Türkischer
Staat verschließt politische Lösungswege
Gewähltem Abgeordneten
wird Mandat entzogen, fünf weitere kurdische Abgeordnete bleiben inhaftiert
Nachdem der türkische Staat
bei den Parlamentswahlen am 12.06.11 trotz massiven Wahlbetrugs, Einschüchterungsversuchen
und Repressionen nicht verhindern konnte, dass der linke Wahlblock, dem
die BDP angehört, 36 KandidatInnen ins Parlament schickt, sollen die gewählten
kurdischen VertreterInnen nun mit juristischen Mitteln politisch ausgeschaltet
werden. Dem ehem. DEP-Abgeordneten Hatip Dicle, der bereits mehr als 10
Jahre im Gefängnis verbrachte, weil er als Abgeordneter für die Rechte
der kurdischen Bevölkerung öffentlich eintrat, wurde, obwohl er mit knapp
80.000 Stimmen als Direktkandidat für Amed (Diyarbakır) ins Parlament
gewählt worden ist, von der Hohen Wahlkommission (YSK) das Mandat verweigert.
Nach angeben der linksliberalen türkischen Zeitung radikal soll der für
den Wahlkampf der Regierungspartei AKP verantwortliche stellvertretende
Generalsekretär Haluk İpek schon am 18.06.11 den Antrag dazu bei der Hohen
Wahlkommission eingereicht haben.
Es wurde ebenso entschieden, ihn sowie die gewählten kurdischen KandidatInnen
Selma Irmak, Faysal Sarıyıldız, Kemal Aktaş, Gülseren Yıldırım und İbrahim
Ayhan nicht aus dem Gefängnis zu entlassen um ihre Arbeit im Parlament
aufzunehmen, obwohl dies im türkischen Gesetz vorgesehen ist.
Dies geschieht vor dem Hintergrund einer nach den Wahlen noch relativ
optimistisch aussehenden Lage. Der Vorsitzende Abdullah Öcalan hatte seine
Unterstützung für das Fortdauern eines Waffenstillstands der kurdischen
Guerilla angekündigt, und diese selbst hatte erklärt, dass sie für den
Fall, dass Abdullah Öcalan in die Verhandlungen für eine politische Lösung
offiziell miteinbezogen und die Militäroperationen beendet würden, sie
ebenfalls den Waffenstillstand verlängern und weitere Schritte für eine
politische Lösung einleiten würden.
Die Reaktion des türkischen Staates mit dem Entzug des Mandats für Hatip
Dicle und der Nichtentlassung und damit dem de facto Entzug des Mandats
für fünf weitere kurdische gewählte VertreterInnen (unter anderem mit
der Begründung, dass sie bei ihrer Verteidigung Kurdisch gesprochen hätten)
zeigt deutlich, dass der türkische Staat nicht bereit für eine politische
Lösung ist.
Die Alternativen hat Abdulah Öcalan, nicht als Drohung, sondern als Tatsachenfeststellung
deutlich gemacht. Die Geduld der Bevölkerung ist am Ende, es kann nun
entweder eine politische Lösung oder einen „revolutionären Volkskrieg“
geben. Je weiter der türkische Staat die Optionen für eine politische
Lösung verschließt, desto wahrscheinlicher wird die zweite Alternative.
Das brutale Vorgehen der Staatsgewalt gegen die Proteste gegen die Entscheidung
der Hohen Wahlkommission und der Staatsanwaltschaft, bei denen unter anderem
zwei gewählte kurdische Abgeordnete am 26.06. in Istanbul von der Polizei
so stark verletzt wurden, dass sie sich im Moment im Krankenhaus befinden,
unterstützen diese Einschätzung. Die kurdische Frauenbewegung KJB erklärte
ebenfalls zu der Entscheidung der Hohen Wahlkommission:
„Wir erklären, dass wir gegen diese Angriffs- und Einschüchterungspolitik
unseren Widerstand steigern werden. Es ist der Punkt erreicht, an dem
die Opferbereitschaft und Geduld des kurdischen Volkes nicht weiter strapaziert
werden kann.“
Auch der Vorsitzende des Exekutivrats der Gemeinschaft der Gesellschaften
Kurdistan KCK erklärte: „Dies ist ein Putsch gegen die Hoffnungen auf
eine Lösung. …Wenn in den vor uns liegenden Tagen der Staat und die Regierung
diese große Ungerechtigkeit nicht aufzuheben versuchen und sie korrigieren,
wird das für unsere Bevölkerung einer offiziellen Kriegserklärung gleichkommen.
LINKER WAHLBLOCK BOYKOTTIERT
PARLAMENT
Die Abgeordneten des Wahlblocks für Arbeit, Demokratie und Freiheit, dem
auch die linke, prokurdische BDP angehört, haben entschieden aus Protest
gegen die Nichtzulassung von mittlerweile 6 ihrer Abgeordneten das Parlament
zu boykottieren. Auf einer Demonstration in Istanbul erklärte der gewählte
Abgeordnete Sırrı Süreyya Önder:
„Wir lassen unsere GenossInnen nicht auf halben Weg zurück. Wir sind Revolutionäre
und ihr werdet euch an uns im Parlament gewöhnen müssen. Solange Dicle
nicht im Parlament ist, werden wir auch nicht dort sein.“
MASSENHAFTE PROTESTE – POLIZEIANGRIFFE
– BEVÖLKERUNG VERTEIDIGT SICH VIELERORTS SELBST
Sofort nach der Bekanntgabe der Entscheidung bezüglich Hatip Dicle am
22.06., gingen Zehntausende in verschiedenen Städten auf die Straßen.
Der Verkehr in Amed wurde blockiert, in Istanbul gingen etwa 10.000 auf
die Straße, die Polizei griff die Demonstration in der Nähe des Taksim-Platzes
massiv mit Tränengas, Wasserwerfern und Knüppel an. Durch die Polizeiangriffe
gingen Scheiben von Läden zu Bruch und auch BesucherInnen von Cafés wurden
verletzt.
Es kommt seitdem zu ständigen Protesten in Amed (Diyarbakır), Mêrdîn (Mardin),
Şırnex (Şırnak), Panos (Patnos), Wan, Gever (Yüksekova), Colemêrg (Hakkari),
Şemzinan (Şemdinli), Eleziz (Elazığ), Dersim, Adana, Istanbul, Ankara,
Çorum, Izmir und vielen anderen Städten in Kurdistan, der Türkei und aller
Welt. Jeden Tag wurden es mehr Menschen, die in den Städten auf die Straßen
gingen und gehen, es kam zu Polizeiangriffen und heftigen Auseinandersetzungen.
In manchen kurdischen Städten, wie beispielsweise Silopi, wurde die Polizei
aus den Stadtvierteln vertrieben.
ISTANBUL – GROSSE PROTESTE
– MASSIVE POLIZEIGEWALT – ZWEI GEWÄHLTE KURDISCHE KANDIDATiNNEN IM KRANKENHAUS
– POLIZEI VERLETZT VIELE UND SETZT ELEKTROSCHOCKER EIN
Nachdem es schon in den letzten Tagen zu schweren Polizeiangriffen in
Istanbul auf linke kurdische und türkische DemonstrantInnen gekommen war,
erreichten diese am 26.06.11 am Taksim-Platz und im Stadtviertel Şişli
eine neue Qualität. Polizisten und Zivilfaschisten griffen viele Tausend
DemonstrantInnen in Tateinheit an. Die Zivilfaschisten verletzten einen
Demonstranten schwer.
Die gewählte Kandidatin der BDP, Sebahat Tuncel, wurde dabei von Polizisten
so heftig über den Boden geschleift und misshandelt, dass sie sich zur
Stunde mit einer Hüftverletzung und zahlreichen Prellungen im Krankenhaus
befindet. Zuvor waren sie und weitere gewählte KandidatInnen des Wahlblocks
verletzt worden, als die Polizei Gasgranaten in den Bus der BDP schoss,
unter ihnen auch der linke türkische Abgeordnete Levent Tüzel und die
BDP-KandidatInnen Süreyya Önder und Ertuğrul Kürkçü. Das BDP-Parteiratsmitglied
wurde von Polizisten in einen Laden getrieben und dort unter Beleidigungen
zusammengeschlagen. Im Moment hört er nichts mehr auf dem linken Ohr.
Dutzende Gasbomben wurden direkt in die Menschenmenge geschossen, auch
schwangere Frauen und Kinder wurden von der Polizei misshandelt. Der Gaseinsatz
war so massiv, dass insbesondere JournalistInnen, die sich in Cafés geflüchtet
hatten, in den Räumlichkeiten Erstickungsanfälle erlitten.
Auffällig war der erstmalige Einsatz von Elektroschlagstöcken, insbesondere
gegen Jugendliche. Ein 16-Jähriger fiel aufgrund des Elektroschockers
in einen Schockzustand.
Quelle: ANF, DIHA, 26.06.2011,
ISKU
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