Posta, Mehmet Ali
BİRAND:
Gefährliche
Eskalation in der kurdischen Frage
Die jüngsten Vorfälle haben
deutlich gezeigt, welche Veränderung in der kurdischen Frage stattgefunden
hat und mit welcher Gefahr wir konfrontiert sind. Die Türkei wird in naher
Zukunft bitter für die Fehler der Vergangenheit zahlen. (...)
Die Vorfälle der vergangenen
Woche in Semdinli, Yüksekova und Hakkari müssen vorsichtig und rational
untersucht werden. Wir müssen uns Sorgen machen aufgrund dessen, was wir
dort sehen konnten, wir müssen die Anzeichen begreifen, die aufzeigen,
womit wir in Zukunft konfrontiert sein werden und wir müssen an Vorsichtsmaßnahmen
denken. (...)
Meine Analyse der Entwicklungen
der letzten zwei bis drei Jahre lässt sich folgendermaßen zusammenfassen:
Bei den Vorgängen im Südosten handelt es sich nicht mehr um ein schlichtes
PKK-Problem. Es ist auch kein Problem mehr, das sich durch die Haft Öcalans
oder die Umsetzung der Kopenhagener Kriterien regeln ließe. Die Dimensionen
erweitern sich rasant. Wir nähern uns dem Punkt, an dem die Kontrolle
verloren geht. Und noch gefährlicher ist meiner Meinung nach, dass wir
nichts in der Hand haben, um diesen Verlauf zu beinflussen oder zu ändern,
kein Werkzeug und keine Politik. Methoden, die früher eingesetzt wurden
und in einem bestimmten Ausmaß wirkungsvoll waren, erbringen nicht mehr
die erwarteten Resultate.
Der Wind der Veränderung hat mit dem Einzug der USA in den Irak begonnen
und breitet sich mit großer Geschwindigkeit aus. Wenn man die jüngsten
Vorfälle betrachtet, wird die Situation noch viel deutlicher.
Ich bin sicher, dass das niemandem entgangen ist.
Die Bevölkerung hört auf die mit ihren Stimmen gewählten kurdischen Bürgermeister,
ihre Parteivorsitzenden und die PKK. In dieser Gegend nimmt die Autorität
des Staates weiter ab. Repräsentanten des Staates und die Sicherheitskräfte
werden als Gegner betrachtet. Die negativen Reaktionen, die die Tiefflüge
von zwei F-16 während der Beerdigungszeremonie in Yüksekova hervorgerufen
haben, sind höchstgradig bedenklich. (Meiner Meinung nach handelt es sich
um einen kompletten Zufall. Ich kann nicht glauben, dass ein offiziell
Zuständiger den Fehler macht oder die Gedankenlosigkeit besitzt, in diesem
Moment ein Flugzeug aufsteigen zu lassen.) Die Entwicklungen der vergangenen
Woche zeigen, dass die PKK begonnen hat, ihre alte Kraft zurück zu gewinnen,
ihren Einfluss in großem Ausmaß gesteigert hat und die Region von kurdischen
Anführern geleitet wird.
Und noch wichtiger, in der kurdischen Bewegung mehren sich Stimmen, die
eine Föderation oder eine Abspaltung befürworten. (...)
Und das sind die Dinge, die mir Sorgen bereiten...
Was wollen die Kurden?
Mit der Besetzung des Irak
und den darauf folgenden Entwicklungen haben sich auch die Gedanken und
Aussagen der kurdischen Führer, die die kurdische Bewegung formen, verändert.
Trotz des Widerstandes in Ankara stellen sie folgende Forderungen auf:
Politisierung:
Sie wissen, dass sie bewaffnet und mit der Drohung des Terrors kein Resultat
in ihrem Kampf erzielen können und wollen ihre Bewegung in das Parlament
der Türkei bringen. Deshalb fordern sie eine Herabsetzung der Zehn-Prozent-Hürde.
Aus verschiedenen Gründen lehnen der Staat und alle politischen Parteien
dies ab.
Generalamnestie:
Eine Generalamnestie für die Gefangenen und die in den Bergen befindlichen
Kader wird als Voraussetzung für ein Schweigen der Waffen gesetzt. Washington,
Brüssel und die kurdischen Führer im Irak setzen darauf, dass eine Generalamnestie
die Spannungen vermindern und die Guerilla aus den Bergen holen kann.
Ankara lehnt dieses mit der Begründung ab, dass Terroristen, die Verbrechen
begangen haben, nicht amnestiert werden können.
Mehr Freiheiten für Öcalan:
Ein weiteres Element, das immer mehr in den Vordergrund tritt, sind mehr
Freiheiten für den auf Imrali inhaftierten Öcalan. Ankara lehnt diese
Forderung mit der Begründung ab, dass Öcalan von Imrali aus mit Botschaften
die Organisation beeinflusst.
Selbstregierung
Früher sprach die kurdische Bewegung nicht von einer Abspaltung oder einer
föderalen Struktur. Sie wollten innerhalb der Türkei ihren Teil vom Kuchen.
Auch hier hat eine Veränderung stattgefunden. Dabei spielt die Lage in
Irak-Kurdistan eine wichtige Rolle. Jetzt wird offen gefordert, über ein
neues Gesetz zu den Kommunalverwaltungen eine Selbstregierung im Südosten
zu schaffen. Sie wollen sich von der Herrschaft und der Repression der
Dreier-Konstellation Gouverneur-Landrat-Kommandant befreien. Erstmalig
fallen öfter die Wörter Föderation und sogar Unabhängigkeit und Abspaltung.
DIE PKK WAR AM ENDE – WIR HABEN
BEI IHRER WIEDERBELEBUNG GEHOLFEN
Ich möchte an etwas erinnern.
Erinnern wir uns an 1999, die Zeit, als Öcalan gefasst wurde.
Die PKK befand sich im Schock und wusste nicht, was sie tun soll. Sie
versuchte, sich im Nordirak einen Platz zu schaffen. Und so ließ sie sich
in den Kandil-Bergen nieder, an einem Ort, wo sie es bequem hatte und
ihre Wunden lecken konnte.
Der PKK-Führer forderte genau in dieser Zeit einen Waffenstillstand, einen
unbewaffneten Kampf. Die Meinungen über den Grund dafür gehen auseinander.
Manche meinen, er wollte dabei helfen, eine Lösung zu finden, andere behaupten,
er hatte keine andere Wahl und wollte die vollständige Vernichtung der
Organisation verhindern. Er hatte Erfolg. Einige rebellierten, es kam
sogar zu Abspaltungen, aber schlussendlich setzte Öcalan sich durch.
Über genau fünf Jahre hinweg führte die PKK im Südosten keine Aktionen
durch. Die Region konnte Luft holen. Es kehrte Ruhe ein.
Aber es änderte sich nichts. Der Großteil der Menschen blieb arm.
Und die Türkei hat diese fünf Jahre ungenutzt verstreichen lassen.
Nichts wirkliches wurde unternommen, um die Bevölkerung an ihre Seite
zu ziehen.
Es kam nicht zu den versprochenen Investitionen und nicht zu Entschädigungen
für die zerstörten Dörfer und Hunderttausende aus den Dörfern vertriebene
Menschen.
Die Armut hält weiter an. Es war die Zeit, die Herzen der Menschen im
Südosten zu gewinnen, aber wir haben nichts unternommen. Mit der uns eigenen
Haltung haben wir die Realität ignoriert. Wir haben die EU-Anpassungsgesetze
im Rahmen der Kopenhagener Kriterien als ausreichend angesehen.
Heute wird deutlich, dass wir uns geirrt haben.
Die PKK ist in den von uns verschwendeten fünf bis sechs Jahren zu neuem
Leben erwacht. Sie hat ihre Parteiwerdung abgeschlossen und natürlich
hat sich für sie eine unglaubliche Gelegenheit ergeben: Die USA haben
den Irak besetzt.
Diese Entwicklung hat das Gleichgewicht in der Region verändert. Irak-Kurdistan
befindet sich unter dem Schutz der USA und steht kurz vor der Unabhängigkeit.
Kurdistan wurde geboren. Und die PKK hat genau in dieser Atmosphäre bei
den Vorfällen der vergangenen Woche deutlich gezeigt, wie sie ein Teil
des Südostens unter Kontrolle hält. (...)
Quelle: Posta, 22.11.2005,
ISKU
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