junge Welt, 17.05.2006 Komplott gegen Pinar Selek Heute Urteilsverkündung nach sieben Jahre währendem Justizskandal gegen türkische Friedensaktivistin in Istanbul Nick Brauns Mit einem Justizkomplott soll eine türkische Friedensaktivistin zum Schweigen gebracht werden. Am heutigen Mittwoch wird das 12. Istanbuler Schwere Strafgericht das Urteil im siebenjährigen Verfahren gegen die Soziologin Pinar Selek wegen eines angeblich im Auftrag der kurdischen Arbeiterpartei PKK durchgeführten Anschlages sprechen. Pinar Selek und ihren Mitangeklagten Alaattin Oget, Isa Kaya und Kadriye Kubra Sevgi droht lebenslange Haft. Die 1971 in Istanbul geborene Pinar Selek studierte in Ankara Soziologie und absolvierte in Paris ihren Master. Sie arbeitete mit Straßenkindern und veröffentlichte eine Studie über Gewalt gegen Transsexuelle und Transvestiten in Istanbul. Außerdem übersetzte sie Texte des zapatistischen Subcomandante Marcos aus Mexiko ins Türkische. Ins Fadenkreuz des Staatsapparates geriet sie durch soziologische Studien zu den Hintergründen des Krieges zwischen der türkischen Armee und der kurdischen Befreiungsbewegung. Verhör unter Folter Im Juli 1998 wurde Pinar Selek festgenommen. Von der Antiterrorabteilung der Polizei wurde sie unter Folter verhört, ohne die Namen der PKK-Mitglieder preiszugeben, die sie für ihr Buch interviewt hatte. Erst aus den Fernsehnachrichten erfuhr sie anderthalb Monate nach ihrer Festnahme im Gefängnis Bayrampasa, daß sie und drei Mitgefangene für eine Explosion im Istanbuler Misir-Basar verantwortlich gemacht wurden, bei der am 9. Juli 1998 sieben Menschen getötet und 120 verletzt wurden. Es soll sich um einen Bombenanschlag der PKK gehandelt haben. Da Sachverständige allerdings zu der Überzeugung kamen, daß die Explosion durch eine defekte Gasflasche ausgelöst wurde, wurde Pinar Selek im Jahr 2000 aus dem Gefängnis entlassen. »Trotz allem werde ich meinen Kampf für Frieden fortsetzen«, erklärte Selek bei ihrer Haftentlassung. Sie wurde Mitgründerin der Frauenkooperative Amargi und organisierte »Frauentreffen« für einen Dialog in kurdischen Städten, zu denen sie mit anderen engagierten Frauen aus den türkischen Metropolen fuhr. Nach Pinar Seleks Freilassung drängten das Innenministerium und das Istanbuler Polizeipräsidium auf eine Fortsetzung des Prozesses. Auf rechtswidrige Weise versuchten Polizeistellen, eigene Schreiben als Beweise in die Akten aufnehmen zu lassen. Ein neues Expertengutachten wurde erstellt. Professorin Inci G. Gökmen von der Technischen Universität des Mittleren Ostens erklärte, sie sei von der Militärpolizei Jandarma zur Unterzeichnung des Gutachtens aufgefordert worden, nachdem zwei weitere Dozenten es bereits abgesegnet hatten. Statt dessen bestätigte die Professorin in einem eigenen Gutachten, daß die Explosion im Basar durch ausgetretenes Gas hervorgerufen wurde. Unter Folter erpreßte Zeugenaussagen gegen Selek wurden widerrufen. Lebenslänglich gefordert Doch bei der letzten Hauptverhandlung am 28. Dezember 2005 forderte der Staatsanwalt ungeachtet all dieser Entlastungen weiterhin lebenslängliche Haftstrafen für Pinar Selek und ihre Mitangeklagten. Mehr als 130 Einzelpersonen und Organisationen aus über 20 Ländern, darunter Parlamentsabgeordnete der deutschen Linkspartei sowie Wissenschaftler wie der US-Linguist Noam Chomsky haben in einer Petition die Forderung erhoben, die Anklage gegen Pinar Selek angesichts fehlender Beweise fallen zu lassen. Gegen 283 Intellektuelle aus der Türkei, darunter die Schriftsteller Yasar Kemal und Orhan Pamuk, hat Rechtsanwalt Kemal Kerincsiz vom Vorstand der Vereinigung der Juristen Strafanzeigen wegen einer weiteren Unterstützungserklärung für die Soziologin gestellt. Die Unterzeichner hätten sich der »Beeinflussung der Justiz« und des »Lobens eines Straftäters« schuldig gemacht.
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