Ohne
die Freiheit der Frau keine Demokratie
PINAR ÖĞÜNÇ - Die
Türkei führt alle ihre diplomatischen Gespräche über Rojava (Westkurdistan/Syrien)
mit der Partei der Demokratischen Einheit (PYD) mit Salih Muslim. Doch
an der PYD-Spitze ist auch eine Frau, Asya Abdullah, vertreten. Wir sprachen
mit ihr über den Kampf der Frauen, über die Aufrufe zur Vergewaltigung
von kurdischen Frauen durch die Islamisten und über die kommenden Wahlen.
Die Türkei hat
bezüglich ihrer Politik zu Rojava Salih Muslim statt Sie zum Gesprächspartner
erkoren. Ist das das Ergebnis einer Arbeitsteilung? Oder wollte die Türkei
das so?
Das hängt mit der Arbeitsteilung zusammen. Wir haben viel zu tun. Die
Arbeit begrenzt sich nicht auf diplomatische oder politische Tätigkeiten.
Wenn Herr Muslim hier ist, dann nehme ich auch ab und an, an den diplomatischen
Gesprächen teil. Die Gesprächsanfragen sind ohnehin nicht an Personen,
sondern an unsere Partei gerichtet. Wir entscheiden dann unter uns, wer
hingeht und wer nicht.
Glauben Sie im
Allgemeinen, dass die Türkei die Frauenpolitik der kurdischen Bewegung
versteht?
Im Mittleren Osten spielt die Frau derzeit nirgendswo eine aktivere Rolle
als in der kurdischen Freiheitsbewegung. Das ist keine Propaganda, sondern
Realität. Egal ob im politischen, im sozialen oder im militärischen Bereich,
überall ist die Frau im Kampf vertreten.
Doch die Völker des Mittleren Ostens befinden sich im Würgegriff der vorherrschenden
männlichen Herrschaftsmentalität. Das hat natürlich auch einen politischen
Background. Wenn man an Politik denkt, kommen einem nur Männer in den
Sinn. Das ist auch der Grund, weshalb die politischen, sozialen, ökonomischen
und diplomatischen Probleme in dieser Region so tief verwurzelt sind.
Diese Probleme basieren auf einer patriarchalen Gesellschaftsordnung und
der dazugehörigen Mentalität.
Eine Gesellschaftsordnung im Mittleren Osten, in der alle ihre Meinung
frei zum Ausdruck bringen können, ist der größte Alptraum der Herrschenden.
Genauso Angst haben sie vor dem Kampf der Frauen, weil dieser mit so einer
Gesellschaftsordnung in Verbindung steht.
Schauen Sie sich die Länder an, in denen der Arabische Frühling geweht
hat. Überall wurden nur die Entscheidungen der Männer durchgesetzt. Obwohl
die Frauen eine wichtige Rolle bei den revolutionären Umwälzungen in den
Ländern hatten, wurden sie beim Aufbau der neuen Systeme schlichtweg übergangen.
In Syrien ist es zurzeit auch ähnlich. Schauen Sie sich die vermeintliche
Opposition in Syrien an. Sie werden so gut wie keine Frau unter ihnen
finden.
Ich frage mich, was für eine Revolution sie durchführen wollen, in der
nicht alle Teile der Gesellschaft vertreten sind! Wie können sie von Freiheit
und Demokratie sprechen, und dabei die Gleichberechtigung von Frauen und
Männern einfach übergehen? Wie kann eine Gesellschaft frei sein, in der
die Frauen nicht frei sind?
Wie beeinflusst
die Frauenbewegung die neue Gesellschaftsordnung in Rojava?
Bei der Revolution in Rojava haben die Frauen eine Führungsrolle. Das
kann niemand leugnen. Die Frauen packen überall mit an. Bei der Politik,
bei der Diplomatie, im sozialen Bereich, aber auch im Krieg. Sie helfen
bei sozialen Fragen, sie gehen zur Bevölkerung, sie bauen ein neues demokratisches
System mit auf, und sie zeigen auf, wie eine neue und demokratische Familienordnung
gestaltet werden muss. Wir Frauen haben hierfür viel gearbeitet. Nur durch
diese Mühen haben wir unsere heutige Position erlangt. Aber wir müssen
unseren Kampf gegen das rückständige und patriarchale System weiter fortsetzen.
Wir sind noch lange nicht an unserem Ziel angekommen. Dessen sind wir
uns durchaus bewusst. Wir haben aus den Fehlern vergangener Revolutionen
gelernt. Es hieß immer: „Lass uns die Revolution zum Erfolg bringen, danach
werden wir den Frauen schon ihre Rechte geben.“ Nach der Revolution ist
das natürlich nie geschehen. Wir werden allerdings nicht zulassen, dass
sich das bei unserer Revolution wiederholt.
In der letzten
Zeit erreichten uns im Rahmen der Kämpfe mit der Al-Nusra-Front auch Meldungen,
dass diese Vergewaltigungen an Frauen für legitim erklärt haben. Gibt
es Zahlen zu den Vergewaltigungsfällen?
Die von äußeren Mächten unterstützten Gruppen und die Dschihadisten haben
weder mit Demokratie noch mit irgendeiner Religion etwas gemein. Unserer
Meinung nach benutzen sie auch den Islam nur für ihre eigenen Zwecke.
Es sind nicht nur die kurdischen Frauen sondern alle Frauen Syriens, die
im Visier dieser unmenschlichen Gruppen sind. Es gibt eine Vielzahl von
Vergewaltigungsfällen. In der Region von Haseke wurden beispielsweise
bis vor kurzem eine große Anzahl an armenischen Frauen entführt, vergewaltigt
und ermordet.
In dieser Region haben KurdInnen, AraberInnen, ChristInnen, DrusInnen,
SunnitInnen und AlawitInnen friedlich miteinander gelebt. Diese Gruppen
greifen zugleich auch dieses friedliche Zusammenleben an. Heute greifen
sie die KurdInnen an, doch ihr Ziel ist es, das Zusammenleben der Menschen
zu zerstören. Die kurdische Frau ist besonders in ihrem Visier. Das liegt
daran, dass die kurdischen Frauen auch aktiv an den Kämpfen beteiligen.
Diese Frauen verteidigen nicht nur sich selbst, sondern eigentlich alle
Frauen Syriens
Uns wurde vielfach berichtet, dass diese Gruppen, während sie auf den
Straßen Busse mit flüchtenden Menschen stoppen, gezielt nach KurdInnen
suchen. „Wenn es unter euch Kurden gibt, werden wir ihre Köpfe abhaken
und so in den Himmel kommen“, sagen sie. Gegen solche Gräuel müssen alle
Frauen des Mittleren Ostens sich wehren.
Bei beiden Besuchen
von Salih Muslim in der Türkei war auch die türkische Unterstützung der
Al-Nusra-Front Thema der Gespräche. Der türkische Außenminister Ahmet
Davutoğlu erklärte persönlich, dass es diese Unterstützung nicht gäbe.
Was sagen sie dazu?
Wir wissen, dass die bewaffneten Banden aus allerhand Ländern stammen.
Es gibt auch Banden, die aus der Türkei kommen. Es wurden bei Kämpfern
in deren Reihen türkische Ausweise und ähnliche Papiere gefunden, die
das beweisen. Wir wissen, dass die Staaten aus dieser Region bestimmte
bewaffnete Gruppen und Banden unterstützen, auch wenn sie selbst das immer
verneinen. Besonders die Türkei hat seit Beginn der Aufstände sowohl politische
als auch militärische Unterstützung geliefert. Gruppen, die sich in Istanbul
getroffen hatten, haben dort das Existenzrecht der KurdInnen verleugnet
und dabei die Unterstützung der AKP erhalten. Kann man das Ziel der Demokratisierung
einer Gruppe ernst nehmen, die den KurdInnen das Existenzrecht abspricht?
Wir sprechen nicht nur von der Freiheit des kurdischen sondern aller Völker
in Syrien. Dies sollte die Opposition, wenn sie sich selbst als solche
ernst nimmt, auch tun. Während wir von einer demokratischen Freiheit für
alle sprechen, begrenzen sie ihre Freiheitsforderungen allein auf ihre
Gruppen bzw. ihr Klientel.
Wir denken nicht, dass die Türkei eine ernstzunehmende Abkehr von ihrer
bisherigen Politik vollzogen hat. Die logistische und politische Unterstützung
der bewaffneten Banden hält an. Zwar erachten wir die diplomatischen Gespräche
mit der Türkei für wichtig. Allerdings sollten statt bloßer Worte langsam
auch Taten folgen lassen.
In der Türkei
und anderswo gibt es viele Leute, die behaupten, dass es in Rojava eigentlich
gar kein Massaker gegeben habe und dass alles übertrieben werde. Was wollen
Sie zu diesen Behauptungen sagen?
Diese Massaker wurden verübt. Es gibt genügend Menschen, die das bezeugen
können. Wir wissen, dass Dutzende uns bekannte Menschen dort massakriert
worden sind. Es gibt Mütter, die berichten, dass ihre Kinder vor ihren
Augen ermordet worden sind. In Afrin wurden Menschen vor den Augen der
Menschen geköpft. Eine Vielzahl von Häusern wurde in die Luft gesprengt.
Wenn wir keine Vorkehrungen getroffen hätten, hätten auch größere Massaker
stattfinden können. Alle diejenigen, die Zweifel an diesen Massakern haben,
sollen nach Rojava fahren und sich selbst ein Bild von der Lage machen.
Wir sind bereit, jeden unsere Unterstützung zu geben, die die Wahrheit
mit eigenen Augen sehen wollen.
In den vergangenen
Wochen haben Sie auf einer Presseerklärung zum Ausdruck gebracht, dass
beim Aufbau der Selbstverwaltungsstrukturen die zweite Etappe erreicht
worden sei. Es sollen binnen sechs Monaten Wahlen stattfinden. Glauben
Sie, dass es Risiken gibt, die diese Etappe in Gefahr bringen könnten?
Wir haben allen Teilen der Gesellschaft in Rojava unser Projekt der Demokratischen
Autonomie vorgestellt. Wir wünschen uns, dass das demokratische System,
das wir seit zweieinhalb Jahren aufbauen, von bleibender Dauer ist. Eigentlich
wollen wir das System auf ganz Syrien ausweiten. Wir versuchen das System
nicht nur für die KurdInnen, sondern für Volks- und Religionsgruppen aufzubauen.
Wenn die Vorbereitungen für Rojava abgeschlossen sind, wollen wir die
Wahlen durchführen. Es sollen transparente und demokratische Wahlen werden,
sodass alle die Ergebnisse respektieren.
Wenn Sie eine
Prognose wagen würden, wie sehen Sie die Situation in fünf Jahren?
Wir sind davon überzeugt, dass es jeden Tag ein wenig besser sein wird.
Die Gesellschaft wird für ihre Überzeugung, ihr Schicksal in die eigene
Hand zu nehmen, den Widerstand weiterführen. Je länger sie diesen Widerstand
führt, desto mehr Erfahrung wird sie in diesem Kampf sammeln. Zurzeit
durchleben die Völker Syriens große Schwierigkeiten. Aber wir glauben,
dass diese Schwierigkeiten auch als Preis für die Freiheit gesehen werden
können.
Bei der Frauenkonferenz
des Mittleren Ostens in Amed sprachen Sie davon, dass die Herausforderungen
für die Frauen in Syrien nicht einfach sind. Erstmals seien die Frauen
in Syrien damit konfrontiert, eine Revolution vollbringen zu müssen. In
der Türkei und anderswo gibt es nur oberflächliche Informationen über
die Situation in Rojava. Können Sie uns kurz darstellen, welche Errungenschaften
die Frauen seit dem 19. Juli letzten Jahres (Datum an dem die KurdInnen
in Rojava die erste Stadt unter ihre Kontrolle gebracht haben; Anm. d.
Übersetzers) durchgesetzt haben?
Die Revolution vom 19. Juli hat sich nicht von alleine ereignet. Es wurden
große Opfer und Mühen aufgebracht, damit unser Kampf in einer Revolution
münden konnte. Auch gegen das Baath-Regime hat die kurdische Frau einen
großen Widerstand entwickelt. Aufgrund dessen haben Genossinnen von uns
viele Jahre in Haft verbracht. Noch viel mehr Frauen wurden gesucht oder
waren Verhören ausgesetzt. Von dem Schicksal einer unserer Genossinnen,
die im Jahr 2004 festgenommen worden war, wissen wir immer noch nichts.
Diese Freundin haben wir im Frauenfreiheitskampf verloren.
Die Frauen haben sowohl vor als auch nach dem 19. Juli ihren Platz im
Widerstand eingenommen und zu großen Erfolgen mit beigetragen. Das Selbstverwaltungssystem,
das wir in Rojava aufgebaut haben, umfasst auch die Selbstorganisierung
der Frauen. Diese Selbstorganisierung umfasst derzeit alle Teilen Rojavas.
Die Frauen fällen die Entscheidungen, die ausschließlich sie selbst angehen,
selbst. In allen Institutionen, in den Dorf-, Stadtteil- und Stadträten
haben wir eine 40%ige Geschlechterquote eingeführt. Es gibt Organisierungen,
die allein von den Frauen geführt werden. So gibt es in allen Städten
Rojavas eigenständige Frauenräte. Die Organisierungen beschäftigen sich
ständig mit den Schwierigkeiten und Problemen der Frauen. Es gibt unabhängige
Bildungsakademien, deren Türen für alle Frauen offenstehen. Es gibt zahlreiche
Kinder- und Frauenorganisierungen, die in der Zivilgesellschaft verankert
sind.
Quelle: Radikal, 22.08.2013,
ISKU
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