Ein Bericht aus der belagerten Stadt Kobanê Seit knapp zwei Monaten haben die Kämpfer des Islamischen Staates (IS) die kurdische Stadt Kobanê in Westkurdistan belagert. Ersin Çaksu ist einer der wenigen Journalisten, die täglich aus der belagerten Stadt Kobanê berichten. Ich kam am 19. September, vier Tage nach dem Beginn der Angriffe des IS, nach Kobanê. Die meisten ZivilistInnen, die ich da gesehen habe, sind verschwunden. Einige von ihnen sind in die Türkei geflohen, andere sind leider bei den Kämpfen getötet wurden. In Kobanê und den 360 umliegenden Dörfern lebten ungefähr 400.000 Menschen. Jetzt leben nur noch 4.000 Menschen in den sicheren Gebieten des Stadtzentrums. Es leben noch weitere 5.000 Zivilisten in Til Sheir, einem Dorf östlich von Kobanê. Das Gebiet ist stark vermint und zwischen dem Stacheldraht an der Grenze zu Türkei und einer Bahnstrecke gelegen. Als der IS mit den Angriffen begann, sind viele Menschen mit ihren Habseligkeiten in dieses Gebiet geflohen. Es gibt hier ganze Familien, aber ihre Augen sind auf Pîrsûs (Suruç) der Grenzstadt auf der türkischen Seite, gerichtet. Die einzige Verbindung
zwischen Kobanê und Pîrsûs ist nur mit dem Mobiltelefon möglich. Die Menschen
auf beiden Seiten machen sich Sorgen umeinander. Während die ZivilistInnen
in Kobanê ein Teil des Kampfes gegen den IS sind, kämpfen ihre Verwandten
in Pîrsûs als Flüchtlinge ums Überleben. Auch wenn der südliche Teil der Stadt nicht so stark wie der Osten beschädigt, ist überall Zerstörung zu sehen. Es fanden in diesen Teilen der Stadt heftige Straßenkämpfe statt und keine der Türen dieser Häuser wurde geöffnet. Alle Häuser sind durch riesige Löcher in den Wänden miteinander verbunden. Es möglich von Haus zu Haus durch diese Löcher zu gehen und gelangt dann in einem anderen Teil der Stadt, vier oder fünf Straßen weiter. In jeder Straße gibt es zerstörte Fahrzeuge. Seit Beginn der Kämpfe wurden die Straßen in der Stadt nicht gereinigt und die Stadt wurde von Fliegen überfallen. Aber jetzt ist das Wetter kühler geworden und der Gestank in den Straßen nicht mehr so intensiv. Der Hunger und Wassermangel haben die Situation für die Straßenhunde und andere auf der Straße lebender Tiere deutlich verschlechtert. Die meisten ZivilistInnen sind entweder ältere Menschen oder Frauen mit Kleinkindern. Obwohl es ihnen nicht gestattet ist an die Front zu gehen und gegen den IS zu kämpfen, brechen einige das Verbot. Xale Osman, 67, hat
sich bewaffnet und kämpft an der Seite seiner beiden Söhne. „Während die
jungen Menschen hier sterben, glaubst du wirklich, dass ich Angst vor
dem Tod habe?“, fragt er mich. Wenn ein Angriff oder
eine andere Bedrohung durch den IS droht, rufen die YPG/YPJ einen kurzfristigen
Notstand aus und bringen die Menschen in anderen Häusern unter, bis die
Gefahr vorbei ist. Vielleicht erklärt genau diese Solidarität warum Kobanê so lange durchgehalten hat. Es gibt nur wenige Menschen, die noch in ihren eigenen Häusern leben. Wenn es notwendig ist, stehen die Türen der Häuser für bedürftige Menschen jederzeit offen. Diejenigen, die noch in ihren Häusern sind, teilen sich den Käse, die Essiggurken, die Marmelade und das Trockengemüse, welches sie für den Winter angebaut hatten, mit den bedürftigen Menschen. Obwohl die Menschen nur wenig zum Überleben haben, teilen sie es untereinander auf. Wenn zum Beispiel ein Auto benötigt wird, öffnet die YPG/YPJ eine Garage und notiert den Namen des Fahrzeughalters und das Nummernschild und das Fahrzeug kann verwendet werden. Es gibt keine kommerziellen Aktivitäten in der Stadt. Das einzige Geschäft, welches noch offen ist, ist die Bäckerei. Das dort gebackene Brot wird kostenlos an die Menschen verteilt. Andere Lebensmittel, vor allem Konserven aus Beständen und der humanitären Hilfe, werden an bestimmten Tagen untereinander gleichmäßig verteilt. Wasser wird in großen Flaschen verteilt. Die lokale Verwaltung verteilt auch alle drei Tage Mehl. Fünf Haushalte teilen sich einen Sack mit 50 kg Mehl. Es gibt ZivilistInnen, die sich freiwillig an die Front stellen und gemeinnützige Arbeit verrichten. Sie reparieren Fahrzeuge, Waffen und Generatoren in einer Stadt, die seit den letzten 18 Monaten keinen Strom hat. In vielen Fällen helfen
sie den Ärzten Verletzte zu transportieren, tragen Waffen und Munition
an die Front, kochen für die KämpferInnen oder nähen die Kleidung für
sie. Es gibt nur fünf Ärzte in der gesamten Stadt und aufgrund der mangelnden medizinischen Ausrüstung und Medikamente, können die Ärzte in den meisten Fälle die Wunden nur notdürftig behandeln. Die drei Krankenhäuser in der Stadt Kobanê wurden durch die Bombenangriffe zerstört und die Ärzte versorgen die Verwundeten in einem kleinen Gebäude. Viele, die krank werden, weigern sich zum Arzt zu gehen. Eine ältere Frau erklärt dazu, dass die medizinische Ausrüstung sowieso schon knapp ist. „Die Medizin soll nicht an uns verschwendet werden. Unsere Kinder kämpfen und werden verletzt. Die medizinische Versorgung, die Medikamente sollen für sie verwendet werden.“ Während der Friedhof von Kobanê zu einem Schlachtfeld geworden ist, werden die Verstorbenen in einem anderen Teil der Stadt begraben. Xatun, eine Frau, sagt mir nach der Beerdigung einer Verwandten – eine junge Kämpferin –, dass sie keine Zeit haben richtig zu trauern. „Wir werden jetzt nicht weinen. Wenn Kobanê befreit ist, werde ich zweimal weinen. Einmal werden Tränen der Traurigkeit für die jungen Menschen fließen, die wir begraben haben. Zum anderen Tränen der Freude, weil sie ihr Leben geopfert haben und dadurch Kobanê befreit haben.“ Özgür Gündem, 07.11.2014,
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