Pinar Selek: Die Herrschaft der Angst Wir befinden uns im Land der Angst. Alles gehört ihr. Sie sitzt auf ihrem Thron und vernichtet, wen sie will. Sie bringt zum schweigen, wen sie will. Ihr Name lautet Angst. Sie beherrscht alles, sie herrscht auch über sich selbst. Je größer ihre Angst wird, desto grausamer wird sie. Wenn sie Angst hat, greift sie an. Sie macht Angst… und so regiert sie. Die in Semdinli gefundenen Bomben gehörten der Angst. Die gesamte Türkei hat überrascht beobachtet, was im Tatfahrzeug alles gefunden wurde. Je mehr die Beziehungen der gestellten Täter zum Vorschein kamen, desto intensiver wurden die Diskussionen. So wie beim Susurluk-Skandal, so wie bei der Fahnen-Provokation wurden die Seiten bestimmter Hefte, die nie geschlossen wurden, erneut umgeblättert. Ich erinnere mich an die fürchterliche Hoffnungslosigkeit, der wir begegneten, als wir mit einer IHD-Abordnung nach Semdinli fuhren. In jenen Tagen war die Hakkari-Bande freigesprochen worden. Die Menschen erzählten nach einander von der Rechtlosigkeit, die sie erlebt hatten. All dem zum Trotz sagten wir, dass der juristische Kampf wichtig ist und die Menschenrechtsorganisationen diesen Kampf beharrlich weiter führen. Und die Menschen von Semdinli hatten all dem zum Trotz dem Rechtssystem nicht den Rücken zugekehrt und die Tatverdächtigen mitsamt den Beweismitteln der Justiz ausgeliefert. Ein Ladeninhaber sagte: „Was haben wir schon außer unserer Hoffnung.“ Als die Justiz sich der Sache annahm, fing die Bevölkerung hat, mit einer gewissen Hoffnung abzuwarten. Dann erschien diese Anklageschrift. Oder das „Manifest von Semdinli“, wie die Medien es in den letzten Tagen genannt haben. Als ich die Anklageschrift das erste Mal las, fühlte ich mich an die höchst politische Schrift erinnert, mit der Baskin Oran und Ibrahim Kaboglu angeklagt wurden. Und an das Gericht, vor dem in den fünfziger Jahren der Friedensverein wegen „übler Nachrede gegen unser Bündnis mit dem großen Amerika“ stand. Diese Methode ist kein neuer Weg der politischen Abrechnung. Seit Jahren wird sie gegen Oppositionelle, denkende Menschen, Friedensaktivisten und Demokraten angewendet. Aber erstmalig wendet sie sich gegen die herrschende politische Struktur. Jeder wird sich erinnern, die Parlamentarische Untersuchungskommission hatte einen interessanten Susurluk-Bericht herausgegeben. Aber weil die Justiz die Angelegenheit nicht an sich nahm, blieb dieser Bericht in den Büchereien. Als wir nach Semdinli fuhren, sagten wir: „Semdinli wird nicht wie Susurluk werden.“ Wie es passieren konnte, ist noch nicht klar, aber ein Staatsanwalt hat die Tatsachen, die von demokratischen Kräften seit Jahren zur Sprache gebracht werden, in die juristische Prozedur fließen lassen. Dort, wo der Krieg in aller Erbarmungslosigkeit andauert, stellt sich ein Staatsanwalt hin und sagt: Die Justiz wird die Rechtlosigkeit beenden. Über all das habe ich nachgedacht. Dann habe ich mich gefragt, ob der Schreibstil dieser Anklageschrift wohl der Anlass dafür wird, dass die Angelegenheit auf ganz anderer Ebene diskutiert und das eigentliche Problem damit verschleiert wird? Das ist möglich. Die Entwicklungen deuten auf diese Gefahr hin. Die Ohrfeige, die der Generalstab dem Staatsanwalt versetzt hat, haben wir gemeinsam verfolgt. Die Militärs beschuldigen den Staatsanwalt, unter dem Einfluss einer „bestimmten Meinung“ zu stehen und sein Amt zu missbrauchen. Sie fordern die Regierung zur Intervention auf. Minister Cicek kündigt an, das „Notwendige“ werde veranlasst und erinnert an die eingeleiteten Ermittlungen gegen Staatsanwalt Sarikaya. Aber all das passiert direkt auf die Diskussion um „Eingriffe in die Justiz“ der letzten Zeit. Mit der Militärputsch-Verfassung ist die Unabhängigkeit der Justiz aufgehoben worden. Die folgenden Regierungen haben zu diesem Thema keinen Finger gerührt und das tun sie auch heute noch nicht. Darüber hinaus schränkt der Begriff „Eingriff in die Justiz“ die Demokratie-Kräfte ein, aber der politischen Gewalt geschieht gar nichts… Sicher, wer sind wir und wer steht hinter dem „Eingriff in die Justiz“? In die Justiz können nur Legislative, Exekutive oder das Militär eingreifen. Eine eigene Bedeutung hat bei diesen Eingriffen noch die Frage, ob die jeweilige Macht die Waffengewalt in ihren Händen hat. Aber richtet sich die Unabhängigkeit der Justiz nicht genau gegen diese Instanzen? Ja und Nein. Denn so heißt es doch: „Hier ist die Türkei. Hier ist niemand unabhängig vom Militär. Nicht die Gesetzgebung, nicht die ausführende Gewalt, nicht die Gerichtsbarkeit und auch nicht der Bäcker von nebenan…“ So ist das. Die Gerichtsbarkeit reicht nicht überall hin. Und während Justiz und Gesetze irgendwo gelagert werden, wird uns vom „Antiterrorkampf“ und der „nationalen Sicherheit“ erzählt. Genau, uns steht mal wieder die „Raison d’Etat“ gegenüber. Dieser Begriff wird in der internationalen Terminologie für ungesetzliches staatliches Handeln im hohen Interesse des Staates benutzt. Wenn es die hohen Interessen der staatlichen Herrschaft erfordern, kann der Staat die von ihm selbst erlassenen Gesetze außer Acht lassen. Damit wird die relative Legalität der „Raison d’Etat“ der Organisierung der Gewalt geopfert und die Angst errichtet ihre Herrschaft. Wie das funktioniert? Man kann es in der Zeitung lesen. Bei Kazim Zengin, dem Chef der „Sauna-Bande“, wurde das „Strategische Dokument zur inneren Sicherheit“ gefunden. Eben genau dieses Dokument, das im Rahmen des „Dokumentes zur Politik der nationalen Sicherheit“ erstellt und geheim gehalten worden war. So wird in der Türkei die nationale Sicherheit geschützt. Alles wird der Staatsraison geopfert. Ich glaube dennoch an das Recht und den juristischen Kampf. Als der Staatsanwalt für mich eine erschwerte, lebenslängliche Haftstrafe erforderte, habe ich den vor dem Gericht wartenden Journalisten das Gleiche gesagt. Ich sage es auch jetzt. Quelle: Gündem, 24.03.2006,
ISKU
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