Interview
mit Pervin Buldan, HDP: Falls der Prozess einbricht, wird dies niemals
von Herrn Öcalan ausgehen
Pervin Buldan
ist stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Partei der Demokratischen
Völker HDP. Sie ist Mitglied der HDP-Delegation, die seit Frühjahr 2013
den inhaftierten PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan auf der Gefängnisinsel
Imralı im Rahmen des Lösungsprozesses zwischen der kurdischen Bewegung
und dem türkischen Staat besucht. Die Gespräche befinden sich in einer
Sackgasse, da die AKP-Regierung auf Zeit spielt und keine konkreten Schritten
macht. Im Interview mit der kurdischen Nachrichtenagentur ANF, das Ruken
Adalı mit Pervin Buldan führte, erklärte sie den letzten Stand der Gespräche.
Hat ihre Delegation
nach dem Besuch bei Abdullah Öcalan auf der Gefängnisinsel Imralı mit
der Regierung der Türkei ein Gespräch geführt?
Es hat weder mit einer staatlichen noch einer Regierungsstelle ein Gespräch
stattgefunden. Ich kann sagen, dass nach unserem letzten Besuch bei Herrn
Öcalan [Der letzte Besuch bei Herrn Öcalans hat am 21. Oktober 2014 stattgefunden]
und den Vorfällen am 6. und 7. Oktober und den folgenden polemischen Debatten
die Gespräche beendet wurden.
Sie beziehen
die Imralı-Gespräche mit ein, ist das richtig?
Ja, das tue ich. Bevor wir auf die Insel fahren, sprechen wir normalerweise
sowohl mit der Staats- als auch mit der Regierungsdelegation. Diese Gespräche
haben nach unserem letzten Besuch bei Herrn Öcalan noch immer nicht stattgefunden;
es wurde polemisiert. Wir müssen eigentlich immer vor dem Besuch auf Imralı
mit einer der Delegationen sprechen. Aber dieses Mal hat bisher kein Gespräch
stattgefunden.
Wir bewerten
Sie es, dass diese Gespräche noch nicht stattgefunden haben? Uns erscheinen
diese Entwicklungen als außergewöhnlich. Was passiert nun Ihrer Meinung
nach?
Das ist richtig, dass wir eine außergewöhnliche Phase erleben. Die Erklärungen
der Regierung zu ihrer Außenpolitik sowie ihre Haltung vor und nach den
aktuellen Vorfällen am 6. und 7. Oktober wegen Kobanê und die dortige
spätere Entwicklung hat die Regierung beunruhigt. Es hat sie beunruhigt,
dass sich die Bevölkerung für Kobanê eingesetzt hat und die Stadt nicht
eingenommen worden ist. Daraufhin hat sie die HDP zur Zielscheibe erklärt
und Erklärungen abgegeben, die eine regelrechte Lynchkampagne eingeleitet
hat. Wir können schon sagen, dass in der Haltung der Regierung ein wirklich
erkennbarer Wechsel stattgefunden hat.
Was sehen
Sie als Wechsel an?
Ich möchte es folgenderweise zusammenfassen: Die Forderungen waren, die
Bedingungen für Herrn Öcalan auf Imralı so schnell wie möglich zu ändern
und so bald als möglich in eine Verhandlungsphase zu treten. Bisher, seit
nahezu eineinhalb Jahren, fand eine Phase des Dialogs statt, die mittlerweile
beendet ist und folglich zu Verhandlungen übergegangen werden müsste.
Es gab diese und einige andere Forderungen. Eine der Forderungen war die
von Herrn Öcalan zur Schaffung eines Sekretariates. Wir haben die Forderung
von Herrn Öcalan zur Schaffung eines Sekretariates der Öffentlichkeit
mitgeteilt. Wir hatten auch Forderungen nach einer Kontrollkommission,
einem dritten Beobachter oder einer Schiedsdelegation, die eingeschaltet
werden soll, weitergegeben. Zugleich haben wir die Vergrößerung der Verhandlungskommission
gefordert. Nachdem wir dieses mit Hilfe der Presse der Öffentlichkeit
mitgeteilt haben, haben Regierungsvertreter mit ihren negativen Erklärungen
hierzu signalisiert, dass der Prozess eigentlich aufgehoben sei. Folglich
erkennen wir sowohl an den Erklärungen der Regierung, als auch durch die
aktuelle Lage, dass die Regierung den Prozess aufgehoben hat und weiter
polemisiert. Wir alle tragen die Folgen dessen gemeinsam. Der Angriff
auf unser Fraktionsmitglied Ahmet Karataş ist eine Folge dessen. Die Sprache,
die Art und die Methoden, die die Regierung nutzt, sind nicht richtig.
Aus diesem Grund betrachte ich es als zweckmäßig, festzustellen, dass
der Prozess derzeit aufgehoben worden ist. Wir wissen jedoch nicht, wann
dieser wieder aufgenommen werden wird.
Von Seiten
der Regierung wurde der Prozess aufgehoben. Ist Ihre Delegation dafür
weiterzumachen?
Wir, die Verhandlungskommission der HDP, haben von Beginn an stets unterstrichen,
dass der Prozess weitergeführt werden muss und Verhandlungen eingeleitet
werden müssen. Dazu stehen wir auch heute, denn wir sehen, wie sehr dieses
Land den gesellschaftlichen Frieden braucht.
Sie kommentieren,
dass sich die Haltung der Regierung nach den Aktionen für Kobanê geändert
hat. Sind diese wirklich der Auslöser dafür?
Es geht eigentlich nicht nur um Kobanê. Leider können wir nicht davon
sprechen, dass die Regierung dem Friedensprojekt selbstredend beigetreten
ist. Denn ich möchte betonen, dass von Anfang an in dieser Hinsicht keinerlei
Entwicklungen stattgefunden haben und keinerlei konkrete, praktische Schritte
getan worden sind. An sich waren seit Beginn dieses Prozesses Kräfte am
Werk, die diesen Prozess sabotieren wollten. Auch heute sind sie am Werk.
Wir haben von Beginn an gesagt, dass die Voraussetzungen für Herrn Öcalan
auf Imralı geändert werden müssen, dass die Kommunikationswege für ihn
offen sein müssen, dass nicht nur wir als politische Kommission, sondern
zeitgleich auch andere, auf die Insel fahrenden Kommissionen, geschaffen
werden müssen und dass dringend ein dritter Beobachter oder eine Beobachterkommission
zusammengestellt werden muss. Wären von Anfang an diese Punkte umgesetzt
worden, dann ständen wir heute an einem ganz anderen Punkt. Folglich hat
die Regierung ständig auf Zeit gespielt und Zeit zu gewinnen versucht.
Seitdem der Prozess eingeleitet worden ist, hat es zwei Wahlen gegeben
und wir nähern uns der dritten. Daher denke ich nicht, dass die Regierung
diese Wahlen ebenfalls so leicht schaffen wird.
Der Regierung bleibt
nur noch ein Rettungshalm, und das ist der Lösungsprozess. Wenn sie in
diesem Punkt eine eindeutige Haltung einnehmen würde und greifbare bzw.
praktische Schritte täte, dann bin ich mir sicher, dass sich der Prozess
sehr schnell in einen Friedensprozess wandelt. Alles was die Regierung
in diesen eineinhalb Jahren geschafft hat, ist das Rahmengesetz, welches
verabschiedet worden ist. Man kann sagen, dass wir nun an diesem Punkt
angekommen sind, weil keine weiteren praktischen Schritte getan worden
sind.
Ist die Forderung
eines Sekretariats bei Gesprächen zwischen Öcalan und dem Staat bzw. zwischen
Ihnen und Staat oder Regierung auf der Tagesordnung gewesen?
Bei unseren letzten Gesprächen mit einer staatlichen Delegation wurde
der Punkt eines Sekretariats benannt. Von der staatlichen Delegation hatten
wir in dieser Hinsicht positive Signale erhalten. Aber als dann andere
Probleme in den Vordergrund rückten, wurde die zur Ausrede.
Sie führen
mit der staatlichen Delegation Gespräche und sagen, dass Sie beispielsweise
am Punkt Sekretariat „positive Signale“ erhalten haben. Was ist nun das
Problem?
Wir wissen, dass es zwischen der staatlichen Delegation und Herrn Öcalan
rege Gespräche gibt. Ich möchte betonen, dass es zwischen der Delegation
und Herrn Öcalan keinerlei Missstimmung gibt. Aber die eigentliche politische
Macht ist die Regierung. Daher nehme ich an, dass zwischen der Regierung
und dem Staat Unstimmigkeiten vorhanden sind. Von einer Roadmap haben
wir auch von der staatlichen Delegation erfahren. Bei Gesprächen mit Regierungsverantwortlichen
haben wir keinerlei Informationen bekommen oder wurden keinerlei Dinge
vorgelegt. Ich erkenne daraus, dass zwischen der staatlichen Delegation
und der Regierung in einigen Punkten Uneinigkeit besteht. Zwischen unseren
Gesprächen mit der Staatsdelegation und denen mit der Regierung liegt
eine große Kluft. Infolgedessen meine ich, dass diese Kluft nicht durch
uns oder Herrn Öcalan begründet wird, sondern eine Uneinigkeit zwischen
Staat und Regierung ist.
Denken Sie,
dass die Regierung in naher Zukunft im Punkt Sekretariat einen Schritt
tun wird?
Mit den derzeitigen Erklärungen wird uns dies nicht signalisiert. Wir
werden aber noch heute abwarten. Denn vorgestern gab es eine Kabinettssitzung.
Falls wir keinerlei Signale erhalten, dann werden wir als Kommission oder
als Partei dieses Thema erneut auf unserer Tagesordnung setzten. Eventuell
wird daraufhin die Notwendigkeit einer Presseerklärung deutlich. An sich
hätten wir schon lange erneut zur Insel fahren müssen. Bei unserer letzten
Versammlung haben wir signalisiert bekommen, dass diese Phase in einer
Woche beginnen wird. Seitdem sind 10 Tage vergangen. Jeder Tag, jede Stunde,
jede Minute die vergeht, arbeitet gegen uns. Die Angriffe verstärken sich.
Darum denken wir, dass die Regierung dies alles bedenken muss. Wir fordern
es eindringlich, doch von der Regierung gibt es kein einziges Zeichen,
dass ein Sekretariat geschaffen wird. Wir unterstreichen, dass dies Voraussetzung
für den Beginn der Verhandlungsgespräche ist.
Wie lange,
nehmen Sie an, wird Abdullah Öcalan bei diesen Voraussetzungen am Prozess
festhalten? Ist er auch schon an seiner Grenze? Was sind Ihre Beobachtungen
in dieser Hinsicht?
Ich sage klipp und klar: Wir haben am Anfang des Prozesses die Tötung
von Sakine erlebt. Als Bewegung sind wir damals sehr ins Wanken gekommen.
Wir haben am Anfang des Prozesses drei Freundinnen verloren. Es war ein
verachtenswertes Massaker. Trotz dessen ist der Prozess weitergeführt
worden. Ich denke, dass Herr Öcalan sogar den kleinsten Lichtstrahl abschätzen
kann. Ich weiß, dass er sehr entschieden ist, diesen Prozess weiterzuführen.
Aber ich möchte noch einmal dringend unterstreichen, dass die Regierung
auch eine dementsprechende Haltung einnehmen muss. Herr Öcalan ist sehr
entschieden, sehr willensstark. Nicht nur die Türkei, sondern auch der
Mittlere Osten werden neu geformt und es ist kein Weg oder keine Methode,
die Kurden und Kurdinnen innerhalb dieser Gestaltung zu verleugnen. Herr
Öcalan analysiert, indem er all dies mit Weitblick betrachtet. Ich hoffe,
dass die Regierung in dieser Hinsicht Herrn Öcalan gut versteht und seine
Aussagen gut interpretiert. Falls der Prozess einbricht, wird dies niemals
von Herrn Öcalan ausgehen.
Es gibt u.a.
auch Kommentare, dass die Regierung den Prozess beenden möchte, aber die
Verantwortung dafür nicht übernehmen möchte. Daher versuche sie die HDP
und die kurdische Bewegung zu provozieren, damit die kurdische Seite das
„Ende“ erklärt. Stimmen Sie diesen Kommentaren zu?
So sehr die Regierung auch sagt: „Wir werden den Prozess fortführen“,
zeigt sie dies in der Praxis nicht. Ich trage die Hoffnung in mir, dass
dieser Prozess nicht endet. Ich weiß, dass Herr Öcalan nicht diese Absicht
hat. Es hängt vom weiteren Weg der Regierung, ihren Methoden und praktischen
Schritten ab. Wir brauchen ein paar Tage. Diese paar Tage sind aus unserer
Sicht sehr wichtig. Wir verfolgen die Entwicklungen. Sobald wir Signale
zum Gespräch, Signale zur Wiederaufnahme des Prozesses erhalten, werden
wir die Gespräche mit der Regierung wieder aufnehmen und auch einen Besuch
bei Herrn Öcalan beantragen.
Sie schlagen
die Schaffung einer Beobachterkommission vor. Gibt es Schritte in diese
Richtung?
Wir haben die Schaffung einer Beobachterkommission schon zu Beginn der
Gespräche gefordert. Von dieser Forderung ausgehend ist später die ‚Gruppe
der Weisen‘ zusammengestellt worden. Unserer Meinung nach muss es eine
Beobachterkommission und nicht die ‚Gruppe der Weisen‘ sein. Denn die
Kommission muss tiefer in der Bevölkerung vertreten sein, sie muss den
Friedensprozess leiten können und von der Gesellschaft akzeptiert werden.
Es müssen Menschen darin vertreten sein, die den Frieden verinnerlicht
haben. Es müssen nicht sehr viele sein, eine gemischte Gruppe mit 15 oder
16 Personen. Wir sind uns sicher, dass eine Beobachterkommission mit Intellektuellen,
SchriftstellerInnen, KünstlerInnen, Menschen aus zivilen Organisationen
die Vertretung der Bevölkerung sicherstellt und in diesem Prozess einen
sehr großen Anteil beitragen kann. Daher haben wir von unserer Seite aus
Vorbereitungen getroffen. Wir sind uns über Personen einig geworden. Die
Namensliste haben wir sowohl Herrn Öcalan als auch Kandil vorgelegt. Auch
der staatlichen Delegation haben wir ihre Namen mitgeteilt. Wir haben
jedoch über die Entwicklung noch keinerlei Hinweise erhalten. Wir weisen
die staatlichen Verantwortlichen und die Regierungsverantwortlichen darauf
hin, dass so schnell wie möglich die von uns übergebene Namensliste zusammengesetzt
werden und die Beobachterkommission so schnell wie möglich geschaffen
werden muss. Es müssen Menschen sein, die den Frieden verinnerlicht haben.
Es muss eine Delegation sein, die auch in chaotischen Situationen die
Worte finden kann, die bei Bedarf sowohl an die Regierung als auch an
die Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans KCK appellieren kann. Denn
die folgende Phase ist weit offener für Provokation als bisher.
ANF, 05.11.2014, ISKU
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