Den Beweisen nach Staatsterror BBC-Interview mit dem CHP-Abgeordneten Esat Canan
Die Unruhen in der Kreisstadt Semdinli in der Provinz Hakkari in der Türkei dauern nach dem gestrigen Bombenanschlag an. Die ersten Verlautbarungen in den Ermittlungen nach dem Anschlag auf einen Buchladen erinnern an den Susurluk-Skandal, der die Türkei Mitte der neunziger Jahre erschütterte. In der Bevölkerung mehren sich die Gerüchte, dass es sich bei den Tätern um Staatsdiener handelt. Alper Balli von der türkischsprachigen Abteilung der BBC hat über diese Gerüchte und die Ereignisse des gestrigen Tages mit dem CHP-Abgeordneten aus Hakkari, Esat Canan, gesprochen, der sofort nach dem Vorfall in die Kreisstadt Semdinli gefahren ist.
BBC: Weiß man, wer die Täter sind? Esat Canan: Namentlich sind sie nicht bekannt. Als ich bei der Polizei nachgefragt habe, wurde mir gesagt, dass eine Person festgenommen wurde, die anderen beiden nicht. Daraufhin habe ich weiter gefragt, wo die anderen beiden Personen sind, da von den Bürgern drei Personen festgenommen und übergeben wurden. BBC: Was wurde Ihnen geantwortet? Esat Canan: Ich versuche immer noch, eine Antwort darauf zu bekommen. Von offiziellen Stellen ist keine eindeutige, überzeugende Antwort gekommen. Das Fahrzeug wurde von der Bevölkerung umstellt. Sie riefen mich an, ich war gerade in Yüksekova. „Wir haben drei Personen gefasst und übergeben, die Täter sind in unserer Hand, kommen Sie zur Hilfe, die Beweise sind hier, kommen Sie schnell, damit sie nicht verloren gehen“, wurde mir gesagt. Ich fuhr sofort los. Als ich ankam, stand das Auto noch mitten in einer Menschenmenge. Es ging jetzt darum, das Fahrzeug zu identifizieren. Ich sprach sofort mit dem Staatsanwalt, dem Landrat und weiteren Zuständigen. Danach wurde das Fahrzeug vom Staatsanwalt untersucht. Ich war auch dabei. BBC: Gab es irgend etwas an dem Fahrzeug, was Ihnen auffiel? Esat Canan: Ja. Bei der Untersuchung wurden im Kofferraum drei Kalaschnikow sowie zehn vermutlich zu den Waffen gehörige volle Magazine, ein paar Tarnwesten, wie sie von den Sicherheitskräften benutzt werden, Dokumente über Bombenbau oder –unschädlichmachung gefunden. Desweiteren befand sich im Auto eine schwarze Tasche, in der unter anderem zwei Handgranaten mit der Herkunftsbezeichung MKE waren. Aber noch wichtiger sind vier Dossiers, die darin gefunden wurden. Eines davon bestand aus sechs oder sieben Seiten Informationen über das Fahrzeug. Daraus war zu entnehmen, dass das Fahrzeug der Jandarma gehört. In einem anderen befand sich eine Liste, auf der der Name des Inhabers des zerstörten Buchladens rot unterstrichen vermerkt war. Dazu ein Bild von ihm und weitere persönliche Angaben. Außerdem war eine Landkarte dabei, auf der der Buchladen verzeichnet war. In den weiteren Dossiers befand sich eine Namensliste von Menschen aus Semdinli, darunter Parteivorstände und weitere. Dazu standen Bewertungen wie „verdächtig“ und „unverdächtig“. Alle Dossiers sind vom Staatsanwalt protokolliert worden, das habe ich selbst gesehen. BBC: Hatten Sie die Möglichkeit, die Jandarma zu fragen, ob das Fahrzeug ihr gehört? Esat Canan: Es fand eine Versammlung zur Auswertung der Vorfälle statt. Dabei habe ich in Anwesenheit des Bataillonskommandanten der Provinz gesagt, dass das Fahrzeug den Sicherheitskräften gehört. Als der Polizeichef widersprach, sagte ich: „Stimmt, ich habe etwas falsches gesagt. Das Fahrzeug gehört nicht der Polizei, sondern der Jandarma“. Der Bataillonskommandant hat nicht widersprochen. „Richtig, wir untersuchen das“, sagte er. BBC: In Yüksekova gab es einige Explosionen. Jetzt finden solche Vorfälle auch in Semdinli statt. Wie ist die Lage in der Stadt zur Zeit? Esat Canan: In der Bevölkerung wurde viel über diese Vorfälle gesprochen, über Handgranaten, die in Geschäfte geworfen werden usw. In dem gestern gestellten Fahrzeug befanden sich alle Materialien, die sich in einem Fahrzeug einer geheimdienstlichen Organisation befinden müssen. Das habe ich auch bei der Bewertung der Geschehnisse gesagt. In dieser Region wird alles, was passiert, der PKK zugeschrieben. Aber seit jeher ist bekannt, dass ein großer Teil der Vorfälle nicht von der PKK ausgeübt wurde. BBC: Von wem denn? Esat Canan: Das muss aufgeklärt werden. Es mag auch sein, dass es vertuscht wird. Danach sieht es im Moment aus. BBC: Sie befürchten, dass der Vorfall vertuscht wird? Esat Canan: Ja, das befürchte ich. Es bereitet mir ernsthafte Sorge, dass sich nur noch einer Täter in Gewahrsam befindet. BBC: Und was werden Sie als CHP-Abgeordneter unternehmen? Esat Canan: Als Abgeordneter ist es meine Aufgabe, die Parteizentrale zu informieren. Wir werden nicht locker lassen. Es ist wie im Susurluk-Skandal.
Als Vorsitzender der parlamentarischen Menschenrechtskommission kündigte Mehmet Elkatmis an, eine Abordnung in die Region zu schicken. Aus dem Innenministerium war lediglich zu vernehmen, dass die Ermittlungsergebnisse abgewartet werden müssten. Das gleiche erklärte auch der Gouverneur der Provinz Hakkari, Erdogan Gürbüz. Quelle: BBCTurkish.com, 10.11.2005, ISKU |
Übersetzung
aus dem Türkischen |
ISKU | Informationsstelle Kurdistan |