Die Phase der nationalen Befreiung
Da die Bewegung der KDP nur eine Fortsetzung der traditionellen kurdischen
Aufstände darstellte und sie sich den Verhältnissen nach dem
Zweiten Weltkrieg zum Teil anpaßte, schaffte sie es nicht, die Form
einer modernen nationalen Befreiungsbewegung anzunehmen. Infolgedessen
erlitt die Bewegung in den siebziger Jahren eine Niederlage. Ein positives
Element dieser Bewegung war es, im Namen des kurdischen Bewußtseins
vorzugehen und dieses lebendig zu erhalten; das negative Element dabei
war jedoch, daß die kurdische nationale Frage verschiedenartig verzerrt
und zu einem Werkzeug fremder hegemonialer Kräfte wurde.
In den siebziger Jahren, als in Kurdistan in einem gewissen Rahmen
eine moderne sozio-ökonomische Entwicklung festzustellen war, und
die KDP eine Niederlage erlebt hatte, begannen sich in Kurdistan neue ideologische
und politische Strömungen zu entwickeln. Während sich die kleinbürgerlichen
Strömungen in unterschiedlicher Ausformung in den nordwestlichen und
südlichen Teilen Kurdistans herausformten, schuf unsere Partei, die
PKK, eine revolutionäre und nationale Linie der Arbeiter und Werktätigen.
Die Entstehung unserer Partei als eine revolutionäre sozialistische
Avantgarde und gleichzeitig als eine moderne nationale Befreiungsbewegung
stellt in der Geschichte Kurdistans einen einschneidenden Wendepunkt dar.
Sie leitete eine neue Phase ein, nämlich jene Phase, welche gekennzeichnet
ist vom Ende der entwickelten kolonialen Hegemonie und vom Ende der nationalen
Vernichtung, die mit Widerstand die nationale Identität verteidigt
und den nationalen Befreiungskampf propagiert. Indem sie innerhalb der
nationalen Befreiung die revolutionäre Linie durchsetzte, sich auf
die modernen Entwicklungen in Nordwestkurdistan stützte und die Führung
der Arbeiterschaft und der Bevölkerung des geographisch größten
Teils Kurdistans formierte, wurden die Verzerrungen der anderen nationalen
Befreiungsbewegungen korrigiert und auf dieser Grundlage die patriottischen
Bevölkerungskreise vereint und wiederbelebt.
Unsere Partei, die sich im Jahre 1978 nach einer fünfjährigen
ideologischen Formierungsphase offiziell gründete und sich zur nationalen
Befreiung dem politischen und militärischen Kampf zuwendete, versetzte
der Türkischen Republik, welche die Existenz unseres Volkes leugnete,
einen harten Schlag. All dies führte schließlich zum faschistischen
Militärputsch vom 12. september 1980. In der Zeit von 1970 bis 1980
hatte sich die ideologische und politische Linie der nationalen Befreiung
herausgeformt. Auf dieser Basis realisierten sich die ersten revolutionären
Aktionen der Bevölkerung. In philosophischer Hinsicht hingegen war
es eine Zeit, in der sich die koloniale Hegemonie in ihren Grundgedanken
auflöste.
Die Zeit von 1980 bis 1990 jedoch, die auf den Widerstand gegen das
faschistische und kolonialistische Regime vom 12. September und die Aktionen
vom 15. August 1984 aufbaute, zerstetzte die Herrschaft der Türkischen
Republik in Kurdistan und war gleichzeitig eine Phase, in den die kurdische
Gesellschaft eine enorme Bewußtseinsbildung in revolutionärer
und nationaler Hinsicht durchmachte und in der sich die nationale Befreiungsbewegung
zu einer Front und einer Armee entwickelte. Diese nationalen und revolutionären
Fortschritte in Nordwestkurdistan unter Führung unserer Partei zeigten
bald Wirkungen auf ganz Kurdistan.
Heute findet in Nordwestkurdistan eine sehr tiefgehende nationale und
gesellschaftlichen Revolution statt. Der nationale Befreiungskampf, der
sich gegen der von der Türkischen Republik vorangetriebenen Spezialkrieg
richtet, wird in allen Teilen unseres Landes geführt. Das Volk, das
sich unter Führung unserer Partei vereint und ein Bewußtsein
entwickelt hat, schreitet, indem es in seinem entschiedenen Kampf auch
alle nur denkbaren Schmerzen und Schwierigkeiten auf sich nimmt, voran
zum vollständigen Zerbrechen der Kolonialherrschaft und zur Errichtung
einer nationalen und demokratischen Volksherrschaft. Auf dieser Grundlage
wird sich der nationalen Befreiungskampf auch auf die anderen Teile Kurdistans
ausbreiten und wird so die Einheit Kurdistans schaffen.
Der kleine, westliche Teil Südkurdistans befindet sich unter starkem
Einfluß des sich entwickelnden Kampfes in Nordwestkurdistan. Besonders
seit Mitte der achtziger Jahre nimmt die Bevölkerung dieses Teils
in großem Ausmaß und sehr aktiv daran teil. Außerdem
erlebt die Bevölkerung dieses Teils unter Führung unserer Partei
eine sehr tiefgehende nationale und demokratische Umwählzung. Bei
dieser Bewußtwerdung und Organisierung des Volkes spielen auch die
Beziehung zwischen unserer nationalen Befreiungsbewegung und den fortschrittlichen
arabischen Kräften eine wichtige Rolle.
In einem großen Teil Südkurdistans hatte sich nach der Niederlage
von 1974 die Hegemonie der irakisch-arabischen Herrschaft weiterentwickelt.
Als jedoch im Verlauf des im September 1980 beginnenden iranisch-irakischen
Krieges die irakische Regierung einen wichtigen Teil ihren Kräfte
aus Kurdistan zurückzog, begann in diesem Teil erneut ein bewaffneter
Widerstand. Obgleich dieser bewaffnete Widerstand die alten Qualitäten
zu überwinden und sich zu modernisieren versuchte, konnte er diesbezüglich
keine allzugroßen Erfolge verzeichnen und sich so im Jahre 1988 nicht
vor einer erneuten Niederlage retten. Unter der Wirkung des Golfkrieges
erlebte dieser Teil Kurdistans einen neuen Aufstand und ist mit dem Eingreifen
der imperialistischen Staaten zu einer Region geworden, in der verschiedene
Kräfte agieren. Während sich heute ein Teil des Gebiets unter
irakischer Herrschaft befindet, gibt es in dem geographisch größeren
Teil eine `föderative kurdische Regierung' unter Schutz ier Imperialistsichen
Staaten. Diese Situation in Südkurdistan ist unter Wirkung des nationalen
Befreiungskampfes in Nordwestkurdistans und den allgemeinen Entwickelungen
in der Welt entstanden. Mit dieser Entwicklung jedoch haben sich die Beziehungen
zwischen den nördlichen und den südlichen Teilen Kurdistans verstärkt
und so ist auch eine revolutionäre Vereinigung der beiden Teile auf
die Tagesordnung gekommen. Viele verschiedene Kräfte kämpfen,
um den derzeitigen unentschiedenen Status in diesem Teil Kurdistans zu
ihren eigenen Gunsten zu wenden.
In dem östlichen Teil Kurdistans kam es Ende des siebziger Jahre
zu heftigen Kämpfen. Als im Jahr 1979 das Schahregime unterging, verschwand
auch für kurze Zeit die Kolonialherrschaft über Ostkurdistan.
Die später anstelle des Schahregimes gegründete Islamische Republik
Iran stellte die Hegemonie über Ostkurdistan wieder her und fügt
mit ihrem sehr harten Vorgehen dort den traditionellen Widerstandskräften
eine fast vollständige Niederlage zu. Obwohl sich auch in diesem Teil
der Einfluß der nationalen Befreiungsbewegungen in Nordwestkurdistan
ausbreitet, so ist die nationale Befreiung dort im Vergleich zu den anderen
Teilen Kurdistans sehr weit zurück. Die derzeitige Lage in Kurdistan,
die sich in einem ständigen Veränderungsprozeß befindet,
weist folgende grundlegende Charakteristika auf:
a) Zwischen jenen Kräfte, die den alten Kolonialstatus aufrechterhalten
wollen, und den Kräften der nationalen Befreiung ist ein sehr heftiger
Kampf im Gange. Diesbezüglich stellt Kurdistan zur Zeit eine der am
meisten umkämpften Regionen der Welt dar.
b) Derzeit erlebt Kurdistan der Phase einer sehr tiefgreifenden nationalen
und demokratischen Revolution. In dieser Hinsicht repräsentiert Kurdistan
ein revolutionäres Zentrum mit Auswirkungen nicht nur auf die Region
selbst, sondern auf die ganze Welt. Das ganze leben in Kurdistan befindet
sich unter der prägenden und umwälzenden Entwicklung dieser Revolution.
c) Der in der Vergangenheit herausgebildete Status Kurdistans (nämlich
die koloniale Teilung) zerbricht durch den sich entwickelnden nationalen
Befreiungskampf. Zwischen den verschiedenen Teilen Kurdistans formiert
sich allmählich einer engere Beziehung und Einheit. Die alte Harmonie
zwischen den Imperialisten und den Kolonialstaaten befindet sich in Auflösung.
Derzeit liefern sich die neue kolonialistische Politik der Imperialisten,
die klassische Politiek der Kolonialstaaten, die Politik der Kollaborateure
und die Politik der nationalen Befreiung in Kurdistan einen Kampf.
d) Der nationale Befreiungskampf in Nordwestkurdistan beinhaltet ein
bestimmendes und richtungweisendes Element für ganz Kurdistan. |