Bericht einer Wahlbeobachtung der Parlamentswahl am 3. November 2002 in der Türkei

Teilnehmer:

Heiko Kosel, Mitglied des Landtages, Sprecher für Europa- und Minderheitenpolitik, PDS Sachsen, Brigitte Wolf, Mitglied des Münchner Stadtrats PDS, Ingrid Özkan, M.A., Mitglied der PDS München, Dr. Nikolaus Brauns, Claudia Wangerin, Deutsch-Kurdische Gesellschaft, München.

Besuchte Orte:

Vorbereitende Gespräche in den Orten Cinar und Bismil

Besuchte Dörfer am Wahltag (Kreis Cinar): Bespinar, Basakli (Hüceti), Karalar, Yuvarcik, Kuruyazi, Göktepe (Molatpolat), Cinar, Asagikonak, Yaprakbasi, Bagicik.

Bericht verfaßt von: Ingrid Özkan / e-mail: ingrid.oezkan@web.de


Bericht:

Ausgangssituation in den Bezirken Cinar und Bismil:

Bereits am Tag vor der Wahl klärten wir in Cinar und Bismil in den Wahlbüros des Wählerbündnisses DEHAP (dazu gehören u.a. die kurdische HADEP, die türkischen Parteien EMEP und SDP, sowie mehrere Gewerkschafts- und Friedensinitiativen) die grundsätzliche Situation ab. In beiden Orten berichtete man uns, daß die Behinderungen im Vorfeld der Wahl zwar nicht so groß gewesen seien wie 1999, daß es aber dennoch zu erheblichen Störungen gekommen war. Diese waren vor allem zweierlei Art:

a) Behinderungen durch Bürokratie und Verwaltung

In sehr vielen Fällen wurden die Wahlunterlagen nicht oder mit einem falschen Namen zugestellt. Die betroffenen Personen waren gezwungen, wollten sie an der Wahl teilnehmen, ihre Wahlunterlagen durch einen gesonderten Antrag an die zuständigen Behören einzufordern. Man ging davon aus, daß diesen Weg nur sehr wenige beschritten haben.
Das Einfordern der Unterlagen wurde auch dadurch erschwert, daß eine verhältnismäßig geringe Anzahl an Wahllokalen zur Verfügung stand (in Cinar gab es z.B. für 96 Dörfer nur 23 Wahllokale) und es verwaltungstechnisch schon im Vorfeld zu Verwechslungen und Ungereimtheiten gekommen war, wer an welchem Ort abstimmen würde. Auch vermutete und fürchtete man, daß die Stimmabgabe vieler Wähler durch die dadurch zustande kommenden weiten Wege zu den Urnen erheblich beeinträchtig werden würde.

In Bismil wurde das Problem an uns herangetragen, daß die Wahlunterlagen der Wähler einiger zerstörter Dörfer – es handelt sich um sechs oder sieben -, an die zuständigen Polizeidienststellen gesandt worden waren, so daß die davon betroffenen Wähler unter den Augen der Polizei ihre Stimme würden abgeben müssen. Dies beträfe etwa 1.500 Stimmen.

b) direkte Bedrohung und Einschüchterungen

In vielen Fällen wurden Wähler, von denen vermutet wurde, sie würden für die DEHAP stimmen, von den Militärkräften eingeschüchtert und bedroht. Die Druckmittel waren vielfältig: Man drohte, den Strom oder die Wasserzufuhr abzusperren, die Sozialversicherungskarte zu entziehen – die u.a. für einen Krankenhausaufenthalt notwendig ist -, Autos anzuzünden oder verschwinden zu lassen, oder, im schlimmsten Falle, die Häuser in Brand zu stecken. Aber auch direkte Drohungen für Leib und Leben wurden telefonisch oder mündlich weitergegeben, Drohungen wie „Wir wissen, daß du die DEHAP wählen willst. Wenn du das tust, geschieht dir und deiner Familie etwas sehr schlimmes....“. Dieser Druck ging nicht nur von den Militärkräften aus, sondern auch von ortsansässigen Aghas und Dorfschützern, die ihre eigene Kandidatur für andere Parteien (in Cinar und Bismil vor allem die ANAP/Mutterlandspartei und die MHP/Nationalistische Bewegungspartei) sichern wollten. So drohten einige im Falle einer DEHAP-Wahl mit Vertreibung aus dem Dorf. Die Furcht, nach der Wahl könnten die Drohungen wahrgemacht werden oder es zu Festnahmen kommen, war unter der Wählern der Bezirke groß.

Beobachtungen am Wahltag:

Beim Besuch der oben genannten Dörfer im Bezirk Cinar bestätigten sich viele der im Vorfeld geschilderten Behinderungen und Schwierigkeiten. Alle von uns beobachteten Wahllokale waren von einer großen Zahl militärischer Sicherheitskräfte bewacht. Auf Nachfragen an die jeweiligen Dorfbewohner wurde uns gesagt, daß diese, obwohl dies eigentlich unzulässig sei, bis vor die Wahlurnen vorgedrungen wären, so daß die Wähler ihre Stimme buchstäblich im Angesicht und unter den Gewehren der Soldaten abgeben mußten. Wahlkabinen für eine geheime Wahl waren vorhanden. Wenn auch in einem Dorf – es handelt sich um Bagicik – diese aus einem dunklen und sehr schmutzigen ehemaligen Lehrerzimmer bestand, in dem keine Lichtquelle vorhanden war, so daß man gezwungen war, das Fenster zu öffnen, wollte man nicht blind wählen.

Unsere Delegation durfte in acht von den zehn besuchten Dörfern das Wahllokal betreten, in zwei Dörfern (Basakli und Yuvarcik) wurden wir nicht bis zur Wahlurne durchgelassen. Die Urnen waren zwar immer mit Wachs verschlossen, doch war auf manchen das Siegel nur sehr schlecht auszumachen, wobei das Siegelwachs direkt neben den Urnen stand, so daß man diese im Falle einer Öffnung unter Umständen wieder hätte verschließen können. Auch äußerte man in einem Dorf große Sorge darüber, daß die Urnen kurz vor der Öffnung weggebracht oder ausgetauscht werden könnten.

Wahlbeobachter aller Parteien müssen gesetzlich stets Zugang zu den Wahllokalen haben, doch berichtete man uns, daß DEHAP-Wahlbeobachter manchmal erst kurz vor unserem Erscheinen eingelassen worden waren. Unsere Ankunft war den Verantwortlichen ganz offensichtlich stets im voraus bekannt. Dies verwundert nicht, wurden wir doch während unserer ganzen Tour von demselben weißen Wagen verfolgt, in dem zwei zivile Einsatzkräfte - des militärischen Geheimdienstes JITEM wie wir vermuten - genau beobachteten, welchen Weg wir einschlugen, was wir im jeweiligen Dorf beobachteten und mit wem wir sprachen.

Die offiziell Verantwortlichen, d.h. die Wahlleiter etc. zeigten uns meist bereitwillig die Urnen und Wahlkabinen und bestätigten stets, daß alles in bester Ordnung sei. Obwohl es nicht leicht war, mit den Einwohnern der Dörfer vor den Augen der Soldaten ins Gespräch zu kommen, gelang es uns doch mehrmals, direkte Auskünfte zu erhalten, die uns ein ganz anderes Bild boten. Neben den bereits erwähnten Sorgen und Unzulänglichkeiten wies man uns immer wieder auf die Bedrohungen hin, denen die Wähler seitens des Militärs ausgesetzt waren. So waren zwei Dorfbewohner, die für die DEHAP stimmen wollten, so massiv bedroht worden, daß sie eine Festnahme oder Schlimmeres befürchten mußten und uns ihre Namen hinterließen, um sie an den Menschenrechtsverein IHD weiterzuleiten (was bereits geschehen ist).

Auch sahen wir, daß trotz des am Wahltag bestehenden Waffenverbots ein Dorfschützer das Wahllokal mit geschultertem Gewehr betrat. Erst auf unsere Nachfragen hin übergab er das Gewehr einem der umstehenden Dorfbewohner und betrat das Wahllokal unbewaffnet. Andere bewaffnete Dorfschützer sahen wir zwar nicht direkt vor den Urnen, jedoch unmittelbar vor den Gebäuden, in denen die Stimmabgabe erfolgte.

In einem anderen Fall wurde ein Dorf (Asagikonak) von einem Agha unter Druck gesetzt, der nicht nur mit den Versprechungen, endlich richtige Straßen zu bauen, für die ANAP warb, sondern wohl auch keinen Zweifel daran ließ, was es für die Dorfbewohner bedeuten würde, wenn sie dies nicht täten.

In dasselbe Dorf wurden wir erneut kurz vor der Schließung der Wahllokale, also kurz vor 15:00 Uhr Ortszeit gerufen, da plötzlich, als die Öffnung der Urnen anstand, die DEHAP-Wahlbeobachter aus dem Raum gewiesen wurden, mit der Begründung, „das wäre so Gesetz“. Als unsere Delegation erneut in diesem Dorf eintraf, wurde dieses „Gesetz“ wieder aufgehoben und wir nahmen an der Öffnung der Urnen und an der anschließenden offenen Stimmauszählung teil. Obwohl die ANAP in diesem Dorf noch immer stark vertreten war (ca. ein Drittel der Wählerstimmen), konnte die DEHAP einen erheblichen Anteil der Stimmen (ca. die Hälfte) auf sich vereinigen. Ob die Auszählung auch ohne unsere Anwesenheit so verlaufen wäre und ein ähnliches Resultat gezeigt hätte, weiß man nicht, ist jedoch, nach Ansicht der dortigen Dorfbewohner, anzuzweifeln.

Fazit:

Von einer demokratischen Wahl ist angesichts der angeführten Einwände nicht zu sprechen. Die Strategie der Wahlbehinderung war eindeutig: Man versuchte schon im Vorfeld durch Bürokratie und Verwaltung die Zahl der Wählerstimmen in den von uns besuchten Gebieten zu minimieren. Durch weiteren psychischen Druck auf die Wähler sollten auch die verbleibenden Stimmen für die DEHAP so weit wie möglich eingeschränkt werden.

Wahlbeobachter, auch Delegationen aus Europa, ließ man relativ ungehindert zu, um ihnen den Anschein einer demokratischen Wahl zu präsentieren, der jedoch bei weiteren Nachfragen nicht aufrecht zu erhalten war. Aufgedeckt wurde dies vor allem durch die zahlreichen mutigen Stimmen aus dem Volk, die uns trotz massiver Drohungen seitens der Dorfschützer, Aghas und insbesondere der Soldaten und der starken Militärpräsenz über die wichtigsten und entscheidendsten Mängel und Befürchtungen Auskunft gegeben hatten.