Meine
persönliche Situation
In
der Anklageschrift der Generalstaatsanwaltschaft wurde von verschiedenen
Seiten meine persönliche Lage angesprochen. Es ist wichtig, dass
ich in einem gesonderten Abschnitt meine Rolle sowohl in der Geschichte
der PKK als auch im Aufstand und in der Realität des Krieges zur
Sprache bringe.
Ich
bin in einer armen Bauernfamilie aufgewachsen, die stark an die feudalen
Werte gebunden war, doch ihren Stammescharakter weitgehend verloren hatte.
Ich habe eine Grundschule der Republik besucht. Die Schule war in einem
anderen Dorf, zu dem ich zu Fuß gegangen bin. Die Dörfer in
unserer Gegend waren halb kurdische, halb türkische Dörfer.
Mütterlicherseits stammt meine Familie aus einem turkmenischen Nachbardorf.
Daher wurde sowohl Türkisch als auch auch Kurdisch gesprochen. Zwischen
unseren Dörfern gab es keine nationalistische Feindschaft und auch
die Beziehungen waren weitgehend freundschaftlich. Solange zwischen den
Völkern keine Hetze entfacht wird, herrscht noch immer ein Klima
der Freundschaft, das beispielhaft ist und keine Feindschaft zulässt.
Mir gegenüber besteht weiterhin Sympathie seitens der überwiegend
kurdischen Dörfer. Meine damalige Reaktion richtete sich gegen die
feudalen Familienbindungen. Mein erster Aufstand war eigentlich gegen
die Familien- und Dorfstrukturen gerichtet, die weit davon entfernt waren,
den Erwartungen eines Kindes zu entsprechen. Soweit ich mich entsinnen
kann, hat ein Schriftsteller in der Türkei versucht, dieses Thema
in einem Roman mit dem Titel Erster Aufstand zu verarbeiten.
In jungen Jahren habe ich nach einem großen Krach mit meiner Familie
weinend mein Dorf verlassen. Meine Reaktion auf die Haltung einiger Familienangehöriger,
die ein Leben ohne Arbeit führen wollten, hatte großen Anteil
daran. Aus jener Zeit kennen mich die Dorfbewohner als einen Menschen,
der nicht einmal einer Ameise etwas zuleide tun konnte. Anderseits war
ich für sie der Schlangenjäger, den sie immer wieder
riefen, wenn eine Schlange gefunden wurde. Ich jagte auch nach Vögeln.
Wanderungen durch die Berge waren meine Leidenschaft. Ich führte
einen intensiven Kampf um Weizenbrot. Es gab heftige Konflikte mit meiner
Mutter. Sie war eine sehr unabhängige, unbeugsame Frau. Es kann sein,
dass meine Neigung zur Rebellion daher rührt. Mein Vater war passiv.
Meine Mutter herrschte. Ich habe in der Familie keine besondere Erziehung
und Liebe erhalten. Meine ausgeprägte Eigenschaft war es, mich selbst
frei zu erziehen.
Bis zum letzten Semester an der Universität bin ich immer unter den
ersten Zehn gewesen. Bis ich zum Gymnasium kam, hatte die Religion Einfluss
auf mich. Dies war eine konservative Abwehrreaktion auf die moderne Gesellschaft.
In den 70er-Jahren entwickelte sich mein Interesse an linker Politik und
am damaligen kurdischen Nationalismus. Ich war eine tief gläubige
Person. Da ich in der Gesellschaft, die ich als bürgerlich bezeichnete,
nicht besonders integriert war und in ihr keine nennenswerten sozialen
Beziehungen hatte, habe ich mich ganz den ideologischen Aktivitäten
gewidmet. Obwohl ich für kurze Zeit mit der türkischen Linken
zusammenarbeitete, übernahm ich im Frühling 1973 die Führung
einer Gruppe, die noch über keine besonderen Merkmale verfügte.
Wegen Unzulänglichkeiten in der nationalen Frage kann man sie als
Gruppe für das Studium der kurdischen Realität bezeichnen. Sie
spielte dadurch eine wichtige Rolle als Fundament für die spätere
PKK-Gründung. Die Arbeit war Recherche- und Propagandatätigkeit.
Mir erschien es richtig, dass sich die Gruppe mit ihren oberflächlichen
ideologischen und geschichtlichen Kenntnissen unabhängig entwickelte.
Wir haben versucht, uns in einem intensiven ideologischen Kampf sowohl
gegen den primitiven separatistischen kurdischen Nationalismus zu formieren,
als auch gegen die Strömungen, die wir chauvinistische Linke
der Türkei nannten. Unter uns waren auch türkische Freunde.
So beteiligten sich z.B. Haki Karer und Kemal Pir an der Führung.
Nach unser Vorstellung stellte diese Zusammensetzung schon damals die
freie kurdisch-türkische Einheit dar. Kemal Pir, der einer der Märtyrer
des großen Todesfastens war, sagte immer: Ich glaube, dass
die Freiheit unseres Volkes durch die Befreiung des kurdischen Volkes
zu erlangen ist. Dies blieb für uns alle immer ein Motto. Diese
Zusammensetzung prägte das Wesen der Gruppe und der PKK entscheidend.
1975 war ich der Vorsitzende von ADYÖD (Demokratische Studentenvereinigung
von Ankara). Vorher saß ich sieben Monate im Gefängnis von
Mamak wegen eines Boykotts an der Fakultät der Politikwissenschaften,
mit der wir gegen die Tötung von Mahir Cayan* und
seinen zehn Freunden am 30. März 1972 in Kizildere während eines
Gefechts protestiert hatten. Mit Hilfe von Mehmet Hayri Durmus haben wir
1977 das Programm der PKK und 1978 ihr Manifest geschrieben. 1978 haben
wir im Dorf Fis in der Provinz Diyarbakir beschlossen, uns unter dem Namen
PKK als Partei zu formieren.
Anfang
Juli 1979 sind wir, zusammen mit Ethem Akcan, über Suruc nach Syrien
und in den Libanon zu den Palästinensern gegangen. Zusammen mit ca.
200 Freunden, die sich zurückzogen, haben wir - nach einer militärisch-ideologischen
Ausbildung - ab 1982 versucht, im Nord-Irak Fuß zu fassen und Stützpunkte
zu errichten. Nach den schweren Auswirkungen des Todesfastens im Gefängnis
von Diyarbakir haben wir die Errichtung unseres Stützpunktes vollendet
und uns auf die Aktivitäten von 1984 orientiert. Wenn ich diese Jahre
chronologisch auswerte, stelle ich fest, dass mein bisheriges Leben von
einer Freiheitsauffassung beherrscht wird, die mich seit dem Leben im
Dorf prägte. Das war zunächst diffus und ich versuchte erst
mit der Zeit, dem einen wissenschaftlichen Charakter zu geben.
So, wie man an Verse des Koran glaubt, war ich der Überzeugung, selber
kein ehrenvolles Leben führen zu können, solange ein Volk verleugnet
wird. Im Aufstand ist die Rolle dieser Verleugnung ausschlaggebend. Nicht,
dass ich anfänglich nicht über die Verleugnung nachgedacht hätte.
Je mehr ich mich mit den historischen und gesellschaftlichen Wissenschaften
befasste, erkannte ich, wie unhaltbar es ist, etwas zu verleugnen. Daher
sage ich, dass ich entweder leben werde, indem ich die wissenschaftlich
erwiesene Realität, d.h. die Freiheit der kurdischen Realität,
verwirkliche, oder aber, dass ich nie leben werde, wenn dies nicht erfolgt.
So hat sich nicht nur mein Bewusstsein gebildet, es entstand auch ein
fester Glaube und Wille. Die Intensität meiner Gefühle für
die Freiheit und der Durst nach Wissen müssen als grundlegende Faktoren
für meine Aktivitäten angesehen werden. Anders wäre es
unmöglich, meine Rolle bei diesen Aktivitäten ausreichend zu
erklären. Später habe ich die kurdische Realität deutlich
gesehen und habe über sie gesagt: Sie besteht zu einem Drittel aus
Kranken, zu einem Drittel aus Verrückten und zu einem Drittel aus
Gefangenen. Diese Daseinszustände spiegelten sich in den Strukturen
der Organisation und der Aktionen wieder. Das Todesfasten, die Selbstverbrennungen,
die Selbstmordaktionen von Tausenden, die an ihrem Körper befestigte
Bomben explodieren lassen, die unzulässigen Anschläge auf die
Zivilbevölkerung - das alles ist, außer dem tiefen Einfluss
der gegenwärtigen gesellschaftlichen Struktur, Folge von unzureichendem
Bewusstsein, von irregeleiteten Gefühlen und Willen.
Ich möchte betonen, dass ich trotz großer Anstrengungen, eine
gesunde militärische Linie zu erreichen, die Struktur nur begrenzt
an eine solche Verteidigungslinie annähern konnte. Ich glaube, wären
diese Anstrengungen nicht unternommen worden, hätten sich tatsächlich
noch erbarmungslosere, tragischere, ja ungeheuerliche Vorfälle ereignen
können. Hätte die Anklageschrift die Notwendigkeit erkannt,
die gesellschaftlichen und persönlichen Strukturen zu untersuchen,
die den Aktionen zugrunde lagen, hätte sie problemlos diese Besonderheiten
feststellen können. Der Augenschein allein reicht nicht aus. Ohne
das Leben genau zu untersuchen, können wir keinen exakten Befund
feststellen. Die zunehmende Bezeichnung der gesamten Aktionsstruktur als
Terrorismus und terroristisch vertieft die Ausweglosigkeit des Problems.
Viele der durchgeführten Aktionen stellen tatsächlich die bittersten
Aktionen in meinem Leben dar. Ich habe Bücher voll Kritiken. Aber
wenn wir nur einmal die andauernden Familienstreitigkeiten betrachten,
die in der kurdischen Gesellschaft auftreten, erkennen wir, auf welcher
Grundlage die Gesellschaft ruht und wie das Individuum dadurch beeinflusst
wird. Angesichts der Erbarmungslosigkeit bei den Auseinandersetzungen
zwischen einzelnen Clans und ähnlichen Situationen in den Aufständen,
sehe ich es als meine Aufgabe an, die Zerstörung zu minimieren und
die Auseinandersetzungen zu kontrollieren. Dass ich in dieser Angelegenheit
so etwas wie einen inneren Krieg führe, wird jeder sofort
bemerken, der die Entwicklung der PKK aufmerksam verfolgt. Die Ereignisse,
die unter unserer Verantwortung geschahen, waren geradezu erfolgreich,
vergleicht man sie mit den Massakern, die kürzlich in Bosnien, im
Kosovo stattfanden, oder mit den Auseinandersetzungen, die England, das
sich für zivilisiert hält, mit der IRA hatte, oder mit Ereignissen,
die in Afrika geschahen.
Mit der zunehmend sich entwickelnden Kontrolle innerhalb der Organisation
wurden die Aktionen, die über die Legitimität der Verteidigung
hinausgehen, auf das niedrigste Maß reduziert. Da ich wegen der
Aktionsstrukturen erheblich kritisiert und ständig als Kopf
der Terroristen lanciert werde, muss ich meine Auffassung über
die Aktionen klar zum Ausdruck bringen.
Meine Verantwortung für die Aktionen, die unter der Führung
der PKK durchgeführt wurden, ist eindeutig. Aber das reicht nicht
aus, meine Auffassung über die Aktionen darzulegen. Der schwierigste
Prozess in meinem Leben waren die Bemühungen, die Zerstörung
durch Personen und Strukturen, die im allgemeinen im Namen des Aufstandes
und insbesondere im Namen der Militanz auftraten, auf ein Minimum zu reduzieren.
Mit folgendem Beispiel habe ich dies wiederholt zum Ausdruck gebracht:
Nachdem man einen Zigeuner zum Pascha gemacht hatte, ließ er als
erstes seinen Vater hinrichten. Das war es, was wir mehr oder weniger
erlebten. Ich bezeichnete solches Vorgehen auch als vagabundierendes
und rebellisches Banditenunwesen. Wenn eine gesellschaftliche Struktur
ohne Kriegsrechte und politische Grundlagen, aus einem jahrhundertealten
Milieu von feudalen Familienstreitigkeiten kommend, in dem man dazu neigt,
wegen eines Huhnes Menschen zu töten, mit dieser Persönlichkeitsstruktur
zusammentrifft, dann ist es verständlich, dass solche Persönlichkeiten
schwer kontrollierbare Dinge tun. Die Zerstörung auf einem bestimmen
Niveau zu halten, ist meiner Meinung nach ein bedeutender Erfolg.
Meine Auffassung von Gewalt bestand von Anfang an darin, dass sie nicht
über die legitime Verteidigung hinausgehen sollte. Es ist richtig,
dass ich viele Angriffe und Selbstmordaktionen als Heldentaten bewertet
habe. Allerdings habe ich diese weder befohlen noch war ich darüber
in Kenntnis gesetzt. Ich habe mich ständig bemüht, solche Entwicklungen
auf ein Minimum zu reduzieren. Das ist für mich Grundlage meiner
ethischen und militärischen Auffassung.
Wäre dies nicht erreicht worden, wäre unser Kampf verloren gewesen.
Mein Ziel bei der legitimen Verteidigung war mit meiner Freiheit verknüpft.
Anders formuliert heißt das: Entweder Freiheit oder Tod. Entweder
Ihr gebt mir meine Freiheit oder ihr tötet mich. Dass ich damals
ins Ausland ging und Stellungen in den Bergen errichtet wurden, hängt
damit zusammen, dass ich mich ganz im Rahmen dieser Auffassung befand.
Ohne einen solchen Rahmen ist eine entsprechende Einstellung zur Gewalt
wirklich Wahnsinn. In einem Staat, in dem ein begrenzter Weg zur Freiheit
offen ist, kann die Gewalt, kann sogar jeder Streit, der über das
zivilisierte Niveau hinausgeht, nicht legitim sein. Während in den
Anfangsjahren bis in die 90er-Jahre hinein die Unterdrückung bis
zur vollständigen Leugnung in jeder Hinsicht, persönlich, kulturell,
sprachlich, zur Gewalt führte, verlor dieser Weg für mich später
zunehmend an Bedeutung. Das war, als die Möglichkeit einer begrenzten
Freiheit zu Tage trat. Zivilisierte demokratische Methoden der Politik
gewannen an Einfluss. Nach 1993 habe ich das sehr oft betont. Mit jedem
Tag spürte man deutlicher, dass für den Fall einer Verständigung
mit dem Staat die Gewalt beendet werden sollte. Es war nicht etwa der
Mangel an Möglichkeiten, der dabei eine grundlegende Rolle spielte,
sondern es waren die Sinnlosigkeit und die Meinung, dass man mit demokratischer
Politik zum Ziel gelangen kann. Mein grundlegender Fehler in dieser Sache
ist, dass ich den Prozess des Waffenstillstandes und die vom Staat getroffenen
Vorbereitungen nicht richtig gesehen und ausgewertet habe. Damit habe
ich eine historische Chance verpasst. Bei der späteren Entwicklung
der Gewalt handelte es sich um eine Wiederholung. Diese war erbarmungslos
und verlustreich, aber auch völlig sinnlos. Auf beiden Seiten gab
es ein unkontrolliertes Banditentum, es kam zu Verlusten und schweren
Zerstörungen.
Ich merkte das und bemühte mich, nachdem uns 1996 erneut die indirekten
Botschaften des Staates erreichten, die Lage unter Kontrolle zu halten
und in Form von Waffenstillständen den demokratischen, politischen
Prozess vorzubereiten. Wenn es auch nicht ganz in dem gewünschten
Maße gelungen ist, muss ich doch anmerken, dass ich den Prozess
auf ein Niveau brachte, das kontrollierter und für eine demokratische
Lösung geeignet ist. Eine meiner wichtigsten Tätigkeiten, die
auf der persönlichen Ebene in Betracht gezogen werden sollten, sind
meine Bemühungen, ab den 90er-Jahren das Programm und die Propaganda
der PKK, die aus der Welt der 70er-Jahre stammten, zu verändern und
zu überwinden.
Im Zusammenhang mit der allgemeinen, nicht offiziellen, aber faktischen
Demokratisierung der Türkei habe ich betont, dass die kurdische Gesellschaft
die feudalen Verhältnisse mit ihrem demokratischen Willen überwinden
kann und somit die Lösung in der demokratischen Einheit besteht.
Das wissen die betreffenden staatlichen Einrichtungen sehr gut. Es wurde
ausführlich erörtert, dass für die Kurden die beste Freiheit
und Unabhängigkeit nur unter den Bedingungen einer Demokratischen
Republik stattfinden können. Ich teile die Auffassung in der Anklageschrift
nicht, in der die Begriffe Unabhängigkeit und Freiheit
im Sinne eines getrennten Staates interpretiert werden. In meinen Analysen
der letzten Zeit, in denen auch der Inhalt erläutert wird, habe ich
erklärt, dass mein Ziel freie Bürger und eine freie Gesellschaft
sind und dass im Falle einer Trennung die Kurden durch den Druck der inneren
und äußeren Bedingungen in eine noch schwerere Sklaverei und
Abhängigkeit geraten würden. Aus diesem Grunde bestehe die Möglichkeit,
mit der Türkei und mit der Demokratischen Republik, wie es in den
20er-Jahren während der nationalen Befreiung war, praktisch noch
freier und unabhängiger zu sein. Diese Punkte stehen in meinen zahlreichen
schriftlichen Erklärungen. Außerdem habe ich den Begriff Unabhängigkeit
eher in einer Dimension der Idee und des Willens benutzt. Ich habe immer
betont, dass aus der Vereinigung derjenigen, die Unabhängigkeit und
Freiheit besitzen, eine starke Einheit entstehen kann. Es gibt zahlreiche
Beispiele, die beweisen, dass erzwungene unterwürfige Zusammenschlüsse
immer zur Schwächung, zu Loslösung und Aufständen führen.
Das wichtigste ist, dass die freiwillige Einheit bereits bei der Gründung
der Republik vorhanden war. Es gab die Tatsache der Kurden als konstitutiven
Faktor. Gerade weil die Vergangenheit so schwere Probleme verursacht hat,
sollte das unter dem Gesichtspunkt von modernen Lösungen überprüft
werden. In der Phase der Entwicklung einer Demokratischen Republik sollte
das erneuert werden, um zu einer demokratischen Lösung zu gelangen.
Meine Analyse beruht in der jüngsten Zeit sowohl auf den weltweiten
Erfahrungen als auch auf der Geschichte der Türkei. Dies sollten
die Tatsachen zum Ausdruck bringen, die ich in dieser Verteidigung trotz
der erschwerten Bedingungen versucht habe zusammenzufassen. Ich glaube
an die historische Möglichkeit einer Lösung als ein Ergebnis
meiner Bemühungen.
Nach all diesen wesentlichen Entwicklungen habe ich den Vorschlag gemacht,
dass der bewaffnete Kampf beendet wird und die PKK sich prüft und
neu strukturiert, entsprechend dieser Phase und der Erfordernisse einer
Demokratischen Republik. Ich habe angemerkt, dass wir im Falle einer direkten
oder indirekten Antwort seitens des Staates in dieser Richtung vorbereitet
sein müssen. Wir müssen uns vor Augen halten, diesen Prozess
sogar bis zu einem Friedenskongress voranzubringen. Ich bin
zu dem entschiedenen Bewusstsein und zur Überzeugung gelangt, dass
in dieser Etappe ein umfassender Frieden als die wichtigste Aufgabe anzusehen
ist - nicht nur in Anbetracht der historischen Realität, sondern
auch der gegenwärtigen weltweiten Entwicklung. Der 200-jährige
Prozess, in dem schwere Auseinandersetzungen und Gewalt sowohl im Inneren
des Staates als auch in der kurdischen Rebellion durchlebt wurden, muss
nun beendet werden. Das Wichtigste ist jetzt eine Politik des gesellschaftlichen
Konsenses und einer Reorganisation, die nur in einem demokratischen System
zu erreichen ist. Ich habe immer wieder die Notwendigkeit, meinen Wunsch
und die starke Hoffnung betont, dass das 21. Jahrhundert in diesem Sinne
ein Jahrhundert des Friedens sein möge.
Die Sicht der marxistischen Ideologie betreffend, auf die in der Anklageschrift
eingegangen wird, gibt es wichtige Punkte, auf die ich eingehen möchte.
Mit meiner kritischen Herangehensweise an den Realsozialismus, der die
Welt der 70er-Jahre beherrschte und unter dessen Einfluss man stand, habe
ich zunehmend die Unzulänglichkeiten erkannt und kritisiert, die
das Ziel einer sozialistischen Demokratie behinderten. Durch die dogmatischen
Auffassungen verringerte sich die Chance, kreativ an die vor uns stehenden
Fragen heranzugehen. Darauf habe ich den Zerfall der Sowjetunion zurückgeführt.
Ich habe das vorhergesehen und entsprechend bewertet, dass es sich nicht
um den Zerfall des Sozialismus handelte, sondern dass die Entwicklungen
Ergebnis mangelnder Demokratisierung waren. Die Auflösung der Linken
in der Türkei führte ich auf diese Tradition zurück. Es
gibt von mir dazu umfassende schriftliche Analysen. Darum war ich immer
bemüht, die Einflüsse der türkischen Linken innerhalb der
PKK zu überwinden. Weil die klassischen Auffassungen in ihrem Programm
den geschichtlichen und aktuellen Entwicklungen nicht entsprachen, sah
ich die Notwendigkeit, diese Auffassungen zu überwinden.
Ich bin nach wie vor der Überzeugung, dass der Sozialismus eine Antwort
auf die grundlegenden Fragen der Gesellschaft und Epoche sein wird, sofern
er seine demokratische Auffassung und Praxis entwickelt. Aber er bedarf
wirklich einer grundlegenden Erneuerung. Ohne die Überwindung der
schweren Deformationen des Realsozialismus kann man nicht zum demokratischen
Sozialismus gelangen - weder durch einen extremen Umbruch, wie in Russland,
noch durch eine oberflächliche Kritik. Der Kapitalismus, obwohl selbst
veraltet, ist in seinem Wesen entwicklungs- und lebensfähig, da er
sich im Rahmen der Demokratie erneuern kann. Der Grund für den Untergang
des Realsozialismus ist nicht nur, dass er die Demokratie nicht entwickeln
konnte, sondern auch, dass er keinen starken Vorstoß in diese Richtung
unternehmen konnte.
In der Türkei lässt sich das noch konkreter sehen. Die Nichtentfaltung
des demokratischen Sozialismus, der eigentlich ein unverzichtbares Bedürfnis
der Gesellschaft ist, hat in der Türkei die Lösung der gesellschaftlichen
Probleme erschwert. Es ist bekannt, wie die rechten Auffassungen die Probleme
vertieft haben. Wenn es der Linken in der kommenden Periode gelingt, in
der grundlegenden Frage der Türkei, der Kurdenfrage, erfolgreich
die demokratische Methode in die Praxis umzusetzen, dann wird sie auch
wieder gebraucht und wird beweisen können, dass die Demokratie ohne
sie nicht funktioniert. Ich stehe zu dieser Überzeugung und die freie
Vereinigung erfordert das.
Auch meine Auffassungen über Heimat und Patriotismus muss ich zur
Sprache bringen. Das ist deswegen von Bedeutung, weil ich gemäß
der Anklageschrift nach Paragraf 125 vor Gericht stehe. Dieser Paragraf
besagt, des Hochverrates beschuldigt zu werden und einen anderen Staat
errichten zu wollen. Der Slogan Freie Heimat oder Tod ist
für mich von großer Bedeutung. Das Besondere daran ist, dass
der Begriff von der gemeinsamen Heimat aus der Zeit der nationalen Befreiung
und der Gründung der Republik nicht zum Begriff des freien Bürgers
entwickelt und in gesellschaftliches Bewusstsein transformiert werden
konnte. Insbesondere für die Kurden ist es ein großer Mangel,
dass sie ein schwaches Bewusstsein und Gefühl dafür haben und
dass sie sowohl die geografische Region, in der sie selbst geboren sind,
als auch die ganze Türkei, deren Teil sie sind, als ihre Heimat betrachten.
Das führt zu einer Lage, die es erlaubt, damit zu spielen. Der Begriff
eines losgelösten Kurdistans ist das Ergebnis. Es ist gefährlich,
die Realität nicht offen darzulegen. Als Schlussfolgerung aus meinen
Erfahrungen, die ich in den Kämpfen erworben habe, halte ich es für
wichtig, ohne Beachtung der nationalen Unterschiede zu einem Begriff von
gemeinsamem Heimatland und gemeinsamer Nation zu gelangen. Es gibt Beispiele
von Ländern mit vielen Nationalitäten, wie die USA, Schweiz
u.ä., wo eine einzige nationale Sprache oder auch mehrere Sprachen
gesprochen werden.
Es ist klar, dass in der Türkei diese Auffassung zur Grundlage für
eine demokratische Lösung genommen werden muss. Was bis jetzt fehlte,
war die Demokratie. Der moderne Vaterlandsbegriff erfordert Freiheit für
alle Individuen, für Sprache und Kultur. Wenn es Freiheit gibt, verstärkt
sich in gleichem Maße die Unabhängigkeit des Vaterlandes. In
der Türkei wird beides wie ein Widerspruch gesehen, als ob das eine
Konzept das andere schwäche. Das ist ein grundlegender Fehler. Es
ist das wichtigste demokratische Problem, das gelöst werden muss.
Ich glaube, dass ich eine umfassende Lösung für dieses Problem
gefunden habe.
Das Gleiche gilt auch für den Begriff des unabhängigen Staates.
Am Anfang waren wir in Dogmatismus befangen, indem wir eine Person oder
eine Gruppe betrachteten und gegen sie die schärfsten Anschuldigungen
richteten, ohne darüber nachzudenken, wie weit dieser Staat uns gehört
und wie weit nicht.
Dies hat unsere politischen Überlegungen und Handlungen beeinflusst.
Mir ist in dieser Phase gründlich klar geworden, dass wir - bei wissenschaftlicher
Betrachtungsweise - nicht gegen den Staat auftreten müssen, sondern
gegen seine oligarchische Vertretung. Dass für die Unabhängigkeit
nicht die Zerstörung, sondern die Demokratisierung zur Grundlage
genommen werden muss, dass es realistisch und eine demokratische Aufgabe
ist, nicht für die Spaltung, sondern für einen Zusammenschluss
aus freiem Willen zu arbeiten.
Ich habe mich intensiv mit der konkreten Realität der Begriffe Vaterland
und Staat befasst, die in der Türkei bei der Linken schwach
entwickelt sind und viele Fehler beinhalten; ich glaube, dass ihre Entfaltung
zu wichtigen Ergebnissen führen wird. Solange bei der Linken und
den kurdischen Nationalisten die oberflächlichen und fehlerhaften
Auffassungen von diesen Begriffen nicht überwunden sind, bin ich
der Ansicht, dass sie die Probleme nur verschärfen und daher keine
Alternative entwickeln können. Auch ihre zunehmende Marginalisierung
deutet darauf hin.
Die Rechten konnten stärker werden und bleiben, weil sie aus Opportunismus
und politischen Interessen sich noch staatstreuer und vaterländischer
darstellten.
Aber die Methoden dieser Schichten sind weit davon entfernt, in Sachen
eines freien Vaterlandes und eines unabhängigen Staates integrativ
zu handeln. Sie stellen eine Gefahr dar, die den Separatismus anheizt.
Es ist nicht nur eine bedeutende ideologische Frage, sondern auch eine
Frage der politischen Kultur, wie man in der Türkei zu einem richtigen,
integrierten Vaterland und zu einem großen Staat gelangen kann.
Ich selber habe in meiner Verteidigung mein Verständnis von Integration
und Demokratie und meine politische Haltung, welche die Grundlage für
die politischen Auffassungen bildet, von Grund auf dargelegt. Ich glaube,
dass dies ein Schritt nach vorn ist und wichtige Entwicklungen hervorrufen
kann.
Aufgrund meiner Persönlichkeit ist es nicht möglich, dass ich
Beziehungen mit Kräften des Auslands entwickle, die über diesen
Rahmen hinausgehen. Der beste Beweis dafür ist die Realisierung eines
niederträchtigen Komplotts derjenigen, die sich als Freunde ausgaben.
Wäre ich eine Marionette, wären sie wahrscheinlich in der Lage
gewesen, mich zu verstecken und gegen die Türkei, die viele Feinde
hat, zu benutzen. Da sie im Gegenteil wussten, dass sie mich langfristig
nicht zum Nachteil der Türkei ausnutzen konnten, und um unsere Kämpfe
mit der Türkei noch mehr anzufachen, haben sie keines der internationalen
Rechte, auch nicht die humanitären Maßstäbe anerkannt,
haben mich nicht aufgenommen, sondern sogar ausgeliefert.
Meine ganze Praxis außerhalb der Türkei ist, wie ich zum Ausdruck
gebracht habe, aufs engste verbunden mit meinem Ziel: Freies Vaterland
und Demokratische Republik. Auf dieser Grundlage stelle ich mich
mit meiner ganzen Person zur Verfügung und setze mich ein für
ein freies Vaterland und die demokratische Einheit. Die Geschichte beweist
das, jeder weitere Tag wird es beweisen.
Wenn ich unter dem Aspekt der wichtigsten politischen und praktischen
Entwicklungen mich selbst überprüfe, welche Bedeutung meiner
Linie von Persönlichkeit zukommt, so ist sowohl die Historität
des Geschehenen zu analysieren als auch sein Beitrag zur Bewusstseins-
und Willensbildung und zur Aktivität einer Gesellschaft, die hierdurch
als solche aufgerüttelt werden sollte.
Es ist die Realität einer kranken, marginalisierten Gesellschaftsschicht,
die einen Ausweg sucht. Einer Gesellschaft, die unter den seit Jahrhunderten
sich anhäufenden Problemen weder sich selbst leben, noch das Aufgezwungene
verinnerlichen konnte. Es ist die Geschichte des unglaublich schweren
Erreichens unseres Zeitalters. Den größten Schmerz im Aufstand
habe ich am eigenen Leibe erlebt. Die Schuld der ganzen Geschichte und
alle Aufgaben werden mir als Last aufgebürdet, obwohl sie doch von
jedem erkannt werden müssten. Es ist klar, dass ich mit einer großen
Unbarmherzigkeit konfrontiert bin.
Es
ist mein Recht, folgende Fragen zu stellen:
- Wer
ist der Verantwortliche für all die Aufstände der Geschichte?
- Wer
stellt sich den Entwicklungen der Welt entgegen?
- Wer
verschärft ständig die Probleme?
- Wo
wird es als Lösung angesehen, wenn die Probleme unterdrückt
und unter den Teppich gekehrt werden?
- Wer
ist verantwortlich für diese beispiellose gesellschaftliche Realität,
in der es sogar verboten ist, die Muttersprache zu sprechen?
- Wer
ist es, der dem Staat und Brudervolk in der Geschichte viel gegeben
hat und zum Schluss selbst vor der Verleugnung steht?
Nichts
anderes wollte ich, als auf diese Fragen Antworten finden. Der gegenwärtige
Aufstand hat zum Teil Antworten gegeben. Wenn die gesellschaftlichen Fragen
nicht rechtzeitig gelöst werden, beginnen sie zu vereitern. Die Eiterbeule
ist geplatzt und, physisch gesehen, schmerzt nun der ganze Körper.
Auch die gesunden Teile, die es nicht verdienen, empfinden aufgrund der
vereiterten Stellen Schmerz. Einen Aufstand zu entfachen, ist nur die
eine Hälfte des Ganzen. Jetzt muss die Wunde medizinisch behandelt
und ein Verband angelegt werden. Die Behandlung heißt: gesellschaftlicher
Frieden. Und wieder bin ich es, der dessen tiefe Bedeutung erkennt und
sich für ihn verantwortlich fühlt.
Ich glaube, dass ich die Friedenspersönlichkeit, von deren Notwendigkeit
ich in meinem Innersten überzeugt bin, auf vielseitige Weise analysiert
habe. Ständig konzentriere ich mich, um die theoretischen und politischen
Aspekte sowie den Inhalt und die Ziele zu erfassen. Mit dem Staat und
mit allen Schichten der Gesellschaft möchte ich mein intensives Engagement
für den Frieden teilen. Ich zweifle nicht, dass es historische und
gesellschaftliche Auswirkungen haben wird, was ich in dieser Richtung
leisten kann. Mit der Freiheit ist eine historische Grundlage geschaffen,
auf welcher der Staat wieder mit der Gesellschaft verbunden und versöhnt
wird. Die Demokratische Republik bildet ihren Rahmen. Wenn ich die Möglichkeit
dazu erhalte, werde ich mich mit ganzer Kraft und Leidenschaft für
die Errichtung einer Gesellschaft freier Bürger und des freien Volkes
einsetzen. Dies habe ich versucht gegenüber der Republik, dem demokratischen
Zusammenschluss, dem Frieden und der Völkerfreundschaft zu vertreten.
*Mahir
Cayan war neben Deniz Gezmis und Ibrahim Kapakaya einer der bekanntesten
Führer der revolutionären Jugendbewegung in der Türkei
Anfang der 70er-Jahre.
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