Der
lange Marsch der Êzîden
Wir verfolgen die
kleinen Fußspuren êzidischer Kinder, die sie Barfuß hinterlassen haben.
Während die Kinder, die geboren werden, ihre Namen auf der Flucht bekommen,
rufen die Alten, die die Hitze nicht mehr aushalten „Ey Tausî Melek, Oh
Engelspfau“. Durst, Hitze und Verrat vervollständigen den schweren Weg
der Vertreibung des êzîdische Volkes. Die Schreie der Kinder nach Wasser,
bringen den Himmel zum Beben. „Sie haben den Beschluss zu unserem Genozid
gefasst“ sagt die alte Frau. Keinen Tropfen Milch mehr hat eine andere
in ihren Brüsten, vergeblich versucht sie, ihr Baby zu stillen. In den
Augen der Kinder sammeln sich keine Tränen sondern Staub. Und die Geschichte
öffnet noch einen weiteren Tag der Tragödie. Die Flucht der Êzîden vor
einem stillen Holocaust zieht in die Geschichte.
Die Geschichte wird die Flucht der Êzîden vor den brutalen Angriffen der
IS-Terroristen festhalten, einen Weg von 40 Kilometern. Die Nachrichtenagentur
Dicle begleitet diese beispiellose Flucht, um diese in die Öffentlichkeit
zu tragen.
Eine Wüste,
scheinbar ohne Anfang und Ende, bezeugt den Marsch Zehntausender
Das êzîdische Volk musste ihre Heimat, ihre Wohnungen und ihre Geschichte
in Şengal aufgeben. Şengal wurde durch die Terroristen des IS besetzt.
Die, die jetzt den Sicherheitskorridor der Volksverteidigungseinheiten
(YPG) nutzen, um zum Kanton Cizîre nach Rojava/Nordsyrien zu gelangen,
sind Kinder und Alte, die sich vorm Massaker retten konnten, nur einige
wenige Habseligkeiten tragen sie mit sich. Die bei 55° Celsius hungrig,
durstig und Barfuß laufenden Êzîden können Aufgrund des vielen Staubs
ihre Augen kaum öffnen. Während schwangere Frauen ihre Kinder gebären,
bleiben die Neugeborenen ohne Namen. Alte, deren Fußsohlen aufgrund der
Hitze aufplatzen, erleiden in der unerträglichen Hitze immer wieder Schwächeanfälle.
Während des Marsches ist die drastische Hitze, die Wüste, der Durst und
Hunger, der Verrat in den Ohren präsent. Wenn die Frage „Was ist in Şengal
passiert?“ gestellt wird, können die Menschen nicht einmal Antworten,
die Tränen fangen an zu laufen. Die ersten Sätze der Êzîden, deren Kehlen
vollkommen ausgetrocknet und voller Staub sind, lauten, „Sie haben uns
allein gelassen, sie sind geflohen“. Mit der Flucht der KDP-Peshmerge,
die zeitgleich mit den Angriffen des IS erfolgte, machten sich auch Araber
auf die „Jagd auf Êzîden“. Sie äußern, dass alle nur darauf gewartet haben,
um sie zu massakrieren.
Die Alten, von denen öfters die Wörter „Oh Engelspfau“ zu hören war, machten
darauf Aufmerksam, dass in den Bergen von Şengal eine hohe Zahl an Menschen
vor Durst und Hunger gestorben sind, und diese Berge stark nach Verwesung
riechen. Die Êzîden, die sich immer noch nicht im klaren sind, was gerade
mit ihnen geschieht, machen darauf Aufmerksam, dass ihre Töchter in den
Händen der IS-Banden sind und die Älteren massakriert wurden. Ihre Rettung
aus den Şengal-Bergen wurde von den YPG angeführt. Die Volksverteidigungseinheiten
konnten ihre Ermordungen in den Şengal-Bergen mit ihrem Einsatz verhindern.
Ihre kleinen
nackten Füße laufen in der Wüste!
In Gruppen gehen wir mit ihnen gemeinsam, mehr oder weniger sicher, die
Berge hinunter, und der stundenlange Marsch zeigt, wie ernst die Lage
ist. Bisher sind mehr als Hunderttausende diesen langen Weg gegangen,
doch die Kinder, die mit ihren nackten Füßen auf dem brennenden Sand der
Wüste laufen, hören nicht auf zu weinen – selbst wenn keine Tränen mehr
aus den völlig ausgetrockneten Augen fließen können. Selbst das Wasser
in den kleinen Flaschen erreicht unter der brennenden Hitze den Siedepunkt,
doch es ist die einzige Quelle zum Überleben. Die êzîdischen Gruppen werden
überwiegend von Kinder gebildet, die ihre Eltern verloren haben. Zur Hilfe
eilen Fahrzeuge aus dem Kanton Ciziré, jedoch sind sie auf dem Weg, verursacht
durch den sandigen Wind, nicht lange einsetzbar. Uns fallen immer wieder
die vielen verlassenen Fahrzeuge auf, deren Motoren versagten. Aufgrund
des langen anstrengenden Weges, lassen die Êzîden sogar das wenige zurück,
was sie bei sich tragen konnten. Diese zurückgelassenen Kleiderstücke
dienen auch den ihnen folgenden, dass sie sich nicht verlaufen, andererseits
sind sie Zeugnis der sich abspielenden Tragödie. Wir nehmen besonders
die kleinen, nackten Fußspuren der Kinder in dem Wüstensand auf. Uns fallen
auf dem nicht enden wollenden Weg ein Paar Stiefel auf, sie gehören einem
Jungen, dessen Füße darin verbrannten. Die Müdigkeit und der Durst wird
unerträglich, sodass Schreie von allen Seiten zu hören sind: „Gebt uns
etwas Wasser.“
“Wir werden
nie vergessen, was uns angetan wurde“
Auf dem Weg voller Verzweiflung kommen Krankheiten auf. Vor allem Kinder
und ältere Frauen sind von dem Mangel an Wasser und dem vielen Sand erheblich
betroffen und verlieren ihr Bewusstsein. Vor allem das Leiden der schwangeren
Frauen, wogegen man machtlos ist, demotiviert alle. Auf dem Weg kommen
Sandstürme auf und die Hilferufe werden immer lauter, plötzlich hören
wir einen Helikopter, was für mehr Bewegung und Aufsehen sorgt. Doch dann
stellen wir fest, dass er vom TV-Sender Rudaw, der die Weltmedien mit
falschen Nachrichten über uns manipuliert, ist. Mit ihren Aufnahmen von
uns werden sie die Nachricht verbreiten: Die Peshmerger rettet die Êzîden
vor den IS-Terrorbanden. Doch die YPG war es, die zum Schutz der Êzîden
Verteidigungskräfte nach Şengal geschickt hat und verhindert hat, dass
es in den umliegenden arabischen Dörfern zu Angriffen kommt. Sie haben
versucht, die Menschen auf der Flucht soweit wie möglich mit Wasser zu
versorgen.
Das Marschieren wird durch die brennende Sonne um die Mittagszeit unerträglich.
Die Münder sind ausgetrocknet, so dass sie kaum noch einen Ton rausbringen
können. Und doch schreit plötzlich einer: „Wir werden diese Zeit nicht
vergessen. Unsere Kinder und Enkelkinder werden uns rächen. Nicht wir
sind Ungläubige, sie sind es.“ Dann sieht ein anderer unsere Kameras und
beginnt auf Arabisch, Kurdisch und Englisch zu reden. Er will, dass die
Weltöffentlichkeit diese brutale Realität erkennt.
„Sie haben
den Beschluss zu unserem Genozid gefasst“
Obwohl die Menschen auf dem langen Marsch nur noch sehr schwer ein Wort
herausbekommen können, betonen sie, dass die PKK ihnen zur Hilfe geeilt
ist und sagen: „Wenn es die Apocu‘s nicht gebe, wären wir alle tot! Wir
haben die HPG und YPG um Hilfe gebeten, und sie kamen.“
Eine ältere Frau sagt: „Sie haben den Beschluss zu unserem Genozid gefasst.
Was soll ich sagen, Gott sieht alles.“
Die Mütter
schützen ihre Kleinen vor den Sandstürmen
Ein LKW mit Wasser nähert sich uns. Er kommt von der Regierung des Kantons
Cizîre aus Rojava; viele können gerettet werden, die kurz vor dem Verdursten
sind. Wir erreichen Dörfer, die von den Widerstandstruppen aus Şengal
bewacht werden und suchen uns zum Ausruhen Plätze im Schatten. Wir bekommen
die Möglichkeit, eine Kleinigkeit zu essen. Das Erreichen des Dorfes bedeutet
aber nicht, dass alles zu Ende ist, wir am Ziel sind. Dies ist nur eine
Pause, denn wir haben bisher nur die Hälfte des Weges geschafft. Einige
Fahrzeuge kommen, um Kranke, Alte, Schwangere und Kinder in das zentrale
Gebiet zu transportieren.
Durch den Sandsturm werden sogar das Atmen zur Qual und das Sehen erschwert.
Die Mütter tragen ihre Babys vor der Brust und schützen mit Tüchern ihre
Gesichter vor dem feinen Sand. Während dutzende Menschen auf die Pickups
steigen, obwohl nur für wenige Platz ist, fallen ältere Frauen in Ohnmacht.
Mit seiner
Frau ist er den Widerstandstruppen beigetreten!
Auf der Reise begegnen wir der Familie Isa, deren Geschichte erwähnenswert
ist. Hamre Isa war bei den Polizeikräften der KDP in Hewler. Doch nach
den Vorfällen in Şengal geht er zurück in sein Dorf. Zusammen mit seiner
Frau schließt er sich der Flucht an. Als sie in einem Dorf angekommen,
wo YPG-Kräfte stationiert sind, äußert er ihren Wunsch, sich mit seiner
Frau der YPG anzuschließen. Uns fällt auf, dass sie den Sohn seines ermordeten
Bruders wie ihre eigenes Kind beschützen. Sie selbst haben keine Kinder.
Obwohl die YPG´ler ihnen widersprechen, hören sie nicht auf sie und sagen:
„Wir müssen Şengal von diesen Barbaren zurückerobern. Wir haben alles
zurückgelassen. Wir haben nichts zu verlieren.“ Der ehemalige Polizist
und seine Frau nehmen die Waffe in die Hand und betonen, dass sie zurück
nach Şengal kehren werden, um zu kämpfen.
Die Bevölkerung
in Rojava empfängt die Êzîden mit Brot und Wasser
Unsere Reise endet in Ceza, das sich an der Grenze zu dem Kanton Cizîre
befindet. Hier haben sich viele Êzîden versammelt und werden von der Bevölkerung
Rojavas mit Brot und Wasser empfangen. Hunderte öffentliche Verkehrsmittel
warten startbereit, so dass die Êzîden die Gelegenheit als Verschnaufpause
nutzen können. Viele werden in den Zelten des Kurdischen Roten Halbmondes
(Heyva Sor a Kurdistane) medizinisch versorgt. Wir bekommen mit, dass
viele schwangere Frauen in den Zelten ihr Kind auf die Welt bringen.
Einige konnten auch ihr Kleinvieh retten, das wir hier nun sehen können.
Die Tiere werden an sichere Orte gebracht, wo Hirten auf sie achten.
Das êzîdische Volk erlebt die größte Katastrophe des Jahrhunderts, über
dessen Zukunft der Widerstand in Şengal entscheiden wird. Die Flucht zehntausender
Menschen in der Wüste geht weiter.
Sie organisieren
sich mit der PKK
Um ihr heiliges Land wieder zurückzuerobern, haben sich êzîdische Jugendliche
der YPG angeschlossen. Sie sagen, dass der Krieg nicht zu Ende ist und
sie Şengal von der Belagerung befreien werden. Die Jugendlichen haben
zunächst ihre Familien in sichere Gebiete gebracht und begeben sich auf
eine neue Reise, um sich den Einheiten der HPG und YPG in den Bergen von
Şengal anzuschließen. Das êzîdische Volk wurde oft mit traurigen und tragischen
Geschichten konfrontiert und lebte oft am Rande von Massakern. Mit der
Hilfe der PKK und den Verteidigungskräften hat sie die Möglichkeit sich
zu organisieren, damit solche Vorfälle sich nicht wiederholen können.
Die 40 km lange Flucht des êzîdischen Volkes vor einem Völkermord hat
kein Ende. In der Geschichte der Menschheit wird der Völkermord an den
Êzîden nicht wirklich dokumentiert, die voller tragischer Ereignisse ist.
Die Spuren der erzwungenen Migration lassen wir hinter uns. Die kleinen
Abdrücke nackter Füße von kleinen blonden kurdischen Kindern in der Wüste
zeigen die Realität in den Augen der Kinder und erzählen ihre Botschaft.
Özgür Gündem, 13.08.2013,
ISKU |