Loslösung
und Rebellion auf der einen Seite - Unterdrückung und Verleugnung
auf der anderen
Obwohl
beide Verhaltensweisen erprobt wurden, stellen wir fest, dass sie, abgesehen
von den großen, bitteren Verlusten, nicht nur keine Lösung
brachten, sondern die Gesellschaft mit schweren Problemen konfrontierten.
Wenn die Methoden nicht zeitgemäß, nicht lösungsorientiert
sind, ist es selbstverständlich, dass man in einer Sackgasse landet.
Obwohl wir sagen, dass es kein Schicksal ist und in der Demokratie die
Wege für Lösungen unbegrenzt sind, trägt jeder die historische
Verantwortung dafür, dies auch in die Praxis umzusetzen. Keine Frage
kann richtig verstanden, geschweige denn gelöst werden, wenn man
die Verantwortung nur einer Seite, einer Person, einer Gruppe anlastet.
Wenn für solch eine komplizierte Frage, die eine historische, geografische,
kulturelle, gesellschaftliche und internationale Dimension hat, nur meine
Person verantwortlich gemacht wird, kann jeder seine Schuld verleugnen
und vor der Verantwortung fliehen. In der Türkei folgt jetzt jeder,
von oben bis unten, dieser Mode. Vielleicht können diejenigen, die
mir alles anlasten, sich selbst entlasten und ihre täglichen Interessen
sichern. Aber damit leistet niemand seinen Beitrag für eine Lösung,
sondern stellt eher ein Hindernis dafür dar. Aus diesem Grund verhielte
man sich moralischer und politischer, wenn man, unabhängig von seiner
vorherigen Position, mit einer ernsthaften wissenschaftlichen Absicht
seiner Verantwortung gerecht würde, um für die aktuelle, bittere
und blutige Frage unserer Zeit bald eine Lösung zu finden. Man sollte
niemanden beschuldigen, sondern seinen eigenen Beitrag leisten. Wir sind
Zeugen eines historischen Moments, der als demokratische Waffe für
die Lösung eingesetzt werden muss. Das Wesen dieser Waffe ist der
Wille des Volkes. Wenn wir die letzten Wahlen betrachten, wird offensichtlich,
dass die demokratische Lösung vorangeschritten ist. Betrachtet man
den Wahlerfolg der HADEP, die ja keine ernsthafte Basisarbeit leisten
konnte, auf kommunaler Ebene, sieht man, dass die kurdischen Massen zum
ersten Mal in der Geschichte mit einheitlichem Willen ihre Absicht zum
Ausdruck gebracht haben, sich selbst zu regieren. Unter Berücksichtigung
der überwiegend feudalistischen Tradition der Gebiete ist die Demokratie
eine nicht zu unterschätzende Methode der Lösung. Das ist ein
wichtiger Fortschritt auf diesem Weg. Tatsächlich ist die Bedeutung
dieser Entwicklung hinsichtlich einer demokratischen Lösung noch
größer. Wenn diese Entwicklung trotz der vorhandenen Spannungen
und Auseinandersetzungen möglich ist, dann wäre es für
die Demokratie, deren Wert für eine Lösung endlich erkannt worden
ist, schon ein Sieg, wenn die Auseinandersetzungen völlig beendet
würden. Erforderlich wären auch die Beseitigung der Hindernisse
für Justizreformen und Freiheiten, die vom Verfassungsgericht und
anderen Organen der Justiz, von vielen führenden Staats- und Parteifunktionären
zur Sprache gebracht werden. Unabhängig davon, ob man sie fördert
oder verhindert, ist doch offensichtlich, dass sich die Türkei in
diese Richtung bewegt und zur Zeit eine historische Etappe durchläuft.
Wir ziehen Glauben und Selbstvertrauen aus dieser Entwicklung.
Doch kehren wir nun wieder zum Anfang zurück. Niemand kann die Tatsache
leugnen, dass die Kurden in der Zeit der Befreiung und der Gründung
der Republik sowohl die demokratischen Werte vertraten als auch bei der
Gründung aktiv waren. Atatürk persönlich hatte darüber
hinaus von einer Art Autonomie, lokaler Verwaltung gesprochen
und damit seine Absicht für eine Lösung zum Ausdruck gebracht.
Die bekannte Charaktereigenschaft der kurdischen Aufstände in dieser
Zeit hat diese Überlegung aber von der Tagesordnung gestrichen. Später
führte sie zum absoluten Verbot, diese Frage auch nur zu thematisieren,
und schließlich zur Leugnung. Hinzugefügt wurde bis zum Jahre
1992 sogar ein Sprachverbot. Dies hat weder mit Demokratie noch mit einem
ernsthaften Atatürkismus zu tun. Das Kurdentum, gegen
das Atatürk sich wandte, war jedoch auch eines, das sich nicht mit
der Zeit auf moderne Weise demokratisch mit der Republik hätte vereinigen
können.
Die Reaktion des Staates war vielmehr ein Aufbegehren gegen die Gefährdung
der Herrschaft, und zwar noch in den Gründungsjahren der Republik.
Ursache war der mögliche Zusammenbruch der Republik durch vom Ausland
ausgehende Unterstützung der kurdischen Aufstände, d.h. die
reelle Gefahr einer gemeinsamen Niederlage von Türken und Kurden.
Dies hatte zur Folge, dass sich diese Haltung des Staates hinsichtlich
ihrer Wirkung gegen die Republik richtete. Darüber hinaus kam es
in Westanatolien zu weitaus mehr Aufständen in dieser Richtung. Gegen
diese ging man in gleicher Weise vor. Diese beiden wichtigen Seiten in
der Herangehensweise von Atatürk zu analysieren, hat meines Erachtens
einen hohen historischen Wert. Ich möchte ebenfalls meine Überzeugung
zur Sprache bringen, dass Atatürk, wenn er heute leben würde,
eine Republik und demokratische Einheit als angemessenste Staatsform vertreten
würde. Niemand sollte das Verhalten der Republik aus Sorge um die
eigene Existenz in ihrer schwierigsten Zeit als Unterdrückung und
Verleugnung bewerten. Ebenso sollte niemand ein Hauptelement der Gründung
leugnen, wonach am Anfang der Republik alles auf Freiwilligkeit und der
offiziellen Anerkennung basierte. Das meine ich mit den zwei historischen
Punkten. Atatürk selbst forderte von allen, sich an der Weiterentwicklung
der Republik zu beteiligen.
Abgesehen davon war die Entwicklung der Demokratie damals weltweit nicht
sehr weit gediehen; es war vielmehr eine Ära der totalitären
Regime. Die Zeitspanne zwischen den beiden Weltkriegen war kurz. Die Aufgabe
in dieser Zeit war im Wesentlichen, das Existierende zu verteidigen. Allerdings
hätte die sich nach dem II. Weltkrieg intensivierende demokratische
Bewegung sowie die sich entwickelnde internationale Realität uns
dazu bewegen müssen, uns auf die Entwicklung einer Republik zu konzentrieren,
die nicht mehr rückgängig gemacht werden kann und in der die
Probleme in demokratischer Weise gelöst werden. Weil dies nicht umgesetzt
wurde, versuchte man, mit Auseinandersetzungen, die weit von einer Demokratisierung
entfernt waren, ausgehend von einer alten Analyse und mit beschränkten
soziologischen Kenntnissen, eine rebellische Haltung umzusetzen. Wenn
in der Führung der PKK auch von einem sozialistischen Staat
gesprochen wird, wenn auch jede Organisation nach ihrem eigenen Verständnis
damals von einem unabhängigen Staat sprach, so sind dies eher Bekenntnisse,
die nicht über eine utopische Vorstellung hinausgehen. Nachdem die
PKK diese Haltung teilweise überwunden hatte und einen Massencharakter
annahm, was insbesondere mit Beginn der 90er-Jahre der Fall war, versuchte
ich durch intensive Auswertung, dies offen zur Sprache zu bringen. Es
ging um die Suche nach einer freiwilligen Vereinigung oder,
anders ausgedrückt, um eine demokratische Einheit. Das war eine Notwendigkeit,
die das Leben uns aufgezwungen hat. Obwohl Utopien anziehend sind, kann
ein politischer Erfolg nur durch die Rückkehr zur Realität erreicht
werden. Wir haben versucht - wenn auch spät - dies zu tun. In diesen
Jahren waren die Entwicklungen auf der Seite der weltweiten Demokratie.
Die Sowjetunion löste sich infolge mangelnder Demokratie auf, beinahe
alle Systeme orientierten sich, wenn auch zögernd, an der Demokratie.
In allen Ländern sind Entwicklungen in diese Richtung zu erkennen.
Unter dem Zwang der Auseinandersetzungen zeigte das erreichte Niveau in
der Türkei tatsächlich eine historische Chance für eine
demokratische Lösung. Der Staat hat das erkannt. Einige Schritte
wurden unternommen, wie die Aufhebung des Sprachverbots, die genehmigte
Gründung des Kurdischen Institutes, die Herausgabe der Zeitschrift
Roja Welat, die Gründung des Mesopotamischen Kulturzentrums. Der
damalige Ministerpräsident Demirel hatte im Namen der neu gegründeten
Koalitionsregierung in den kurdischen Gebieten erklärt, dass er die
kurdische Realität anerkenne. Staatspräsident Turgut Özal
ging einen Schritt weiter, indem er betonte, dass man nicht einmal vor
der Diskussion über eine Föderation Angst haben sollte. Die
militärischen Operationen wurden eingeschränkt und es konnte
sogar eine ernsthafte Annäherung an den Waffenstillstand festgestellt
werden. Die kurdische Bevölkerung veranstaltete die größten
demokratischen Proteste in ihrer Geschichte. Es war für beide Seiten
notwendig geworden, die militärischen Auseinandersetzungen ganz einzustellen
und sich auf den Weg einer demokratischen Lösung zu konzentrieren,
den ich, wenn auch nur in begrenztem Maße, vorgeschlagen hatte.
Anstatt den Waffenstillstand dauerhaft zu gestalten, ließ der Staat
wieder Auseinandersetzungen zu, die sich leidvoll wiederholten und zu
großen Verlusten führten. Es wurden keine vorbeugenden Maßnahmen
ergriffen, Unsicherheit und Unerfahrenheit herrschten vor und die Eingriffe
von außen waren nicht zu unterschätzen. Das hätte nicht
geschehen dürfen. Ich persönlich habe darüber immer Kummer
empfunden. Aber auch die erbarmungslose Vorgehensweise der damaligen Regierung
trägt hierfür eine historische Verantwortung. Der Anstieg von
Gewalt erreichte zeitweise unbegrenzte und grausame Dimensionen.
Dieser Prozess war zugleich ein Prozess der massiven Entvölkerung
der Dörfer, der Morde durch unbekannte Täter, der
Organisierung von Banden. Dieser Prozess, der nicht hätte stattfinden
dürfen, ist ein verlorener Prozess. Das 1995/96 vom Nationalen Sicherheitsrat
(MGK) für die Türkei und die PKK zur Sprache gebrachte Konzept,
das indirekt auch uns erreichte, deutete meines Erachtens auf ein neues
Verständnis der Armee hin. Es beinhaltete auch, dass die PKK diese
Veränderungen des Staates ernst nehmen bzw. darauf antworten sollte.
Meiner Ansicht nach war dies eine Perspektive für die Suche nach
einer Lösung, die sich an einer demokratischen Entwicklung westlichen
Typs orientierte, und zwar unter der Kontrolle der Armee. Die Umsetzung
dessen sollte in einer gemeinsamen Heimat stattfinden, ohne über
einen unabhängigen Staat zu diskutieren. Ich versuchte, frühzeitig
und positiv darauf zu antworten. Auch wenn es nicht ausreichte, versuchte
ich, darauf mit dem Ausrufen mehrerer einseitiger Waffenstillstände
zu antworten. Ich bemühte mich, unsere Strukturen dem neuen Konzept
entsprechend vorzubereiten, indem ich sie nach und nach informierte. Diese
Haltung nehme ich bis zum heutigen Tag ein.
Ich bringe diese detaillierten Entwicklungen aus folgendem Grund zur Sprache:
Die Armee, eine der wichtigsten Institutionen des Landes, blickte in eine
andere Richtung, um die Sicherheit der Republik zu gewährleisten.
Im Unterschied zu den alten Formen der Intervention ermahnte sie im Gegenteil
alle, jede Gruppe und jede Partei, zum Respekt vor den Prinzipien der
Rechtsstaatlichkeit, der Demokratie und des Laizismus.
Von der PKK wurde folgende Entwicklung erwartet: Neben der Einstellung
des bewaffneten Kampfes sollte sie auch ihr Programm, das zum Separatismus
aufrief, neu überdenken und mit der Demokratisierung nach und nach
eine Lösung für die kurdische Frage finden. Sie sollte auf dem
geöffneten bzw. noch zu eröffnenden Wege voranschreiten. Einer
der wichtigsten Gründe, warum ich dieses Konzept, diese Perspektive
als positiv betrachtete, war seine praktische Realisierbarkeit.
Ich muss sagen, dass ich Kraft aus diesen Botschaften geschöpft habe,
die aus einer glaubwürdigen Quelle stammten. Täglich öffneten
sich Wege, um zu meiner Schlussfolgerung zu gelangen, dass nicht einmal
ein Umsturz des Staates nützlich sein würde, dass Loslösung
unnütz und daher die Entwicklung der demokratischen Qualität
des Staates das Beste wäre. In meiner Darlegung der Strukturen in
den Gründungsjahren der Republik und später und auch in der
Darstellung des jüngsten Aufstands, der im letzten Viertel des Jahrhunderts
begann und seit fünfzehn Jahren die Dimension eines Krieges hat,
bin ich als einer der Hauptverantwortlichen für diesen Aufstand zu
folgender historischer Schlussfolgerung gelangt: Nämlich, dass dieses
wachsende Problem, wie immer man es nennen möchte, nur in der demokratischen
Einheit, mit der demokratischen laizistischen Republik überwunden
werden kann.
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