"Zwei
Sätze des Ministerpräsidenten Erdoğan würden ausreichen, um das Leben
der streikenden Gefangenen zu retten"
In den letzten Tagen
äußerten sich zahlreiche Intellektuelle und AkademikerInnen aus der Türkei
zum unbefristeten Hungerstreik, der am 12. September von Gefangenen der
Arbeiterpartei Kurdistan (PKK) und der Partei der Freien Frauen Kurdistans
(PAJK) begonnen wurde. Im Folgenden sind einigerdieser Statements aufgelistet,
u. a. der Schriftsteller Yaşar Kemal, Selahattin Demirtas, Prof. Dr. Gencay
Gürsoy und Sezgin Tanrikulu.
Yaşar Kemal, Schriftsteller:
Das größte Leid ist es zu beobachten, wie der Tod durch Hunger kommt.
Die Forderungen der Menschen, wegen denen sie ihr Leben riskieren, sind
in einer Demokratie Inhalt von Menschenrechten. Wenn eine Lösung möglich
ist, der Tod von Menschen aber nicht verhindert wird, wird dies die Sünde
der Machthaber, der Opposition, den Medien und unser aller sein. Frieden
ist in diesem Land für jeden eine Sehnsucht und ein Recht. Es muss für
jeden von uns eine Aufgabe sein, sich gegen alle Barrieren, die den Frieden
verhindern, zu wehren und sie aufzuheben. Allen, die sich damit innig
beschäftigt, bin ich dankbar.
Der BDP (Partei für Frieden
und Demokratie) Co-Vorsitzende Selahattin Demirtas:
Die türkische Regierung hat ihr Gewissen verloren und hat nichts der Wahrheit
entsprechendes zu sagen. Was könnte sie auch gegenüber den Forderungen
der Hungerstreikenden sagen? „Ja, wir verstoßen ganz offen gegen unsere
eigene Verfassung indem wir seit 453 Tagen Abdullah Öcalan in Imrali einer
Totalisolation aussetzen – und dass mit einer Begründung wie die Fähre
sei kaputt oder die Wetterbedingungen seien unangebracht“? Seit 42 Tagen
verhält die Regierung sich wie die drei Affen. Sie sieht, hört und sagt
nichts.
Bei den Gefangenen, die im weiteren Sinne auch dafür streiken, dass keine
weiteren Polizisten und Soldaten umkommen, hat die kritische Phase, in
der mit Schäden an ihrer der Gesundheit gerechnet werden muss, begonnen;
sie sind in akuter Lebensgefahr.
Die Gefangenen streiken und bringen damit ihr Leben in Gefahr während
die AKP-Regierung versucht Proteste und den Hungerstreik mit weiterer
Polizeigewalt aufzuhalten. „Das was ihr versucht zu verhindern sind die
Versuche Frieden zu schaffen“. Die türkische Regierung wird am Tod tausender
Menschen schuld sein, wenn sie vorgibt eine Lösung für die kurdische Frage
zu suchen und gleichzeitig in Bezug auf die hungerstreikenden Gefangenen
schweigt. Die Regierung soll anstatt ihrer Versuche uns Aufzuhalten die
Totalisolation aufheben. Die Forderungen unserer Freunde sind nicht illegitim.
Keiner dieser Gefangenen streikt um einen Kredit aufzunehmen oder etwas
zu ersteigern. Sie streiken, indem sie sich in den Tod hungern, damit
Frieden in diesem Land einkehrt und kein Blut mehr vergossen werden muss.
Abgeordneter und stellvertretender
Vorsitzender der CHP (Republikanische Volkspartei) – Sezgin Tanrikulu:
In der vergangenen Woche habe ich eine Anfrage an die Menschenrechtskommission
in Ankara gerichtet. Die zuständige Unterkommission der Gefängnisse sollte
die betroffenen Gefängnisse begutachten. Aber leider wurde seither nichts
unternommen. Die Öffentlichkeit muss sensibler agieren. Dieses Problem
ist ein humanistisches Thema. Es ist eine Gewissensfrage.
Die Forderungen der Gefangenen sind politisch. Das Recht auf Muttersprache
wird bereits in der Verfassungskommission im Parlament behandelt.
Allerdings gibt es einen Fakt. Seit Juli 2011 hat man keinen Kontakt zum
Gefängnis auf der Insel Imrali. Egal um welche Person es sich handelt
und wie hoch die Strafe ist, die er bekam, darf kein Mensch 14 Monate
lang, auch wenn es sein eigener Wille ist, in Isolationshaft gehalten
werden. Dieser Zustand muss beendet werden – die gesamte Situation muss
besprochen werden. Bevor eine Kritik von der CPT kommt, müssen diese Isolationsbedingungen
aufgehoben werden.
Prof. Dr. Gencay Gürsoy
Als Arzt befürworte ich sicherlich keinen Hungerstreik oder Todesfasten.
Der einzige Weg sich in diesem Land ausdrücken zu können ist aber offenbar
sein Leben dafür zu riskieren. Es gibt viele Menschen die das tun, die
dazu bereit sind und ihre Zahl steigt an. Grund hierfür ist einfach die
Forderung nach Sensibilität und Einfühlungsvermögen. Sogar in diesem Moment
ist in jeglicher Form eine Verhandlung möglich. Zwei Sätze des Ministerpräsidenten
Erdoğan würden ausreichen, um das Leben der streikenden Gefangenen zu
retten.
Prof. Dr. Sebnem Korur Fincanci
Der Hungerstreik in den Gefängnissen ist gleichzeitig ein Hilfeschrei.
Die Gefangenen erheben ihre Stimmen gegen die negativen Ergebnisse der
Isolationshaft. Um in ihre Muttersprache sprechen zu können erheben sie
ihre Stimmen. In einer Zeit, in der die grundlegenden Menschenrechte verletzt
werden, versuchen Menschen sich über ihren Körper – über ihr Leben – bei
der leider schweigenden und uninteressierten Öffentlichkeit Gehör zu verschaffen.
Kemal Bülbül, Generalsekretär
der Alevitischen Bektaschi Föderation
Der Hungerstreik befindet sich am 43. Tag, und offensichtlich ist eine
Gefährdung für das Leben der Gefangenen nicht auszuschließen. Erwartet
die AKP, die auf den türkischen Islam beharrt, den Verlust von Leben?
Auf wie viele Tote wartet die AKP noch für die Lösung? Die Sprache eines
Volkes kann nicht Gegenstand von Verhandlungen sein. Sich gegen das Recht
auf die eigene Muttersprache zu stellen ist sehr einfach formuliert Despotie.
Ali Tanriverdi, Vorsitzender
des Menschenrechtsvereines IHD Mersin:
Der Hungerstreik, der seit dem 12. September 2012 andauert, ist nun in
der sehr kritischen Phase angelangt. Bevor Leichensärge aus den Gefängnissen
herausgetragen werden, sollten die Forderungen der Gefangenen erfüllt
und somit deren Tod verhindert werden.
Der BDP-Abgeordnete von Mersin
– Ertugrul Kürkcü:
Während tausende Menschen in den kleinen Zellen der Gefängnisse daran
glauben, eine Lösung finden zu können, haben Politiker, Akademiker, Schriftsteller
und Reporter, deren Bewegungsraum und Forschungsgebiet um einiges größer
ist, noch keine wirkungsvollen Schritte bezüglich einer Lösung der Kurdenfrage
gewagt.
Die Bevölkerung sollte die Stimme, die sich aus den Gefängnissen der Türkei
erhebt, stärken. Seit 20 Jahren bringen wir Särge in die Erde, obwohl
diese Erde eigentlich nach Leben ruft. Um dieses Leben willkommen zu heißen
nehmen tausende Gefangene den Tod in Kauf. Wir können genauso mutig sein
wie die Gefangenen. Nicht der Tod sondern das Leben soll siegen. Nicht
der Krieg sondern der Frieden soll siegen. Nicht die grausamen Märtyrer
sondern die Unschuldigen sollen siegen.
Asiye Kolcak, BDP-Co-Vorsitzende
von Istanbul:
Wir haben keine Erwartungen an die türkische Regierung. Unser Wort gilt
der türkischen Öffentlichkeit und den gewissenhaften Menschen. Erhört
diesen Schrei! Sagt nein zu dem schmutzigen Krieg der seit über 30 Jahren
andauert. Ich richte meine Stimme an die Menschen, die gegen den Krieg
in Syrien zu tausenden auf die Straße gingen. Seit über 30 Jahren wird
in Kurdistan ein Krieg geführt, unser Volk wurde ermordet und unsere Natur
und Kultur wurde vernichtet. Bleibt nicht Stumm in diesem Krieg.
Filiz Kerestecioğlu Anwältin:
Die Forderungen der Gefangenen sind die politischen Forderungen eines
ganzen Volkes. In jedem Haushalt gibt es ein Justizopfer, und das gesamte
Land ist ein Gefängnis geworden. Ohne Meinungsfreiheit kann keine Rede
von Recht auf Leben sein. Da Menschen ihre Meinung nicht äußern können,
riskieren sie ihr Leben. Wir müssen alles in unserer Macht stehende, erdenkliche
versuchen. Die Lösungen sind eigentlich sehr nah.
Schauspielerin – Jülide Kural:
Um nicht mit einer Gesellschaft leben zu müssen, die jeden Tod auf eine
mathematische Zahl reduziert, sollte jeder Denkende versuchen mindestens
einmal zu reden.
Quelle: ANF, Zusammenfassung
vom 20.–25.10.2012
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