Transformationsprobleme
der PKK
Es
ist eine auffällige Tatsache, dass gegen Ende des 20. Jahrhunderts
die sozialen und politischen Systeme große Umwandlungen und Veränderungen
vollzogen haben und dass diejenigen, die sich dagegen wehren, keine großen
Erfolgschancen haben. Im Grunde genommen haben jene Systeme große
Schwierigkeiten, die keine Antworten auf die Suche von Individuen haben,
die als Ergebnis der wissenschaftlich-technischen Revolution frei geworden
sind. Auch wenn sie sich durch ständige Gegenmaßnahmen oder
durch Gewalt und Unterdrückung gegen diese Entwicklung stemmen, finden
diese Veränderungen mit einer unvergleichlichen Geschwindigkeit und
auf einem Niveau statt, die einmalig in der Geschichte sind. Man könnte
sagen, dass wir die sozialen und politischen Spiegelungen des Atom-Zeitalters
miterleben. Der Sozialismus, der zu Beginn dieses Jahrhunderts die höchste
Stufe der demokratischen Entwicklung und ihren fortschrittlichsten, egalitärsten
und freiheitlichsten Ausdruck repräsentierte, und der, beginnend
mit dem Aufstand in Russland, beachtlichen Druck auf den sich zum Weltsystem
entwickelnden Kapitalismus ausübte, ging an Kurzatmigkeit zugrunde.
Dies geschah natürlich deshalb, weil er - wie viele andere Systeme
auch - rigide war und keine Kanäle für Freiheit und Gleichheit,
die zu seinen Wesensmerkmalen gehören, innerhalb des Systems öffnen
konnte; und weil er darin versagte, der Bevölkerung diejenigen positiven
Entwicklungen sowohl im wirtschaftlichen als auch im politischen Bereich
zugänglich zu machen, welche sogar der Kapitalismus der Bevölkerung
gewährt. Damit brachte er seinen Untergang selbst hervor. Seine Erfahrung
als einem bestimmten Typ von intensivem Sektierertum, das sich sogar den
Religionen widersetzte, stellt einen weiteren Faktor dar. Das bedeutet
natürlich nicht, dass der Sozialismus kein positives Erbe hinterlassen
hat. Es steht außer Frage, dass die soziale und nationale Befreiung,
die unsere Epoche grundsätzlich geprägt hat, eine historische
Rolle bei der Entstehung von Klassen und Nationen gespielt hat, die sich
eines höheren Niveaus von Freiheit und Gleichberechtigung erfreuen.
Was der Kapitalismus in ein paar Jahrhunderten in begrenztem Maße
geschaffen hat, hat der Sozialismus in einem halben Jahrhundert übertroffen.
Es ist nicht gänzlich sein Fehler, dass er keine Alternative für
die weltweit vom Kapitalismus verursachten schweren Krisen anbieten konnte.
Weil der Sozialismus dafür verantwortlich gemacht wurde, musste er
entweder diese Krisen überwinden oder selber untergehen. Weil er
diese Krise nicht überwinden konnte, ging er unter. Dies ist eine
Entwicklung, die in der Geschichte oft vorkommt. Es steht außer
Zweifel, dass der Sozialismus aus seinen Wurzeln wieder erblühen
wird. Es ist unumgänglich, dass in Anbetracht der grundsätzlichen
Probleme der Menschheit der Sozialismus, das heißt: der wissenschaftliche
Sozialismus, als ein Ausdruck für wissenschaftliche Lösungen
der sozialen Realität, in einer reiferen Stufe wieder aufblühen
wird. Gegen die kapitalistische These der extremen Ungleichheit wird sich
eine Antithese entwickeln, insbesondere gegen den heutigen Kapitalismus,
der die gesellschaftlichen, geschichtlichen und Umweltprobleme nicht bewältigen
kann. Der Sozialismus, der ohnehin große experimentelle Erfahrungen
gesammelt hat, wird seine Kraft zur Erneuerung demonstrieren und eine
Synthese seiner bisherigen Errungenschaften mit zukünftigen Errungenschaften
herstellen. Er wird seine Effektivität beweisen, insbesondere in
den Bereichen Natur, Umwelt, Frauen, Kinder, Bevölkerung, Geschichte,
Kultur, ethnische und religiöse Minderheiten, der Lösung der
nationalen Frage sowie des sozialen Ungleichgewichts. Er wird dies durch
die Erneuerung seiner Theorie in Verbindung mit der richtigen Praxis erreichen.
Er wird seine Reifephase erlangen und sich selbst erneuern, indem er die
Demokratie um das bereichert, was zu seinem Untergang geführt hat;
also um all das, was auch im Kapitalismus den vorgenannten ethnischen
und kulturellen Gruppen von Nutzen ist, um ein möglichst breites
demokratisches System zu verwirklichen.
Wie der Kapitalismus die Errungenschaften des Sozialismus in seine Demokratie
integrierte, indem er sogar die Gründung kommunistischer Parteien
erlaubte und den Menschenrechten an den Wurzeln des Sozialismus mehr Aufmerksamkeit
schenkte als der Sozialismus selbst es tat und damit den Sozialismus überholte,
wird auch der neue Sozialismus alle Werte nicht nur des Kapitalismus sondern
auch der gesamten Menschheitsgeschichte in sich aufnehmen. Er wird sich
den Gefahren, vor denen die Menschheit steht, stellen und wird seine großen
Möglichkeiten bei der Entwicklung von Lösungen beweisen.
Diejenigen, die dieser evolutionären Gesetzmäßigkeit der
gesellschaftlichen Dialektik rechtzeitig entsprechen, werden die Entwicklungen
bestimmen können. Während diejenigen, die dazu nicht in der
Lage sind, nur großes Leid ertragen müssen und unter den Trümmern
sinnloser Verluste begraben werden. Im Kontext der sozialen Veränderungen,
mit denen wir auf intensive Weise konfrontiert sind, können wir täglich
beobachten, wie an irgendeiner Stelle der Welt dieses Gesetz wie in einem
Laborversuch umgesetzt wird. Hieraus keine Konsequenzen zu ziehen bedeutet,
entweder blind oder äußerst konservativ zu sein.
Obwohl es Entwicklungen und Umwandlungen in der Türkei das ganze
Jahrhundert über gegeben hat und obwohl die Türkei einer der
Brennpunkte war, wo diese allgemeinen Veränderungen auf intensive
Weise verliefen, ist es richtig zu sagen, dass im sozialen Sinne diese
Veränderungen in verstärktem Maße in den letzten dreißig
bis vierzig Jahren, der Zeit unserer Generation stattfanden. Diese Jahre
wurden insbesondere geprägt vom Sozialismus, der wie ein Stern glänzenden
Ideologie dieser Periode, und von rechtslastigen und religiösen Ideologien,
die gegen den Sozialismus gestellt wurden. Die Versuche, den Sozialismus
auf die Türkei zu übertragen, wurden auf noch eklektischere,
schablonenhaftere und schematischere Weise durchgeführt, als es beim
Kapitalismus der Fall war. Das gesellschaftliche Denken stand in der Türkei
auf einem niedrigen Entwicklungsstand und war dogmatisch. Man dachte,
um erfolgreich zu sein, würde es ausreichen, den Sozialismus schematisch
anzuwenden, anstatt die sozialen Charakteristika herauszufinden und zu
analysieren. Die Sozialisten waren Opfer von geistlosen Verallgemeinerungen
und einer schlampigen Praxis. Um Moslem zu werden, mag es ausreichen zu
sagen: Es gibt keinen Gott außer Allah, und Mohammed ist sein
Prophet. Eine solche Handlung kann im Kontext der Zeit von Bedeutung
sein, aber der Sozialismus in der Türkei hatte in den 70er-Jahren
noch stärker die Züge einer mechanischen Übung und war
noch verantwortungsloser. Die Sozialisten waren weit davon entfernt, eine
der Ernsthaftigkeit der Ideologie angemessene Haltung an den Tag zu legen.
Sie ähnelt sehr dem Zustand von Scheinheiligen, die einfach glauben
und diesen Glauben wieder ablegen, wenn er ihren Interessen widerspricht.
Nicht die sozialistische Ideologie war vorhanden, sondern deren heuchlerische,
nämlich falsche Version. Diese degenerierte Form war im Allgemeinen
vorherrschend. Sozialismus war auch eine modische Erscheinung. Im Überbau
setzte sich ebenfalls - der offiziellen Ideologie folgend - derselbe Stil
durch. Deshalb konnte das in dieser Epoche grundlegende Bedürfnis
nach Wandel, nämlich die sozialen Veränderungen, nicht realisiert
werden, stattdessen endeten sie im Chaos. Die historische Chance für
eine breite demokratische Bewegung, die eine große Resonanz hätte
finden können, wurde verpasst und extreme Gewalt rief eine massive
gesellschaftliche Reaktion hervor. Es war unvermeidlich, dass die klassische
Rechte und konservative Tendenzen an Stärke gewannen. Wieder einmal
wurde die Regel bestätigt: Wenn du nicht die richtige Lösung
anbietest, dann gehst du zugrunde. Die Linke, die für Wandel
eintrat, war unfähig, ihre leeren Parolen und ihre Demagogie zu überwinden.
Die Rechte war unfähig, Erneuerungen hervorzubringen. Durch die klassische
Ausgleichspolitik der Militärs wurden diese Jahre mit großem
Leid und nicht genutzten Entwicklungschancen vertan.
Obwohl die PKK in diesen bewegten Jahren im Strudel dieses Durcheinanders
geboren wurde, hatte sie keine große Mühe, die kurdische Problematik
als blutende Wunde der Türkei mit ihren offensichtlichen Widersprüchen
aufzugreifen und unter dem Eindruck der nationalen Frage, für die
weltweit eine Lösung heranreifte, die richtigen Lösungen anzubieten.
Deshalb hat die PKK sich auch sehr schnell entwickelt. Die Entwicklung
war nicht, wie manche behaupten, ein Ergebnis der Gewalt, sondern ein
Ergebnis der gesellschaftlichen Widersprüche, deren Produkt die Gewalt
war. Es ist mit dem Sprichwort zu vergleichen: Wenn du schüttelst,
fällt das reife Obst von selbst herunter. In dieser Phase war
der Glaube der Führung und die Beherrschung einiger Grundregeln für
den Anfang genug. Es war insbesondere leicht, ähnliche Gruppen hinter
sich zu lassen, offizielle und inoffizielle Barrieren zu überspringen
und mit den ersten Aktionen, die von der Organisation durchgeführt
wurden, ein aufrüttelndes Ergebnis zu erzielen.
Selbst eine amateurhafte Vorgehensweise war ausreichend. Um ähnliche
Gruppen, offizielle Ideologien und feudale Hürden zu überwinden,
war selbst ein Jahrzehnt zu viel. Als wir die 80er-Jahre erreichten, hatten
wir das System sowohl auf der feudal-regionalen Ebene als auch offiziell
auf der allgemeinen Ebene hinter uns gelassen. Es wurde deutlich, dass
uns das ideologische und politische System und seine Barrieren nicht mehr
abschrecken konnten. Das beruhte auf einer nicht tiefgründig angeeigneten
ideologischen Kraft des Sozialismus und einem kurdischen Bewusstsein von
Geschichte und Gesellschaft, das ebenfalls armselig und oberflächlich
war. In einem Wort: Es war ausreichend für eine dilettantische Bewegung.
So muss die Entwicklung bis in die 80er-Jahre im Wesentlichen charakterisiert
werden. Diese Entwicklung konnte nur von der Armee gestoppt werden. Und
das geschah auch. Allerdings gab es auch ein partielle Erwiderung in Gestalt
von Rückzugsgebieten auf der Achse im Mittleren Osten, wodurch diese
Situation zum Teil überwunden wurde.
Auf die gleiche Weise wurde auch die traditionelle Repressionsmethode
der Armee in den 90er-Jahren überwunden. Natürlich war dies
nicht die Niederlage der Armee. Es war nur ein eindrucksvolles Beispiel
dafür - vielleicht das erste in der Geschichte -, dass die klassischen
Repressionsmethoden der Armee überwunden werden können.
Die Antwort des Staates und der Armee auf diese Entwicklung war, diese
Angelegenheit, d.h. die kurdische Frage, offiziell auf der höchsten
Ebene anzuerkennen und sich mit einer begrenzten Lösung einverstanden
zu erklären. Das war tatsächlich eine historische Entwicklung.
Angesichts der türkischen Realität war das die einzige am Ende
erreichbare Lösung. Die kurdische Realität wurde endlich anerkannt,
jene Kurden, die - obwohl Hauptakteure bei der Gründung der Türkischen
Republik - vernachlässigt worden waren, die aufgrund von Aufständen
unter Druck gesetzt, verängstigt, daher unterentwickelt und ungebildet
waren und die man dazu verdammt hatte, unter einer deformierten und reaktionären
Form des Feudalismus zu leben. Bei seiner Amtsantrittsrede sagte Premierminister
Demirel in Diyarbakir: Wir erkennen die kurdische Realität an. Und
in einer noch umfassenderen Weise erklärte Präsident Özal
dieses Thema für alle offiziellen und inoffiziellen Kreise und Parteien
zum ersten Tagesordungspunkt.
Das ist ein Zeichen dafür, dass es die Chance für eine Lösung
gab. Aber niemand war wirklich darauf vorbereitet, und alle waren Amateure.
Es war ein schwerwiegendes Problem, doch die Anworten auf die Frage nach
einer Lösung waren oberflächlich. Das galt auch für die
PKK. Die begrenzte Feuerpause war zwar eine mutige Initiative, aber keine
der Parteien war darauf intensiv vorbereitet. Diese historische Chance
wurde vertan, weil in der PKK die klassische Aufstandsform und im Staat
starke Unterdrückungstendenzen vorherrschten. Natürlich darf
man auch nicht unterschätzen, welche Rolle in dieser Phase opportunistische
Politiker, Provokationen und der Einfluss ausländischer Mächte
gespielt haben.
In dieser Phase hat der Staat sein Erscheinungsbild in der Tat ernsthaft
verändert. Insbesondere der Zerfall der Sowjetunion und Veränderungen
der Türkei infolge des Golf-Krieges machten es zu einer Notwendigkeit,
eine Lösung der kurdischen Frage zu finden; und der Weg dorthin führt
durch eine verspätete, aber umfangreiche Demokratisierung. Hier begann
sich die PKK zu widersetzen, indem sie sich ständig wiederholte,
anstatt sich zu entwickeln. Die einzige Lösung schien in dieser Weigerung
zu liegen. Aber sie hätte aus dem Zerfall des Realsozialismus die
demokratische Lösung ableiten müssen. Sie hätte sehen müssen,
dass das Selbstbestimmungsrecht der Völker seine Aktualität
verloren hat, und erkennen müssen, dass die wissenschaftlich-technischen
Veränderungen das Konzept des Nationalstaates, das seit dem 17. Jahrhundert
entwickelt wurde, unterminiert haben, dass es realistischer ist, innerhalb
der bestehenden Grenzen, und ohne sie zu ändern, die Demokratie zu
entwickeln. Kurz gesagt, die PKK hätte ihr Programm der 70er-Jahre
fallen lassen und ein neues Programm entwickeln müssen. Sie hätte
die Türkei analysieren und dabei die Entwicklung des Landes seit
seiner Gründung und auch in den 90er-Jahren berücksichtigen
müssen, um ihr Programm auf die Grundlage dieser Entwicklungen zu
stützen.
Weltweit löst sich der Realsozialismus auf, das sowjetische System
bricht auseinander, und während die Lösung in einer unfruchtbaren,
verkrusteten Demokratie gesehen wird, mussten doch hieraus zweifelsohne
wichtige Lehren gezogen werden.
Die PKK hätte daraus wichtige Schlussfolgerungen ziehen müssen,
anstatt die Vorstellung von einem separierten Teil und separaten Staat
zu verteidigen - eine Vorstellung, die nicht über ideologische und
utopische Rhetorik hinausgeht. Die Forderung nach einem vom Staat abgetrennten
Teil ist angesichts der geografischen Grundtatsachen schwer zu verwirklichen;
der separate Teil ist kaum lebensfähig und auch nicht notwendig.
Anstelle einer solchen Forderung hätte sich die PKK für eine
demokratische Gesellschaft innerhalb derselben Grenzen einsetzen sollen.
Damit wäre sie dem weltweiten Trend gefolgt. Sie hätte klar
die freiwillige Vereinigung der Kurden mit der Republik erkennen und aufzeigen
müssen.
Vor allem wenn eine starke Vermischung und eine starke Assimilation existiert
und beinahe die Hälfte der Bevölkerung sich in geografisch unterschiedlichen
Regionen befindet, sollte die Lösung und auch der Vorzug in einer
tiefgreifenden Demokratisierung liegen. Sie hätte dies offen aussprechen
müssen; sie hätte sich vorwärts zu einer Aktionslinie politisch-demokratischer
Aktivitäten bewegen müssen, anstatt auf Gewalt zurückzugreifen,
die großes Leid und Verluste hervorrief. Sie hätte mit größerem
Geschick und mehr Verantwortung auf die Beendigung des immer schmutziger
werdenden Krieges hinwirken müssen. Sie hätte sehen müssen,
dass auch ein fortgesetzter Guerillakrieg gegen die Armee keine andere
Rolle spielen kann als letztendlich bei demselben Punkt der Lösung
anzulangen. Sie hätte deshalb ihre kontrollierte Umwandlung in eine
politisch-legale Alternative auf die Tagesordnung setzen müssen.
Anstatt nach 1993 auf dem Guerillakrieg zu beharren, hätte sie die
Grundlagen für diese Alternative schaffen müssen. Wie sehr man
auch die Cliquen innerhalb des Staates und die Verluste, die seitens der
Guerilla erlitten wurden, verurteilen muss - die PKK hätte dennoch
Anfang der 90er-Jahre die Veränderungen in der Welt und im Staat
sehen und Antworten finden müssen. Obwohl sie dies spürte und
die Notwendigkeit fühlte, reagierte sie aus Mangel an Erfahrung und
Angst nicht entsprechend. Die PKK wurde in diesen Jahren nicht besiegt.
Aber sie zeigte auch keine großartige Entwicklung, weil es kaum
möglich war, unter den Bedingungen in diesen Jahren und mit den bestehenden
Formen voranzuschreiten. Das ist der offensichtliche Fehler der PKK, dass
sie diese Realität nicht wahrgenommen hat und sich deshalb von Wiederholungen
nicht schützen konnte.
In diesem Sinne haben der 5. und 6. Kongress in manchen Punkten Wiederholungen
produziert. Wie wir sehen, ist die PKK an einem Scheideweg angelangt.
Entweder wird sie auf ihrer klassischen Linie beharren und mit der Hilfe
der inneren und äußeren Möglichkeiten weiter existieren
- oder sie wird auf der Grundlage bestimmter gesetzlicher Zusicherungen
den bewaffneten Kampf einstellen. Dann muss sie die Einheit der Türkei
zur Grundlage ihres Programms machen und sich selbst in eine Organisation
umwandeln, die durch politisch legale Aktionen und Organisierung versucht,
die kurdische Gesellschaft besser zu erfassen. Dies ist mit Sicherheit
die historische Stufe, die wir erreicht haben. Diese Veränderung
sollte als eine wahre revolutionäre Veränderung verstanden werden
und nicht als Verleugnung oder als Liquidierung.
Im Gegenteil, wenn die erwarteten Veränderungen der Linie und des
Aufbaus nicht stattfinden, wird der Konservatismus zunehmen und die Gefahr
der Vernichtung entstehen. Oder sie wird sich nicht davor bewahren können,
wie ähnliche Organisationen zuvor auch, in extremes Sektierertum
zu verfallen. Diese Realität der PKK, die im Kern auch vorhanden,
aber nicht vollständig ausgeprägt ist, zeigt deutlich, wie notwendig
die Veränderung ist. Um eine Lösung zu finden, ist es nicht
nur notwendig, das Problem zu erkennen, sondern auch, so schnell wie möglich
Wiederholungen zu vermeiden, damit kein Kräfteverlust entsteht. Und
um den Verfall der Kräfte zu verhindern, muss man langsam und mit
gemeinsamem Willen sich vom Guerillakrieg fortentwickeln hin zu einer
Lösung, die auf den Sicherheiten einer demokratischen Türkei,
dem politisch-legalen Prozess und einer entsprechenden Aktionslinie beruht.
Mit der Entwicklung dieser Plattform kann eine Lösung erreicht werden.
Dieser Weg ist nicht mit der Führung verknüpft, sondern ist
ein Problem und eine Lösung, die weit über die Führung
hinausgehen und beträchtliche Tiefenwirkung hat. Meistens beschleunigt
die Führung den Prozess. In vielen Fällen hat jedenfalls die
Führung eine solche Rolle gespielt.
Es ist wichtig, diese besondere Situation richtig zu begreifen. Zweifelsohne
wäre dies unter freiheitlichen Bedingungen viel einfacher.
Aber richtige Lösungen fordern und erhalten ihre Gültigkeit,
auch wenn sich Individuen in Gefangenschaft oder im Grab befinden. Aber
hier sind der fundamentale Zustand und sein richtiger Ausdruck sowie die
Notwendigkeit der Lösung von Bedeutung. Zweifellos spielt die Persönlichkeit,
und - insbesondere innerhalb der PKK - die Führung eine entscheidende
Rolle. Wenn die Führung eine Hauptrolle gespielt hat, wird sie eine
lange Zeit bestehen, und ihre Fähigkeit, Lösungen anzubieten,
ihr Einfluss und ihre Kraft bleiben erhalten. Im Wesentlichen können
wir den Veränderungsprozess der PKK und seine Hauptplattform auf
diese Weise beschreiben.
Wie sich dies alles in dem langen, vor uns liegenden Prozess in die Praxis
umsetzen lässt, das ist von verschiedenen Faktoren abhängig.
Unsere Aufgabe ist es, vorauszuschauen, um nicht unvorbereitet überrascht
zu werden.
Während die PKK in dieser geschichtlichen Epoche ihren neuen Weg
bestimmt, muss sie mit Bedacht und Selbstsicherheit vorgehen. Es sollte
nicht übersehen werden, dass es eine Notwendigkeit für große
Organisationen und Bewegungen ist, sich ihre Grundfehler und Irrtümer
vor Augen zu führen und mutig aufzudecken. Wenn sie das nicht rechtzeitig
tun, bedeutet dies eine Schwächung der Organisation. Es gibt Veränderungen,
die das Ende bedeuten, und Veränderungen, die Geschichte schreiben.
Immer auf die gleiche Weise zu gehen und sich selbst ständig zu wiederholen,
macht müde und erlaubt keine Entwicklungen. Der Verlust der Kreativität
in einem revolutionären Kampf und der Konservatismus, der daraus
entsteht, müssen letztendlich überwunden werden. Das Leben selbst
duldet Realitätsferne nicht lange. Eine Kraft, die das Leben nicht
voran bringt, entwickelt sich zu einem Hindernis. Das Leben selbst wird
zu einer revolutionären Realität, die das Hindernis auf ihre
Weise überwindet. Sektierertum ist eine Verzerrung des Lebens. Natürlich
ist die PKK nie in diese Lage geraten. Sie kann ohne weiteres weiterhin
der klassischen Linie folgen und ihre Erfolge wären auch nicht zu
unterschätzen. Aber es ist offensichtlich, dass dies nicht erreicht
werden kann durch leeres Vertrauen und traditionelle Methoden. Sondern
früher oder später müssen Lösungen gefunden werden.
Kurzum: So notwendig es ist, die Prinzipien, das Programm und die Aktionsformen
zu überdenken, so gefährlich ist es, dies nicht zu tun, obwohl
schon fast ein Vierteljahrhundert vergangen ist.
Um Fortschritte zu machen, ist es notwendig, die wichtigsten Erfahrungen
der Praxis einer Prüfung zu unterziehen, Erfahrungen, die unter rückständigsten
nationalen, sozialen und internationalen Bedingungen in der Form eines
höchst ungewöhnlichen Aufstandskrieges erworben wurden. Wenn
wir dies nicht tun, werden wir unserer großen Verantwortung vor
der Geschichte nicht gerecht. Selbst wenn uns einige dafür kritisieren,
entscheidend ist, dass wir den Erfordernissen des historischen Augenblicks
Rechnung tragen. Einige wollen dies nicht sehen, andere sehen es und wollen
es nicht glauben. Aber das Richtige und Neue fängt immer auf diese
Weise an.
Das Bild, welches die Anklageschrift von der PKK entwirft, wird sich natürlich
nicht ändern. Dieses Bild wird höchstens blass und verwischt.
Die PKK aber stellt das freie Leben sowohl eines Volkes als auch einer
neuen Menschheit dar. Dass sie sich selbst durch Gewalt hervorgebracht
hat, bedeutet nicht, dass sie sich auf diese Weise auch weiter entwickeln
muss. Auch ein Kind kann durch eine schwierige Geburt auf die Welt kommen
und sich danach ohne weitere Schwierigkeiten natürlich entwickeln.
Das ist ein Naturgesetz. Qualitative Sprünge forcieren die Entwicklung,
aber das Fundament ist die quantitative Entwicklung. Das kann man auf
die menschliche Gesellschaft und auch auf ihr Organisationsleben übertragen.
Warum sollte das falsch sein? Wenn alles so endet, wie es angefangen hat,
oder wenn alles bleibt, wie es war, dann kann es keine Entwicklung geben.
Das verstößt auch gegen die Naturgesetze. Insbesondere wenn
eine Erscheinung mit großem Widerstand und Gewalt verbunden ist,
dann wird sie entweder in Fäulnis übergehen oder sich erneuern
und eine neue Entwicklungsphase erreichen.
Diese dialektischen Wahrheiten zeigen, dass das Bild, das die Anklageschrift
von der PKK vermittelt, keinen Bezug zur lebendigen Realität hat.
Das reicht vielleicht für eine Verurteilung aus, aber man wird damit
nichts anderes erreichen, als die gesellschaftlichen Probleme zu vertiefen.
Die Geschichte kennt viele Beispiele dafür, was es bedeutet, eine
Organisation wie die PKK als erfolglos zu bezeichnen, eine Organisation,
die dem Staat so gefährlich geworden ist, die eine so ernste Kriegsbilanz
vorweist, die die politische Entwicklung tagtäglich so massiv beeinflusste
und auf mehr als zehn Regierungen Druck ausübte. Diese Bewegung mit
alten Gesetzen, die der gesellschaftlichen Praxis sehr weit hinterher
hinken, zu verurteilen, ist ein extrem konservatives Verhalten, das den
Staat unfähig macht, die notwendigen Reformen durchzuführen,
und die Gesellschaft der wichtigen Chance zur Demokratisierung beraubt.
Korrekt wäre es gewesen, nicht nur anzuklagen und aufzuzeigen, was
richtig ist, sondern auch zu zeigen, wie das erreicht werden kann. Die
Anklageschrift hat diese Chance nicht gut genutzt und außer der
klassischen, einseitigen und total negativen Verurteilung nichts Neues
hervorgebracht. Sowohl für die Republik als auch für die PKK
besteht eine historische Situation und Möglichkeit der Versöhnung,
wenn man die Demokratie im Allgemeinen und das kurdische Problem im Besonderen
betrachtet, das ihre Wurzeln ausmacht.
Es wäre ein großartiger Schritt nach vorne, wenn die Demokratisierung
der Gesellschaft parallel zur Demokratisierung des Staates verliefe. Die
Voraussetzungen dafür sind, dass die Republik sich reif verhält,
dass sie die Demokratisierung nicht als Verlust, sondern als ihren größten
Gewinn betrachtet, dass sie ihre Engstirnigkeit aufgibt; die PKK muss
einsehen, dass ihr eigener Weg der Umwandlung ohne Kompromiss mit der
Demokratischen Republik nicht zu erreichen ist und dass der historische
Kompromiss nur auf diese Weise erzielt werden kann. Sicherlich sind die
alten Gesetze hierfür ein großes Hindernis. Neue Gesetze werden
die Hindernisse überwinden, und die Hindernisse, die vor den Gesetzen
selbst stehen, werden durch den politischen Willen aus dem Weg geräumt.
Der PKK-Prozess, die Anklageschrift und die Verteidigung, können
nur dann großen Erfolg haben, wenn sie großherzig genug sind,
die wundervolle, subtile Kreativität der Politik zu nutzen, um sich
in dem historischen Tal des Kompromisses zu treffen, das Eis, das zwischen
ihnen besteht, zu brechen und die Entfremdung voneinander zu beenden,
indem sie auf polarisierende Anschuldigungen - wie große und kleine
Schuld, mehr oder weniger schuldig - verzichten. Aus der These und Antithese
wird eine neue Synthese geboren. Der Gegensatz zwischen Staat und PKK
wird sich in der Synthese der Demokratischen Republik auflösen. Auch
viele offizielle Repräsentanten der Republik haben schon zum Ausdruck
gebracht, dass sich das Leben ohne Widersprüche nicht fortentwickeln
kann. Ebenso sollte die Republik bei diesem größten Ereignis
- Aufstand und Auseinandersetzung - in ihrer Geschichte nicht die gewaltsame
Erstickung, sondern den Fortschritt bevorzugen, indem sie die Widersprüche
löst. Mit dem Erwürgen des Kindes, das aus dem eigenen Leib
geboren wurde, ist nichts gewonnen. Wenn aber diesem Kind erlaubt wird,
ein eigenständiges Leben zu führen und wenn es als das eigene
Kind akzeptiert wird, dann wird es die Kraft vervielfältigen. Dann
wird die Geschichte nicht leidvoll enden, sondern auf dem Weg zum Frieden
voranschreiten, der von der demokratischen Welt gefordert wird, und der
zum größten Bedürfnis dieser Gesellschaft geworden ist.
Der große Widerspruch wird dann aufgelöst sein, und der Weg
zur Stärke ist offen.
Der PKK-Prozess, verkörpert durch ihren Führer, besitzt dieses
Potenzial. Wenn die Richter die tief verwurzelte geschichtlich-gesellschaftliche
Basis dieses historischen Prozesses erkennen, wenn sie die Geschichte
der Demokratie betrachten, wenn sie die Gesetze beurteilen, die sie selbst
sehr gut kennen und die bei der gesellschaftlichen Entwicklung ein Hindernis
darstellen, dann werden sie sicherlich ihr historisches Urteil objektiver
fällen können. Bei der Betrachtung der Entscheidungen wird nicht
die juristische Form ausschlaggebend sein, sondern der gesellschaftliche
Inhalt. Wichtig ist nicht, was der Tag, sondern was die jüngste Vergangenheit
und die Zukunft zeigen. Es wird eine Chance für die Republik sein,
wenn sie ihr Urteil finden, indem sie nicht die formale Legalität
sondern das Wesen der Gesellschaft betrachten, wenn sie nicht den Augenblick,
sondern die jüngste Vergangenheit und die nächste Zukunft im
Auge haben, und wenn sie der historischen Methode Raum geben - so, wie
es schon oft in der Rechtsgeschichte vorgekommen ist .
Die PKK wird sich von einer Kraft, der die Absicht der Spaltung unterstellt
wird, zu einem der entscheidenden Faktoren entwickeln, die die Republik
stärken. Die Richter sollten in der Lage sein, dies zu sehen. Es
ist eine Aufgabe von historischen Dimensionen, eine Bewegung nicht zum
Gegner und zum Sträfling der Republik zu machen, die annähernd
25.000 Anhänger verloren hat, von der über 10.000 Mitglieder
in den Gefängnissen saßen und die vor kurzem noch, bei den
letzten Wahlen, 1,5 Millionen Wähler auf ihrer Seite hatte. Selbst
wenn die PKK Fehler und Irrtümer begeht, was derzeit passiert und
auch auf mittlerer Ebene ausgesprochen wurde, so ist doch Krieg. Jedem
Krieg folgt ein Frieden, und wenn der Staat die Tür zum Frieden öffnet,
selbst wenn sie nur ein kleines Stück offen ist, dann wird sich zeigen,
dass die PKK stark genug ist, die Republik mit dem Respekt zu behandeln,
den sie verdient.
Andernfalls werden beide Seiten verlieren, unsere Feinde werden gewinnen,
das Leiden wird zunehmen, und die Geschichte wird der Verlierer sein.
Die Erwartung an diesen Prozess ist, dass es zu einem Urteil auf dem Weg
der Geschichte kommen muss, der über kurz oder lang zum Sieg führt.
Im Endeffekt sollte sich die PKK in ihrem Programm und ihren Prinzipien
die großen Veränderungen des letzten Vierteljahrhunderts vor
Augen halten sowie die aktuellen Veränderungen in den demokratischen
Strukturen der Republik, die durch die kurdische Frage hervorgerufen wurden.
Sie muss sich das legale System, das unter Druck geraten ist, vor Augen
halten und in ihrem Programm und ihren Prinzipien die Veränderungen
vornehmen, die von ihr erwartet werden und die sich immer wieder als notwendig
erwiesen haben. Sie sollte ein politisches Programm entwickeln, das auf
den Konzepten einer Demokratischen Republik und eines gemeinsamen Landes
beruht. Die PKK sollte die Forderungen einer utopischen Periode aufgeben,
die nicht länger die einzige Form für die Gewinnung der Freiheit
darstellen und die ohnehin nicht mehr funktionieren. Statt dessen soll
sie sich für die freie Vereinigung aussprechen. Sie sollte das Programm
so schnell wie möglich offiziell auf einer Konferenz vortragen. Nur
so können beide Seiten aus der Sackgasse herausfinden.
In einer Zeit, da die Republik offensichtlich in eine Periode der großen
gesellschaftlichen und ideologischen Demokratisierung eingetreten ist,
muss die PKK von ihren Programmen Abschied nehmen, die in großem
Maße von den sozialistischen Systemen der 70er-Jahre und der dogmatischen
Sicht der kurdisch-türkischen Beziehungen geprägt sind. Sie
muss ein Programm herausbringen, in dem die demokratische Politik in der
gesamten Türkei und - noch tiefgreifender und detaillierter - in
der kurdischen Gesellschaft erfasst wird. Das wird der politisch-legalen
Entwicklung den Weg öffnen und darum auch aus der Sackgasse heraus
führen.
In vielen Ländern wurden Probleme, die in einigen Fällen sogar
über Jahrhunderte andauerten, mit einer vergleichbaren Methode der
Entspannung gelöst. Europas demokratisches System kennt zahlreiche
Beispiele für einen solchen Prozess. Das Beharren auf veralteten
Methoden bedeutet, die Sackgasse zu verewigen. Prinzipien und Programme
sind wertvoll, wenn sie existieren, um das Leben weiterzuentwickeln. Wenn
sie das Leben erschweren, müssen sie entsprechend den konkreten Umständen
verändert werden. Das bedeutet nicht Mangel an Glauben und Selbstverrat,
sondern es ist eine Notwendigkeit des Lebens. In einem so großen
Kampf nicht die notwendigen Veränderungen bei seinen Prinzipien und
seinem Programm vorzunehmen, ist Konservatismus und Dogmatismus. Das Leben
ist immer auf der Seite von solchen Prinzipien und Programmen, die es
voranbringen. Wer immer sich dagegen stellt, wird verlieren.
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