Tatsachenverdrehung nicht zulassen! Editorial „Es handelt sich um einen lokal begrenzten Einzelfall, der in jeder Hinsicht untersucht wird...“ oder „Wer auch immer hinter dem Vorfall steckt, wir werden ihn aufklären. Niemand soll von uns erwarten, dass wir derartiges tolerieren“ – die Bevölkerung der unter dem „Staat im Staat“ und seinen verdeckten Operationen ächzenden Türkei hat das Chiffre dieser und ähnlicher Verlautbarungen längst gelöst. So ist bekannt, dass es sich bei einem als „Einzelfall“ bezeichneten Vorgang um einen systematischen handelt und bei einem „lokal begrenzten“ Vorfall nicht gewünscht wird, dass Verbindungen bis nach Ankara öffentlich werden. Der Spruch „Wer auch immer hinter dem Vorfall steckt, wir werden ihn aufklären“ bedeutet, dass der betreffende Vorfall lediglich in seiner kriminellen Dimension untersucht wird und der Hintergrund nicht aufgeklärt wird. Und wenn es heißt, „niemand soll von uns erwarten, dass wir derartiges tolerieren“, dann sagt uns das, das nicht die Wirklichkeit ans Licht kommen soll, sondern unglaubwürdige Szenarien geschrieben werden. Die Bevölkerung der Türkei hat die Übersetzung solcher Erklärungen durch unzählige Erfahrungen lernen müssen. Als Musa Anter vom JITEM in Diyarbakir ermordet wurde, bezeichnete der damalige Staatspräsident Demirel den Mord als „interne Abrechnung“ zwischen Kurden. Später sollte sich heraus stellen, dass bei dem Vorfall ein Überläufer benutzt wurde. Nach Angaben des ehemaligen JITEM-Mitarbeiters Abdülkadir Aygan wurde die Mordtruppe per Funkgerät dirigiert. Es werden Landkarte gezeichnet, Autos und Waffen bereitgestellt. Innerhalb der Arbeitsteilung bleibt den Überläufern, die ihr Gehalt vom Staat beziehen und ihre meiste Arbeitszeit auf Militärposten verbringen, nur der Teil, den Abzug zu drücken. Als Demirel von einer „internen Abrechnung“ sprach, bezog er sich dabei auf den Überläufer, der den Abzug drückte. Keine zwölf Stunden nach dem Mord war Demirel bereits bekannt, wer den Abzug gedrückt hatte. Heutzutage ist es in Semdinli der Bevölkerung gelungen, die Personen zu ergreifen, die eine Bombe in einen Buchladen werfen. Auf Auftrag des Staates und mit einem Auto des Staates. Einer von ihnen soll ein PKK-Überläufer sein. Der Besitzer des in die Luft gejagten Buchladens hat 15 Jahre als PKKler im Gefängnis gesessen. Für das passende Szenario steht alles bereit: Eine interne Abrechnung! Diese Methoden wurden bereits früher angewendet. Der Ex-JITEM-Mann Aygan hat Karten gezeichnet, mit denen die Leichname der Personen, die er entführt, verhört und hingerichtet hat, gefunden werden konnten. Dann hieß es in der Presse: „Der Überläufer Aygan hat aus Gewissensbissen die Aufenthaltsorte der Leichname der von ihm ermordeten PKK-Sympathisanten gezeigt“. Als ob Aygan kein JITEM-Mitarbeiter gewesen sei. Als ob er alle seine Aktionen nicht gemeinsam mit Offizieren geplant hätte. Als ob all diese Morde nicht im Namen des Staates verübt worden wären... Kriegsprofiteure gehen nicht vereinzelt, sondern geplant und programmatisch vor. Die zentrale Planung liegt in Ankara. Morde und Bombenanschläge, die in der Vergangenheit im Namen des JITEM verübt wurden, finden heute im Namen des JIT statt. Jetzt soll der Schaden begrenzt werden, als ein „lokal begrenzter Einzelfall“ eben. Im Susurluk-Skandal setzte sich Tansu Ciller für den Mörder Abdullah Catli ein und bezeichnete ihn als „ehrenhaften Mann“, der sich für sein Land einsetze. Heute sagt Yasar Büyükanit, Oberkommandierender des Heeres, in bezug auf Semdinli: „Ich kenne den Unteroffizier, der in den Vorfall verwickelt sein soll. Er sieht nicht aus wie einer, der eine Straftat begeht. Er ist ein sehr wertvoller Soldat“. Und Staatspräsident Sezer erklärt, die Geschehnisse in den Medien zu verfolgen! Als Oberhaupt des Staates sagt er, er habe noch keine detaillierten Informationen erhalten. Sezer untersteht der sehr wichtige Mechanismus des staatlichen Kontrollrates. Während die Trümmer von Susurluk immer noch nicht beseitigt sind, verstärkt Sezers zögerliches Verhalten unsere Besorgnis. Der Vorfall ist eindeutig. Im zentralen Planungsrahmen der Kriegsprofiteure werden in Semdinli und Yüksekova Verbrechen an der Menschheit gegen die Zivilbevölkerung verübt. Das einzig mögliche Vorgehen dazu ist, alle Einzelheiten öffentlich zu machen und diese Verbrechen sowohl politisch als auch strafrechtlich zu verurteilen. Das kann nur durch die entschlossene und beharrliche Haltung der Bevölkerung erreicht werden. Die Forderungen der Bevölkerung von Semdinli werden heute auf der Demonstration in Diyarbakir als Forderungen des kurdischen Volkes neu formuliert werden. Nur dadurch kann das erfundene Szenario, mit dem die Vorfälle vermutlich erklärt werden sollen, sabotiert werden. Lassen wir es nicht zu, dass die Tatsachen in Semdinli und anderswo verdreht und vertuscht werden. Quelle: Özgür Gündem, 13.11.2005, ISKU |
Übersetzung
aus dem Türkischen |
ISKU | Informationsstelle Kurdistan |