Die Tagesordnung in der Türkei:

Staat und gesellschaftliche Demokratie

Ohne die türkische Gesellschaft und ihre jüngere Geschichte vor dem Hintergrund demokratischer Theorien zu analysieren, können die Lösungspakete für eine Demokratie, die in der letzten Zeit häufig auf die Tagesordnung gebracht werden, nicht verstanden werden. Sonst würden die Probleme noch komplizierter statt durchschaubarer.
Folgende Faktoren führten zum Zusammenbruch des Osmanischen Reiches: Es konnte sich nicht zu einer Macht in der Art Großbritanniens oder Russlands entwickeln; es erlaubte keine demokratische Entwicklung seiner Strukturen; die Macht des Sultans konnte nicht von den Feudalherren und Fürsten im Sinne des Fortschritts eingeschränkt werden; die schwachen Versuche von Tanzimat* und Mesrutiyet** waren von prinzipienlosem und putschistischem Charakter und deshalb nur von kurzer Lebensdauer.
In derselben Epoche erlebte die Demokratie große Entwicklungen in allen europäischen Staaten und in deren gesellschaftlichen und politischen Philosophien. Es waren die demokratischen Bewegungen, welche die großen Strömungen bildeten. Dagegen bemühten sich die Jungtürken und später auch die Intellektuellen von Mesrutiyet, gegen den Strom zu schwimmen, indem sie den antidemokratischen Osmanismus, Panislamismus und Turanismus unterstützten.
Die Republik wurde nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches am Ende des Ersten Weltkriegs gegründet. Ihre Entstehung hängt eng zusammen mit der praktischen Führung und der realistischen politischen Auffassung des Mustafa Kemal. Auch wenn er keine philosophische und ideologische Tiefe hatte, hat er jedoch durch seine im Krieg ausgeprägte Persönlichkeit, seine hohe Sensibilität und Initiative erkannt, was zur Gründung der Republik in welchem Maße erforderlich und zu verwirklichen ist. Seine realistische Beurteilung Russlands, Englands und Deutschlands zeigt, dass seine Analyse des Gleichgewichts der außenpolitischen Kräfteverhältnisse zutreffend war und dass der Anteil dieser Analyse am Erfolg nicht unterschätzt werden darf. Dass er zwar sehr starke praktische Fertigkeiten hatte, jedoch keine tiefgreifenden theoretischen und politischen Lebenserfahrungen, hat die fortschrittliche Entwicklung der Republik, besonders in Bezug auf die Demokratie, tatsächlich eingeschränkt. Der autoritäre Charakter der Republik entwickelte sich in ihren Anfängen, als die sozialen Strukturen von demokratischen Strömungen weit entfernt waren, religiöse Rückständigkeit vorherrschte und viele Aufstände zugunsten des Sultanats die Republik bedrohten. Bei der Entstehung der autokratischen Republik spielten die Furcht vor Aufständen, die Einflüsse und der Druck, die vom sowjetischen Sozialismus und dessen autoritären Auffassungen ausgingen, und das aufsteigende totalitär-faschistische Regime eine Rolle. Starke demokratische Alternativen gab es kaum. Dennoch darf Mustafa Kemals Interesse an einem demokratischen System nicht unterschätzt werden, besonders beim Versuch der Gründung der Serbest Firka*** . Bei der Niederschlagung der kurdischen und der türkischen Aufstände überwog die Angst - Angst um den Erhalt der Republik und nicht um den Erhalt der Demokratie. Man kann über die Intensität der Gewaltanwendung diskutieren. Aber die Tatsache, dass diese Republik noch existiert, zeigt auch, dass die Gründung und Verteidigung der Republik selbst historische Schritte waren.
Mustafa Kemal hat keine demokratische Revolution durchgeführt. Aber es ist wichtig und steht außer Frage, dass die Republik mit ihrer Auffassung von “nationaler Souveränität” und den Reformen des Überbaus eine demokratische Basis geschaffen hat. Dass sie sich später nicht in Richtung Demokratie, sondern in Richtung Oligarchie entwickelte, stellt eine konservative Entwicklung der Republik dar.
Wir können feststellen, dass die Republik durch die “Demokratische Partei” einen oligarchischen Charakter angenommen hat. Die Landaristokratie, der Großgrundbesitz und die Kaufleute verstärkten ihren Einfluss auf den Staat. Eine Rückentwicklung gab es in Bezug auf ihre Position innerhalb der Bürokratie. Obwohl sich der Militärputsch vom 27. Mai 1960 hauptsächlich gegen die entwickelte Oligarchie richtete, führte er nur zu einer begrenzten Demokratie - auch im Rahmen der Verfassung. Denn der Militärputsch hatte keine Basis in der Bevölkerung und orientierte sich nicht an demokratischen Werten. Später beteiligten sich die industriellen Kreise an der Oligarchie und verbreiterten deren Basis. Gegen die Oligarchie, die ihren Ausdruck hauptsächlich in der “Gerechtigkeits-Partei” fand, bildete sich eine radikalere Opposition heraus. Sowohl die radikale Rechte als auch die Linke brachten die Oligarchie in Bedrängnis. Die Oligarchie benutzte die radikale Rechte bei der Beseitigung der Linken. Als sich die Auseinandersetzungen zuspitzten, versuchte die rechts gerichtete Armee, die radikale Rechte zu stärken und die Linkstendenzen des “27. Mai” zu isolieren. Bülent Ecevit, der in der “Republikanischen Volkspartei” aufstieg, konnte die Koalitionsregierungen der Nationalistischen Front nicht verhindern. Die schwere Wirtschaftskrise, die Zersetzung der Strukturen der Oligarchie und die Auseinandersetzungen zwischen Rechten und Linken, die außer Kontrolle gerieten, mündeten in den Militärputsch vom 12. September 1980. Hierbei spielte der Vorstoß der PKK-Bewegung, die aus der Realität der kurdischen Gesellschaft entstanden war, eine entscheidende Rolle. Die Reformen von Özal, insbesondere die Öffnung des Landes nach außen, wurden weiter vorangetrieben von der “Mutterlandspartei”. Sie verursachten spürbare Veränderungen. Der Zerfall in der klassischen Gesellschaft, im Staat und den ideologischen Strukturen und die erneute Suche nach einem neuen Gleichgewicht brachten einen intensiven Prozess hervor. Die zunehmenden Aktivitäten der PKK machten das kurdische Problem zum Problem des gesamten Systems.
Der Zusammenbruch des realexistierenden Sozialismus in der Welt, die allgemeine Auflösung und der Zerfallsprozess der autoritären und totalitären Regime in vielen Gebieten haben weltweit zum Sieg der Demokratie geführt. Nach der Beendigung des Zweiten Weltkrieges lösten sich die faschistischen Regime auf; nach dem Zusammenbruch des realexistierenden Sozialismus in den 90er-Jahren hat sich das demokratische System weiter ausgebreitet und auf die Türkei wie auch auf die ganze Welt eingewirkt. Ein anderer wichtiger Faktor war zweifellos, dass sich die kurdische Bewegung zu einer Volksbewegung entwickelte. Die Demonstrationen des kurdischen Volkes haben in den 90er-Jahren fast eine demokratische Revolution hervorgebracht. Als diese äußeren und inneren Entwicklungen, begleitet von der Liberalisierung der Wirtschaft, zusammentrafen, hat die Türkei, wahrscheinlich unbewusst, ihre wichtigste demokratische Phase eingeleitet. Wenn die Linke in der Türkei diesen Prozess gründlich untersucht und als Partei an ihm teilgenommen hätte, hätte der historische Versuch der Türkei, eine Demokratische Republik zu schaffen, glücken können. Besonders durch die Initiative des Waffenstillstands von 1993 hätte der Guerillakrieg beendet und der Weg zur politischen Demokratie eingeschlagen werden können. Leider hat die Regierung des Spezialkrieges unter Çiller-Karayalçin von 1993-1996 diese positive Entwicklung verhindert, indem sie den Staat zur Aufstellung von irregulären Truppen und Banden drängte. Der schmutzige Krieg, die illegalen Geschäfte und die extreme Dekadenz der Gesellschaft bilden die Basis für die Fortsetzung der militärischen Operationen, die von 1995 bis heute andauern. Bei diesem Prozess war die Rolle der “Wohlfahrts-Partei” wichtig, die von diesem Vakuum profitierte und die Religion auf ihre ideologische Fahne schrieb. Diese Entwicklung, die sich außerhalb des klassischen Verständnisses von Militärputschen abspielte und vielleicht das erste Beispiel dieser Art ist, wird immer noch nicht genau verstanden.Der seit 1996 andauernde inoffizielle Dialog des Militärs mit der PKK ist als indirekter Versuch anzusehen, den Staat und die Gesellschaft zu einem kontrollierten demokratischen Prozess zu führen. Wenn mit der PKK die kurdische Gesellschaft ihren legitimen Platz in der Demokratie einnimmt, wird auch die demokratische Qualität der Republik gesichert sein.



* vom Sultan eingeleitete Reformpolitik 1839
**konstitutionelle Monarchie in der Periode 1876-1908 bzw. 1908-1918
***Freie Republikanische Partei (SCF), siehe Glossar