, die Organisation und die Art ihrer Aktivitäten. Anstatt mich mit den Themen zu befassen, zu denen ich mich früher schon geäußert habe, fand ich es wichtiger zu erklären, welche Art von Änderung notwendig ist, um das heutige Bedürfnis nach einer friedlichen Lösung zu befriedigen. Parteien sind nur Mittel zum Zweck. Wenn sie sich nicht den Bedürfnissen der Zeit anpassen können, werden sie ein Hindernis und können nicht verhindern, dass sie überwunden oder vernichtet werden. Eine unproduktive Wiederholung, und mag sie noch so heldenhaft sein, kann nicht viel zum Freiheitsideal beitragen.
Bei meiner Verteidigung habe ich mich weniger darum gesorgt, mich im juristischen Sinne zu verteidigen. Meiner Meinung nach ist es in einer Periode, wo der Staat sogar die existierende Verfassung nicht anwendet und außerdem auf der Ablehnung der kurdischen Identität besteht, viel wichtiger, die ethische und politische Notwendigkeit des Widerstands zu betonen. Dies wird vielleicht keinen Einfluss auf das Urteil haben. Es wird jedoch den künftigen Generationen ein wertvolles Erbe für die Lösung der Probleme hinterlassen. Darum habe ich mich stets bemüht.
Ich habe diese Themen als Thesen dargelegt, ohne mich um die einzelnen Details zu kümmern. Unter den aktuellen Bedingungen sah ich hierfür keine Notwendigkeit, ohnehin gab es dazu kaum die Möglichkeit.
Der Inhalt meiner Verteidigung konzentriert sich auf die Konzeption der “demokratischen Lösung”, auch wenn dies Wiederholungen beinhaltet. Ich habe diese Konzeption, die ich früher nur kursorisch behandelt habe, genau und in Einzelheiten erörtert. Das Buch “Die demokratische Zivilisation” von Leslie Lipson, das ich zufällig gefunden habe, hat auch dazu beigetragen. Das “Selbstbestimmungsrecht der Nationen”, welches in den 70er-Jahren im Schwange war und ausschließlich im Sinne der Gründung eines eigenständigen Staates definiert wurde, stellte in dieser Form wirklich eine Sackgasse dar.
Im Falle Kurdistans hat es eine Lösung erschwert. Ich persönlich versuchte, dies in der oben genannten Form zu überwinden. Ich sah in der Praxis, wie überholt und teilweise destruktiv solche Alternativen wie separater Staat, Föderation, Autonomie und ähnliche Wege im Vergleich zum Reichtum einer demokratischen Lösung sind. Deshalb schien es mir sehr wichtig, mich auf das demokratische System zu konzentrieren. Dabei spielte eine große Rolle, dass der militärische und bewaffnete Weg allmählich in eine Sackgasse geriet. Da der Zyklus von Rebellion und Unterdrückung typisch für traditionelle Aufstände ist, wurde dringend eine Methode gesucht, die nicht auf Zwang und Gewalt beruht - eine Methode, die nicht nur für die kurdische Bewegung, sondern überall in der Welt benötigt wird.
Die Besonderheit der türkisch-kurdischen Beziehungen, die Realität des Nationalpaktes* und der politischen und militärischen Situation ließen kaum einen anderen Weg zu, als in einem demokratischen System eine historische Lösung zu suchen. Die tiefe Sehnsucht nach Frieden, die auf beiden Seiten besteht, ist die Grundlage unseres Angebotes. In der Welt gibt es eine großartige Vielfalt von Beispielen, wie sehr der demokratische Weg zur Lösung militärischen Lösungen und auch den alten politischen Methoden überlegen ist.
Dieses Angebot mildert das grundlegende Problem der Türkei. Es wirkt in der historischen Etappe der allgemeinen Demokratisierung wie ein Heilmittel.
Außerdem bewegte sich der Staat in eben diese Richtung, indem er indirekt und allmählich eine Politik und Programme gestaltete, die auch bei uns ihren Niederschlag fanden. Daher habe ich nicht gezögert, dieses Thema optimistisch anzugehen und das Notwendige in der Praxis mit ganzer Kraft umzusetzen. Es wäre reichlich optimistisch und auch gefährlich, wenn ich behaupten würde: “Die beiden Seiten erreichen eine Vereinbarung.” Aber ich bin fest überzeugt und habe den Eindruck, dass früher oder später dies der geeignete Weg ist, um die Probleme zwischen allen anderen zu lösen.
Der letzte Abschnitt handelt von meiner persönlichen Situation. Vielleicht war dies nicht nötig. Ich habe es als Ergänzung für notwendig erachtet. Denn: Ich habe es mir zur Methode gemacht, die Suche nach der großen Freiheit an Hand meiner eigenen Person zu analysieren. Es wurde von mir erwartet, dies auch hier zu versuchen. Eine entsprechende Antwort auf die Anklageschrift könnte aufklärend wirken.
Folgendes habe ich festgestellt: Mein Leben ist von der Parole geprägt: “Gebt mir meine Freiheit oder tötet mich.” Eine andere Position ist für mich undenkbar. Aber ihren Inhalt offenzulegen, ihre Feinheiten auszuführen war ziemlich lehrreich für mich. Meine größte Angst ist zur Zeit, diese humanitäre Aufgabe nicht vollenden zu können. Deshalb ist meine größte Erwartung, die ich an das Leben richte, dass ich meine Persönlichkeit weiter entwickeln kann; dass ich mich von einem Rebellen für die Freiheit zu einem Kämpfer für den Frieden und die Freiheit entwickle. Um den Charakter eines Mannes des Friedens und einer Gesellschaft des Friedens zu analysieren, sind weit größere theoretische Bemühungen notwendig, als man sich vorstellt. Sie erfordern sowohl politische, soziale als auch detaillierte psychologische Analysen. Bei der politischen Arbeit habe ich einen starken Mangel daran empfunden.
Wie ich bereits erwähnt habe, ist ein Krieg oder jede Gewalt, die keinen edlen, heiligen und wirklich notwendigen Frieden zum Ziel hat, Wahnsinn. In Übereinstimmung mit diesem Prinzip war es wichtig, gründlich zu erläutern, wie die theoretischen, aber auch die moralischen, politischen und praxisbezogenen Seiten einer Persönlichkeit, die sich dem Frieden gewidmet hat, auszusehen haben.
Mit diesen Merkmalen legt meine Verteidigung auf bemerkenswerte und kreative Weise die momentan stattfindende, tiefgreifende demokratische Bewegung der Türkei dar und zeigt auf, dass diese die Form einer grundlegenden Eigenschaft der Republik annimmt und in dieser historischen Phase bezüglich der kurdischen Frage mit deren Geist, Bewusstsein und Willen zur demokratischen Einheit mit der Republik ein Ganzes wird.
Gleichzeitig betont meine Verteidigung die Notwendigkeit einer entsprechenden Wandlung unserer Organisation und unseres Volkes. Meine Verteidigung glaubt, dass anstelle des inzwischen klassischen Zyklus des Tötens und Getötetwerdens das Leben und Lebenlassen unseren modernen Zeiten besser entspricht. Meine Verteidigung endet mit der Hoffnung auf ein 21. Jahrhundert, das eine neue historische Etappe verkörpert. In ihr stellt die Demokratische Republik und die demokratische Einheit eine ungleich stärkere Kraft der Konfliktbewältigung dar; stärker als die nahezu zwei Jahrhunderte alte Tradition von Revolten und Aufständen sowie der Unterdrückung und Verleugnung eines Volkes.



*Der “Nationalpakt”, im Türkischen “Misak-i Milli”, in dem die Unabhängigkeit der Gebiete mit “türkischer Bevölkerungsmehrheit” festgelegt wurde (siehe Glossar)