Angriff auf die Pressefreiheit Schily brachte eine Stimme der Kurden zum Schweigen 10 Jahre lang war die türkischsprachige Tageszeitung Özgür Politika eine der wichtigsten Informationsquellen der millionenstarken kurdischen Migration in Europa. Auch demokratisch gesinnte Türken nutzten die in einer Auflage von bis zu 10.000 Exemplaren erschienene „Freie Politik“ als Alternative zu monopolisierten nationalistischen Hetzblättern wie Hürriyet. Ein Schwerpunkt der
Özgür Politika waren Korrespondentenberichte aus Kurdistan,
der Türkei und dem gesamten Mittleren Osten. Während die Auseinandersetzungen
in den kurdischen Landesteilen in den europäischen Medien nach der
Verschleppung von Abdullah Öcalan weitgehend ignoriert wurde und
in der türkischen Presse nur unter dem Stichwort „Terrorismus“
Erwähnung fand, meldeten die Korrespondenten der Özgür
Politika täglich die Fort- oder Rückschritte der Türkei
auf dem Weg zur Demokratisierung und Gleichberechtigung der Völker.
In der Natur der Sache liegt es, daß auch die in Nordkurdistan unbestreitbar
stärkste politische Gruppierung - die PKK und Kongra-Gel –
in der Zeitung zu Wort kamen. Ankara hatte daher schon lange ein Verbot der Özgür Politika gefordert. Wie der türkische Generalstabsvorsitzende Ilker Basburg erneut am 19. Juli deutlich machte, gehe es darum, „Institutionen, Personen und zivilgesellschaftliche Organisationen, die eine Verbindung zur Organisation [PKK] unterhalten, die diese unterstützen und Propaganda für sie machen“, zu bekämpfen. Neben der Özgür Politika sind insbesondere die in Dänemark lizensierten Fernsehsender Roj TV und Mezopotamya TV ins Visier des türkischen Staates gerückt. Am 5. September folgte der Schlag. Die E.Xani-Herausgebergesellschaft der Özgür Politika wurde aufgrund eines Bescheids des Bundesinnenministers vom 30. August wegen angeblicher Unterstützung der PKK verboten, Redaktions- und Verlagsräume im hessischen Neuisenburg sowie Privatwohnungen der Mitarbeiter von der Polizei gestürmt. In acht Bundesländern wurden 66 Objekte durchsucht. Darunter waren allerdings Räumlichkeiten und eine Moschee, die von einem ebenfalls verbotenen Kinderhilfsvereins genutzt wurden, der der palästinensischen Widerstandspartei Hamas nahestehen soll. Die Polizei beschlagnahmte bei der E Xani Presse- und Verlags-GmbH Gelder in Höhe von 22.000 Euro und 70.000 Schweizer Franken sowie Computer und andere zur Zeitungsproduktion notwendiger Geräte. Mitgenommen wurden auch das Archiv der Zeitung und selbst die Topfpflanzen aus den Redaktionsräumen. Anschließend wurden die Räume versiegelt. Für 20 hauptamtliche Mitarbeiter bedeutet das Verbot Arbeitslosigkeit, betroffen sind aber auch bis zu 80 weitere Korrespondenten. Razzien gab es auch bei der Mesopotamischen Nachrichtenagentur MHA und dem Roj-Online-Dienst, die im gleichen Gebäude wie die Redaktion der Özgür Politika untergebracht sind. Auch hier beschlagnahmte die Polizei Arbeitsmittel und Archivunterlagen. Weiterhin durchsucht wurden der MIR-Musikverlag in Düsseldorf und der Mezopotamien-Verlag in Köln. Beschlagnahmt wurde dabei neben CDs und Kassetten mit Liedern über die Guerilla auch die im deutschen Atlantik-Verlag erschienenen Verteidigungsschriften Abdullah Öcalans, Ausgaben des Kurdistan Reports und nahezu die gesamte Auflage eines neuen Romans des kurdischen Exilschriftstellers Haydar Isik. „Son Siginma“ handelt vom Schicksal eines Lehrers, der aufgrund seiner kurdischen Herkunft Verfolgung, Gefängnis, Folter und Exil erleidet und sich der Guerilla anschließt. Wie das Bundesinnenministerium erklärte, laufen derzeit vereinsrechtliche Ermittlungsverfahren gegen die MHA sowie die beiden Verlage. Ein zukünftiges Verbot ist nicht auszuschließen. Zudem ist die Arbeit der betroffenen Institutionen durch die Beschlagnahmung ihrer Arbeitsmittel und Lagerbestände weitgehend lahmgelegt. Zwei Wochen vor der
Bundestagswahl präsentierte sich Bundesinnenminister Otto Schily
einmal mehr als Hardliner und Law-and-Order-Mann, dem demokratische Grundrechte
nicht viel gelten. Die Bundesregierung gehe entschlossen gegen jedwede
Aktivitäten vor, die einen extremistischen oder terroristischen Hintergrund
haben, erklärte Schily anläßlich des Verbotes der Özgür
Politika. Worin der „extremistische“ oder „terroristische“
Hintergrund der Tageszeitung bestehen soll, blieb Schily allerdings schuldig.
Aushebelung der Pressefreiheit durch das Vereinsgesetz Im Verbotsbescheid
des Bundesinnenministeriums heißt es: „Auch strafrechtliche
Sanktionen gegen die Leitung und/oder die Mitarbeiter des Vereins scheiden
als milderes Mittel aus, da diese nur punktuelle Wirkung entfalten und
nicht den Verlag als Ganzes treffen werden.“ Das hohe Gut der Pressefreiheit
wird über den Umweg des Vereinsgesetzes ausgehebelt, indem die E.Xani
Presse- und Verlags-GmbH kurzerhand zum Verein erklärt und wegen
angeblicher Zuwiderhandlung gegen das Betätigungsverbot der PKK verboten
wurde. Zwar ist damit die Özgür Politika nicht direkt verboten,
doch in der Verbotsverfügung heißt es: „Es ist verboten,
Kennzeichen der E.Xani Presse- und Verlags GmbH öffentlich, in einer
Versammlung oder in Schriften, Ton- oder Bildträgern, Abbildungen
oder Darstellungen, die verbreitet werden können oder zur Verbreitung
bestimmt sind, zu verwenden. Dies gilt insbesondere für das Logo
der Zeitung ÖZGÜR POLITIKA in roten Großbuchstaben.“
Prompt wurde am 10. September in Hamburg eine kurdische Demonstrantin
festgenommen, weil sie ein Schild mit der Aufschrift „Özgür
Politika ist meine Stimme“ hochhielt. Daß die Bundesregierung ausgerechnet zwei Wochen vor den vorgezogenen Bundestagswahlen diesem Wunsch Folge leistet, kann kaum ein Zufall sein. Offensichtlich zielt Schilys Vorgehen auf die Gewinnung Stimmen türkischstämmiger Wähler, die ihr Wahlverhalten häufig von den Vorgaben der türkischen Regierung sowie türkisch-nationalistischen Massenmedien abhängig machen. Schon nach der Bundestagswahl vor drei Jahren hielt sich hartnäckig das Gerücht, 6000 „türkische“ Stimmen seien ausschlaggebend für den knappen Sieg der rot-grünen Regierungskoalition gewesen. Da die Linkspartei mit dem Vorsitzenden der Türkischen Gemeinde in Deutschland Hakki Keskin einen bekannten Vertreter der türkischen Migration aufgestellt hatte, drohte jetzt die Abwanderung türkischer Wähler zur ehemaligen PDS. Wie wichtig die Stimmen eingebürgerter Türken für die Bundesregierung sind, bestätigte der Besuch von Bundeskanzler Gerhard Schröder in der Deutschlandvertretung des türkischen Medienkonzerns Dogan im hessischen Mörfelden-Walldorf. Mit den Zeitungen Hürriyet und Milliyet sowie den Fernsehsendern CNN-Türk und Kanal D erreicht Aydin Dogan täglich rund eine halbe Million türkischstämmiger Wähler. Vor einer überdimensionalen türkischen Fahne ließ sich der Kanzler eine knappe Woche vor dem Wahltag als Freund der Türkei feiern. Reaktionen auf das Verbot Noch während Polizeikräfte das Inventar der Özgür Politika abtransportierten, versammelten sich spontan Hunderte Kurden aus dem Raum Frankfurt vor dem Redaktionsgebäude, um gemeinsam mit den Mitarbeitern gegen das Verbot zu protestieren. Gemeinsam mit der Publizistin und Filmemacherin Ayan Hirsi Ali protestierte auch der ungarische Literaturnobelpreisträger Imré Kertesz noch am Verbotstag gegen die Verfolgung kurdischer Stimmen: „Der aktuelle Angriff auf die Freiheit des kurdischen Wortes und die Medien und Stimmen der Menschen kurdischer Herkunft ist vielleicht wahlkampftaktischen Gründen geschuldet – keinesfalls aber entspricht er der Demokratie, der Vernunft und der historischen Gelegenheit, über die Anbindung der Türkei an Europa auch den legitimen kurdischen Erwartungen zu entsprechen. In einem Dialog, der Frieden begründet.“ Während Bayerns Innenminister Günther Beckstein (CSU) die Schließung der Özgür Politika „überfällig“ nannte, protestierten die Linkspartei und die Wahlalternative Arbeit &Soziale Gerechtigkeit gegen den „Angriff auf die Presse- und Meinungsfreiheit“ und einen „Wahlkampf auf dem Rücken der Migrantinnen und Migranten“. Die Bundesregierung liefere „in ihrer Härte der türkischen Regierung ein Beispiel, welche Vorgehensweise aus europäischer Sicht tolerabel ist“, beklagt sich der Republikanische Anwältinnen und Anwälteverein über „die blinde Gefolgschaft des Bundesinnenministers gegenüber den Wünschen der türkischen Regierung“. Die in der „Kooperation für den Frieden“ zusammengeschlossenen Verbände der Friedensbewegung halten das Verbot der Özgür Politika für „friedensfeindlich“, denn die Zeitung setze „sich für eine zivile und politische Lösung des türkisch-kurdischen Konflikts ein und tritt gegen eine Eskalation von Gewalt auf“. Die Friedenskooperative warnt: Wer er auch in Deutschland die kurdisch-stämmige Bevölkerung ihrer demokratischen Möglichkeiten und Rechte beraubt und damit als verlängerter Arm der reaktionären Kräfte der Türkei dient, macht Deutschland nicht sicherer, sondern zerstört die Möglichkeiten zu friedlichen Lösungen.“ Die Dokumentation politischer Grundsatzpositionen der PKK sei „nicht gleichzusetzen mit der Einbindung in eine Befehls- und Kommandostruktur“, erklärte der hessische Geschäftsführer der deutschen Journalistenunion dju Manfred Moos. Polizeiliche Aktionen gegen eine Redaktion sind aus Sicht der dju besonders schwerwiegend. Sie gefährden den Vertrauensschutz von Informanten gegenüber der Presse und zugleich den grundgesetzlich garantierten Schutz der Presse. Pressefreiheit in Gefahr „Die durch das Verbot einer Zeitung berührte Pressefreiheit hat einen hohen Stellenwert; sie muß im vorliegenden Fall jedoch hinter den Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik Deutschland und dem Interesse des Staates, sein vereinsrechtliches Verbot der PKK aus dem Jahre 1993 nachhaltig durchzusetzen, zurücktreten“, erklärte Otto Schily am Tag des Verbots. Der Fall „Özgür
Politika“ ist nur die Spitze des Eisbergs. Tatsächlich kam
es in den letzten Monaten in Deutschland zu einer ganzen Reihe von staatlichen
Übergriffen gegen Redaktionen und Journalisten. So wurde Anfang Juni
die Münchner Wohnung des Autors dieses Artikels als angeblicher Organisator
einer antifaschistischen Protestaktion von der Polizei durchsucht und
sämtliche journalistischen Arbeitsmittel, Adreß-, Termin-,
und Notizbücher beschlagnahmt. Wie sich herausstelle, war es ein
Ziel des Staatsschutzes, an die Daten des junge-Welt-Korrespondenten über
linke Strukturen in München zu kommen. Der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Zeitungsverleger Helmut Heinen warnte nach der Razzia bei Cicero, in Deutschland werde die Pressefreiheit durch Beschlagnahme, Abhörmaßnahmen und die Durchsuchung von Büros und Redaktionsräumen zunehmend gefährdet. Daß das Verbot der Özgür Politika kein Ausrutscher war und Otto Schily offensichtlich generell mit der Pressefreiheit auf Kriegsfuß steht, offenbarte der Bundesinnenminister ausgerechnet in einer Rede vor dem Zeitungskongreß am 26. September im Berliner Maritim-Hote. Journalisten stellen sich "außerhalb der Gesetze". Ginge das so weiter, kenne er bald "kein Pardon" mehr, erklärte Schily als Gastredner. Beunruhigend ist,
daß es weder beim Verbot der Özgür Politika noch anläßlich
der Polizeimaßnahmen gegen andere Journalisten oder den Ausfällen
von Schily gegen die Medienfreiheit zu einem Aufschrei einer breiteren
demokratischen Öffentlichkeit kam, wie etwa 1962 bei der Durchsuchung
der SPIEGEL-Redaktion. Und selbst die Proteste von Zeitungsverlegern und
Medienexperten gegen die Durchsuchung der Cicero-Redaktion haben das Verbot
der Özgür Politika gänzlich ignoriert.
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