Die Tagesordnung der Türkei ab dem Jahr 2000

Die Entwicklung der modernen Geschichte der letzten 150 Jahre bis heute, die wir aus demokratischer Sicht in allgemeinen Zügen dargestellt haben, zeigt den Siegeszug der Demokratie. Der Prozess der Demokratisierung könnte erfolgreich verlaufen, wenn ernste Fehler vermieden werden, vor allem bei der demokratischen Lösung der kurdischen Frage, wenn es der türkischen Linken gelingt, sich in legale Parteien zu transformieren, und wenn der Islam demokratische Ideale für sich akzeptiert.
Das Demokratieverständnis derjenigen, die dieser Entwicklung mit einer opportunistischen, engstirnigen und egoistischen Haltung begegnen, kann nichts anderes als demagogisch sein. Man muss begreifen, dass die Türkei durch eine sehr wichtige Etappe geht, die sich qualitativ unterscheidet. Weil die jüngste Geschichte das einst zentralisierte, feudalistische Erbe als Grundsatz anerkannte, und das beinhaltet die Abwehr der Demokratie, und weil die Demokratie durch die intensive Gewalt von Putschen und Gegenputschen, Revolutionen und Konterrevolutionen auf den Kopf gestellt wurde, ist sie in einer Sackgasse stecken geblieben. Die Hauptprobleme der heutigen Gesellschaft bestehen darin, dass die demokratische Öffnung abgelehnt wird, dass die Staatsregierung Zweifel an der Demokratie hat, dass die Intellektuellen dem Kampf um demokratische Werte fern bleiben.
Es hätte nicht das Schicksal der Türkei sein müssen, dass die Probleme des Regimes durch diese Ausweglosigkeit noch komplizierter werden, dass die unfruchtbaren Streitigkeiten zwischen rechts und links und die Putsche eine so schwierige Situation geschaffen haben. Bestimmt hätte die Republik einen leichteren Weg der Demokratisierung finden können. Der Prozess der Demokratisierung ist in der Türkei wirklich kompliziert, wie es in vielen anderen Ländern auch zu sehen ist. Dass die Türkei von der Demokratie nicht überzeugt ist, sich nicht um sie bemühte und eine demagogische Haltung einnahm, hat ihr sehr geschadet. Im Namen der Demokratie regiert die Demagogie. Das heißt: Die eigenen Interessen wurden mit dem Geschwätz über Demokratie verschleiert und dann durchgesetzt; so wurde mit der Demokratie ein schmutziges Spiel getrieben.
Die Etappe, die wir jetzt durchlaufen, wird entweder eine dauerhafte historische Phase einleiten, gekennzeichnet durch die Demokratische Republik, ihre gesellschaftlichen Grundlagen, Institutionen, Regierung und demokratischen Ideale, oder sie führt zur Wiederholung dessen, was heute existiert. Dann bleibt jedoch nicht einmal Raum für Demagogie. Die Gesellschaft ist tatsächlich reif für die Demokratie und ihr System der friedlichen Lösung von Problemen. Die Parteien haben eine ganze Reihe von Lektionen erhalten. Die unbrauchbaren und unproduktiven Institutionen sind inzwischen bekannt. Regierungen, die sich um die Lösung von Problemen kümmern, können der Unterstützung durch die Bevölkerung sicher sein. Das Militär, das von allen Institutionen am besten vorbereitet ist, will zwar eine Entwicklung in Richtung Demokratie, ist aber gleichzeitig nicht bereit, die Kontrolle abzugeben.
Die kurdische Frage als wichtigste Frage kann zu einem wirklich dauerhaften Sieg der Demokratie führen, wenn die Guerilla und die PKK durch eine angemessene Lösung in das demokratische System einbezogen werden. Die Integration des Islams in das System wurde durch die Wohlfahrtspartei* weitgehend gelöst.
Am Horizont erscheint folgendes Bild: Die mindestens seit 200 Jahren andauernden Bemühungen um die “Verwestlichung” haben zu einem Ergebnis geführt. Die Gewalt in der Gesellschaft und der Politik, die in den Bewegungen der letzten Jahrhunderte eine wichtige Rolle gespielt hat, wird nun endlich ihre Bedeutung verlieren und auf den Müllhaufen der Geschichte geworfen. Die Gewalt wird nicht nur überflüssig, sie wird durch das Desinteresse der Gesellschaft und durch die Unfähigkeit, Lösungen herbeizuführen, auch zunehmend nutzlos.
Mag auch die Bevölkerung in der Türkei diese Reife erreicht haben, die politischen Institutionen und Führungskräfte haben noch keine Fortschritte auf diesem Weg erzielt. Darin liegt das eigentliche Problem. Es gibt keine andere Alternative als die demokratische Lösung.
Die demokratische Lösung ist die einzige Alternative im Allgemeinen und auch bezüglich der kurdischen Frage. Abtrennung ist weder möglich noch notwendig. Die kurdischen Interessen zielen mit Sicherheit auf eine demokratische Union mit der ganzen Türkei. Wenn die demokratische Lösung voll verwirklicht würde, wäre dies ein erfolgreicheres und realistischeres Modell als die Autonomie und Föderation. Die Praxis weist in diese Richtung.
Wenn die Türkei ihr größtes Problem auf diese Weise lösen würde, verlöre die Gewalt, die Demonstration von Macht durch das Militär oder der religiöse Fanatismus, an Bedeutung - sei sie revolutionäre oder konterrevolutionäre Gewalt. Die westliche Art der Problemlösung wird sich schnell durchsetzen. Auf diese Weise können die ökonomischen Ressourcen entwickelt werden, ebenso das Bildungsniveau der Gesellschaft, die Verwaltungsstrukturen, die weder demagogisch noch oligarchisch sind, und die Verbundenheit mit wahren demokratischen Werten wie Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit wächst.
Mag es auch Annäherungen in den Diskussionen über die Zweite Republik geben, so glauben wir doch, dass die Demokratische Republik der bessere Weg ist. Die Regierung und die gesellschaftlichen Strukturen können vor dieser Form der Evolution nicht mehr ausweichen, das neue Jahrtausend erzwingt geradezu tagtäglich diese Evolution.
Die Geschichte gibt dieser Bewegung eine Chance. Es ist voraussehbar, dass derjenige, der dies richtig begreift und als Person, Partei oder gesellschaftliche Gruppierung eine entsprechende Haltung einnimmt, große Fortschritte machen wird. Dagegen ist es ein wirklich großer Mangel, dass es keine Führung gibt, die die Probleme, die auf der Tagesordnung stehen, erfolgreich lösen kann. Das Misstrauen, das abgehalfterte und wieder eingesetzte Politiker produziert haben, das mangelnde Verständnis der Rolle der Armee, die Schwäche einer evolutionären Führung und die Angst vor einer revolutionären Führung haben dazu geführt, dass sich gegenwärtig das demokratische System in einer Führungskrise befindet.



*Refah Partisi (PR), siehe Glossar