Kann
man wegen der Tränengaswolken nicht mehr sehen, was auf den Strassen passiert?
Pinar Ögünç – Jounalistin
und Kolumnistin der türkischen Tageszeitung Radikal / 02.11.2012
Erinnert sich Erdogan
an die Briefe der hungerstreikenden palästinensischen Gefangenen? Gibt
es keine Probleme, wenn es keinen Hungerstreik gibt?
Er begann sein Geschwätz mit den Worten: „Ich richte von Deutschland aus
mein Wort an die Welt.“ Leider hat es die ganze Welt gehört. Er sagte:
„Ich verdeutliche einmal die Fakten zu dem Hungerstreik oder dem Todesfasten
in der Türkei.“ Als wäre beides gleichbedeutend. Als wolle er wahre Zahlen
mitteilen.
Aber nein. Er stellte die Zahl in den Vordergrund, die ihm passte und
sagte: „Es gibt aktuell in der Türkei eine Person, die ein Todesfasten
durchführt.“ Und mit dem Satz, „aktuell gibt es keinen Hungerstreik oder
dergleichen“, widersprach er, ohne mit der Wimper zu zucken, seinen eigenen
Ministern.
Der Hungerstreik hat am 12. September begonnen, er aber zeigt zum Beweis
eines „ Kebab-Essens während des andauernden Hungerstreiks“ ein Foto und
erwähnt noch, dass dieses vom 17. Juli stammt ...
Was soll man sagen? Es wäre besser gewesen, er hätte sich nicht an die
ganze Welt gewandt. Wer ist dann die eine Person, die Todesfasten durchführt?
Wer ist diese Person, für die der Ministerpräsident garantiert, „dass
die medizinische Versorgung unter Kontrolle ist“?
Wir haben danach gefragt ... Die Verantwortlichen des Justizministeriums
sagen, dass der Ministerpräsident vor dieser Rede von seinen Beratern
falsch informiert worden sei. Die Zahl der Todesfastenden, also derjenigen,
die neben Wasser nicht einmal Vitamine und eine bestimmte Menge Zucker
und Salz zu sich nehmen, belaufe sich nicht auf eins, sondern zwei. Sogar
diese Zahl war also falsch.
Brief aus Palästina
Die stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden der Partei für Frieden und
Demokratie (BDP) Pervin Buldan und Idris Baluken haben gestern im Parlament
eine Presseerklärung abgegeben. Auch sie sagen, dass es zwei sind. Haci
Aslan und Adem Yildiz, beide im E-Typ Gefängnis von Gümüshane einsitzend,
hatten erklärt, dass sie ihren am 9. Oktober begonnenen unbefristeten
Hungerstreik am 16. Oktober auf eigenen Entschluss in ein Todesfasten
umgewandelt haben. Das Justizministerium behauptet, dass diese beiden
Personen das Todesfasten beendet haben. Die Rechtskommission der BDP bestätigte
gestern Nachmittag, dass Haci Aslan und Adem Yildiz auf eigenen Entschluss
ihr Todesfasten beendet haben, den Hungerstreik weiterführen.
Für uns ergibt sich folgendes Bild: Nach den von Justizminister Sadullah
Ergin eigens genannten Zahlen beteiligen nach Addition dieser beiden Personen
in 66 Gefängnissen nun genau 685 Menschen am Hungerstreik. Aber es gibt
kein Todesfasten, also gibt es kein Problem, oder was? Wie noch sollen
wir verständlich machen, dass bei dem Hungerstreik die kritische Grenze
längst überschritten ist und dass jeder weitere Tag bleibende gesundheitliche
Schäden bedeutet? Ich glaube nicht mehr, dass wir in diesem Fall mit dem
Hinweis auf Menschlichkeit und Gewissen weiterkommen. Die kritische Grenze
für diese Einsicht ist nämlich bereits überschritten.
Noch zu Beginn dieses Jahres führten 2000 von 4600 palästinensischen Gefangenen
in israelischen Gefängnissen einen Hungerstreik durch, mit den Forderungen
nach Gesprächen mit ihren Rechtsanwälten und der Verbesserung der Haftbedingungen.
Im Mai rief der Ministerpräsident der palästinensischen Regierung, Ismail
Haniye, Erdogan in diesem Fall zu Hilfe. Die Gefangenen selbst schrieben
Erdogan einen Brief. Es ist glasklar, dass der Ministerpräsident nicht
einen Bruchteil dessen mit dem jetzigen Hungerstreik fühlt, was er beim
Lesen des Briefes gefühlt hat. Es geht nicht darum, jemanden zu bevorzugen
oder die Bedingungen zu vergleichen, sondern es geht um das Verstehen
des Menschen ...
Er beendete seine Rede mit den Worten: „Als Ministerpräsident der türkischen
Republik spreche ich für 75 Millionen Menschen und diese 75 Millionen
umarme ich alle.“ Sind die Straßen, Universitäten und Plätze, an denen
die Stimmen aller Teile der Gesellschaft immer lauter werden, vor lauter
Tränengas nicht mehr zu sehen?
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