Die
Êzîd*innen auf dem Berg Şengal warten dringend auf Hilfe
DILŞER ERNESTO / BAHOZ AMED
– ŞENGAL-GEBİRGE
Eine schlimme, humane Tragödie
spielt sich gerade für über zehntausend Êzîd*innen ab, die sich vollkommen
abgeschnitten von der Außenwelt auf dem Berg Şengal (Sindschar) befinden.
Die Bevölkerung von Şengal, auf die ein Winter in löchrigen Zelten wartet,
appelliert an die internationale Gemeinschaft, dringend etwas zu unternehmen.
Die Schergen des Islamischen Staates (IS), die am 10. Juni kampflos Mossul
eingenommen haben, haben sich gegen andere Völker, Religionen und Konfessionen
gewendet. Im Zuge dieser Angriffswelle waren, als die Banden sich am 3.
August dem Berg Şengal zugewendet haben, über 200 000 Menschen der Gefahr
eines Massakers ausgesetzt.
Zeitgleich mit dem Einmarsch
der IS-Banden in Şengal haben die in dieser Region für Sicherheit verantwortlichen
Peschmergas der Autonomen Region Kurdistans die Bevölkerung dem Massaker
überlassen. Über 200 000 Menschen sind vor dem Massaker geflüchtet und
auf dem Berg Şengal angekommen. Bei denjenigen, die nicht fliehen konnten,
haben die Schergen mit den „schwarzen Fahnen“ im Namen des „Dschihad“
mit dem Morden begonnen.
Die IS-Schergen haben im Dorf
Koco als erstes mit dem Massaker begonnen, sie haben die männlichen Dorfbewohner
an einem Ort gesammelt und ermordet. Die jungen Mädchen und Frauen des
Dorfes wurden als Geiseln genommen. Im weiteren Verlauf der Massaker in
ganz Şengal sind tausende Êzîd*innen ermordet und tausende junger Mädchen
als Geisel genommen worden.
Diejenigen, die vor dem IS
fliehen konnten, gingen in Richtung des Berges Şengal. Manche sind auf
dem Weg dahin verdurstet. Die Übrigen hatten nach ihrer Ankunft auf dem
Berg Şengal Probleme mit der Verpflegung oder es bestand die Gefahr von
weiteren Angriffen durch die Schergen.
Gegen dieses Massaker gab die
Kommandantur des Hauptquartiers der Volksverteidigungseinheiten am 4.
August in der Presse die folgende Erklärung ab: „Unsere Guerillakräfte
werden das êzîdische Volk schützen“, und schickte eine Gruppe von Guerillas
in das Şengal-Gebirge.
Um die auf dem Berg Şengal
festsitzende Bevölkerung zu retten und in sichere Gebiete bringen zu können,
haben sie zügig zwischen Rabia und Cezaa einen Korridor freigekämpft.
Guerillas der Verteidigungskräfte HPG und YJA-Star, die durch den geöffneten
Korridor den Berg Şengal erreicht haben, sagten, dass sie auf eine menschliche
Tragödie gestoßen sind.
Die Guerillakräfte, die so
bald wie möglich Zehntausende an einen sicheren Ort schaffen wollten,
erklärten: „Als wir den Berg Şengal erreicht haben, standen wir einer
menschlichen Tragödie gegenüber. Sehr viele Menschen waren am verhungern
und verdursten. Wir haben ihnen Wasser und Proviant gebracht und anderseits
einen Teil durch den geöffneten Korridor herauszubringen versucht. Einen
großen Teil der Menschen haben wir sicher aus dem Şengal-Gebiet bringen
können. Aber mehr als zehntausend Menschen weigerte sich, ihren eigenen
Boden zu verlassen und blieben in verschiedenen Regionen auf dem Şengal-Gebirge.“
Zudem haben die Bewohner Şengals
zu ihrer Verteidigung auf dem Berg die YBS (Şengaler Verteidigungseinheiten)
aufgebaut. Die Kräfte der YBS haben mit den Guerillas der HPG und der
YJA-Star gemeinsam die auf dem Şengal festsitzenden Menschen gegen die
Schergen verteidigt. Seit der Gründung sind tausende êzîdischer Jugendlicher
den YBS beigetreten.
„SIE HABEN UNS AUFGETRAGEN
DIE HÄUSER NICHT ZU VERLASSEN UND SIND GEFLÜCHTET“
Xinni Alyaz, eine êzîdische Frau, die auf dem Şengal ums Überleben kämpft,
erinnert sich an die Zeit nach dem 3. August: „Als die Schergen Şengal
besetzt haben, sagten uns die Peschmergas, wir sollten unsere Häuser nicht
verlassen. Und wir sind in unseren Häusern geblieben. Aber dann haben
wir gesehen, dass sie begannen Richtung Gebirge zu fliehen. Als wir die
fliehenden Peschmergas gesehen haben, sind auch wir in diese Richtung
geflüchtet. Es gab welche, die nicht fliehen konnten. Junge êzîdische
Mädchen fielen in die Hände der Banden. Diese Banden des IS haben viele
Männer ermordet. Hunderte Menschen, die auf den Berg fliehen wollten,
sind unterwegs verdurstet. Die Wege waren voll mit toten Menschen. Als
wir auf dem Berg angekommen waren, hatten wir fünf Tage lang kein Essen
und Trinken. Anschließend haben die Volksverteidigungseinheiten YPG einen
Korridor geöffnet und die Guerilla sind auf den Berg gekommen und haben
uns geholfen.“
DIE ENTFÜHRTEN MÄDCHEN ERLEBTEN
UNMESCHLICHES
Tausende êzîdischer Frauen und Mädchen sind von den IS-Schergen festgehalten
und an andere Orte gebracht worden. Sehr viele junge Mädchen sind dort
auf Sklavenmärkten verkauft worden, sehr viele wurden vergewaltigt, viele
auch hingerichtet. Und einige haben sich selbst getötet, um nicht in die
Fänge des IS zu geraten oder haben Selbstmord begangen, um nicht auf dem
Sklavenmarkt verkauft zu werden.
Fünf êzîdische Kinder zwischen 11 und 16 Jahren, die von den Schergen
zum Sklavenmarkt gebracht wurden, konnten ihnen am 12. Oktober beim Dorf
Rambosi in Şengal entkommen und schafften es zu den Guerillakräften der
HPG und YJA-Star.
Nach den Berichten der Kinder
wurden sie monatelang unter unmenschlichen Bedingungen festgehalten, waren
Zeuge schlimmer Gräueltaten, erlebten Gewalt durch die Schergen und sahen
junge Mädchen, die diese Dinge nicht mehr aushielten und Selbstmord begangen
haben. Eins der Mädchen, das fliehen konnte, berichtete ihre Erlebnisse
folgendermaßen: „Zwei Mal versuchten sie meine Nichte von mir zu trennen
und zu verkaufen. Als ich mich dem widersetzte, wurde ich durch ihre Schläge
mit einem Holzscheit am Kopf schwer verletzt. Dann warfen sie mich eine
Treppe hinunter.“
Nach Informationen von den
Êzîd*innen sind über Zehntausende von ihnen in den Händen der IS-Schergen
und über fünftausend Êzîd*innen von diesen Milizen ermordet worden. Auch
als sie den Berg Şengal erreicht hatten, war noch immer die Gefahr eines
Massakers gegeben.
„SIE WOLLTEN IHR MASSAKER VOLLENDEN“
Die Gefahr eines Massakers wurde am 28. September, als die IS-Banden das
Dorf Digure angriffen, noch einmal deutlich. Vier Tage lang gab es dort
schwere Gefechte, und mit der Besetzung dieses Dorfes durch den IS war
der Hilfskorridor geschlossen. Es schien unmöglich, einen Hilfskorridor,
den zehntausende Menschen sicher durchschritten hatten, bei der steigenden
Gewalt noch lange offenzuhalten. Aber der Korridor hatte mit dem Durchgang
zehntausender Menschen seine Rolle, Zivilist*innen zu retten, erfüllt.
In der letzten Zeit haben die Angriffe der IS-Schergen auf den Şengal-Berg,
der unter Kontrolle der HPG, YJA-Star und YBS-Guerillas steht, zugenommen.
Munzur Dersim, Vorstandsmitglied von TEVDA erklärt die Angriffe als „Versuch,
ein nicht beendetes Massaker zu vollenden“ und sagt: „Die Angriffe der
IS-Schergen auf die Dörfer Solak, Merka, Bare, Silo, Skeniye und Serfeddin
haben im letzten Monat zugenommen. Ihr Ziel ist die Vollendung des am
3. August begonnenen Massakers. Darum haben sie den Şengal-Berg angegriffen.
Aber die Guerillakräfte der HPG, YJA-Star und der YBS haben einen starken
Widerstand geleistet, den Berg verteidigt und von den Schergen befreit.“
„DIE SCHWEREN WINTERLICHEN
BEDINGUNGEN SIND TÖDLICH“
Dersim betont, dass die Êzîd*innen mit der Gefahr eines Massakers leben
und zeitgleich den Überlebenskampf gegen die winterlichen Bedingungen
führen müssen, wozu sie Verpflegung und Winterkleidung benötigen.
Er erklärt: „Solange der Korridor
offen war, erhielten die Êzîd*innen im Şengal-Gebirge Hilfe von Rojava
und den anderen Teilen Kurdistans. Aber mit der Schließung des Hilfskorridors
erhalten die Menschen keinerlei Unterstützung mehr. Dazu kommt jetzt,
dass sie gegen die winterlichen Bedingungen einen Überlebenskampf führen
müssen. Wenn keine dringend benötigte Hilfe ankommt, werden die Menschen
dort verhungern und erfrieren. Darum appellieren wir an alle internationalen
Gesellschaften zu helfen.“
„DIE KINDER SEHEN DEM TOD INS
AUGE“
Im Oktober sind zwei Kinder wegen der Kälte und der fehlenden Nahrungsmittel
gestorben. Das Vorstandsmitglied der TEVDA, Sait Hasan Sait sagt, dass
sich der Winter vor allem auf die Kinder negativ auswirkt und sie regionale
und internationale Kräfte schon mehrfach um Hilfe gebeten haben. „Die
mehr als 1400 Familien auf dem Şengal-Berg versuchen trotz harter Winterbedingungen
und mangelnder Lebensmittel den Kampf ums Überleben zu führen. Wir haben
schon mehrfach zu humaner Hilfe aufgerufen. Neben der regionalen und zentralen
Verwaltung haben wir auch an das Gewissen der internationalen Gemeinschaft
appelliert. Wir haben die regionale und zentrale Verwaltung zur Unterstützung
aufgerufen. Es ist ihre vorrangige Pflicht, ihren Staatsbürgern Hilfe
zukommen zu lassen. Darum rufe ich diese auf, zu helfen. Die Menschen
hier brauchen neben Zelten auch Proviant und Winterkleidung. Dieser Bedarf
muss so schnell wie möglich gedeckt werden. Sonst werden die Menschen
und insbesondere die Kinder auf dem Berg ihr Leben verlieren“, so Sait.
„WIR BRAUCHEN VERPFLEGUNG UND
KLEIDUNG“
Sevi Kasim, eine Êzîdin, betont, dass sie keine Lebensmittel und Winterkleidung
haben und ihre Kinder zu sterben drohen. „Wir kämpfen nicht nur gegen
das Massaker der IS-Banden, sondern führen daneben noch den Überlebenskampf.
Der Beginn der winterlichen Bedingungen und die fehlenden Lebensmittel
wirken sich sehr negativ auf uns aus. Als der Korridor offen war, deckte
die PKK unseren Bedarf. Der Korridor ist nun geschlossen, aber wir brauchen
Lebensmittel und Winterkleidung. Wenn es so weiter geht, dann werden unsere
Kinder ihre Leben verlieren“, so Kasim.
„WENN DER BEDARF NICHT GEDECKT
WIRD, KÖNNTEN KINDER STERBEN“
Leyli Xelef, die bei dem heftigen winterlichen Klima im Zomani-Lager lebt,
weist darauf hin, dass viele Babys Milchnahrung und Milch brauchen: „Mein
Baby Dilinaz und hunderte anderer Babys brauchen Milchpulver und Milch.
Außerdem brauchen wir Diesel. Ohne Diesel können wir aus dem Brunnen kein
Wasser pumpen. Dann haben wir ein Wasserproblem. Wir erleben dann noch
einmal die Zeit des Massakers. Darum muss unser Bedarf zum Überleben so
schnell wie möglich gedeckt werden. Ansonsten werden die Menschen und
vor allem die Babys und Kinder hier sterben.“
„MIT EINEM VOLK SOLL AUCH EINE
KULTUR VERNICHTET WERDEN“
Das Volk, dass nach dem Massaker Şengal nicht verlassen hat und auf dem
Berg Şengal lebt, leidet an Hunger. In diesem Gebiet ist nur Hilfe aus
der Luft möglich. Neben dem êzîdischen Volk, das vor der Gefahr des Hungertodes
und eines psychischen Massakers steht, steht auch eine tausendjährige
Geschichte und die Wurzeln der Zivilisation vor der Vernichtung. Die IS-Banden
bombardieren die heiligen Orte und Stätten der Êzîd*innen und wollen alles,
was zu dieser Kultur und Geschichte gehört, vernichten. Die von der Außenwelt
abgeschnittenen Bewohner Şengals warten dringend auf internationale Hilfe,
damit dieses Volk und diese Kultur nicht verloren gehen. Sie fordern die
Öffnung eines Korridors am Boden oder in der Luft, um ihren dringenden
Bedarf zum Überleben zu decken.
ANF, 11.11.2014, ISKU
|