“Das Massaker von Roboskî war nicht nur gegen die Familien gerichtet, sondern gegen die Menschlichkeit“ Ferhat Encü über das Massaker von Roboskî im Interview mit Yeni Özgür Politika, 27.12.2014 Am 28.12.2011 wurden im Grenzgebiet von Nordkurdistan nach Südkurdistan (Türkei/Irak) beim Dorf Roboskî in der Provinz Şirnex (Şırnak) 34 kurdische Zivilisten im Alter von 12 bis 25 Jahren bei einem Angriff der türkischen Luftwaffe getötet. Die Arbeiten von Ferhat Encü, der bei dem Massaker 27 Familienangehörige verlor, zur Aufarbeitung des Roboskî-Massakers und zur Verurteilung der Verantwortlichen dauern seit drei Jahren an. Aufgrund einer Veranstaltungsreihe zum dritten Jahrestag des Massakers befindet sich Encü in Europa. Die kurdische Tageszeitung Yeni Özgür Politika hat mit ihm über die rechtliche Situation und die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit hinsichtlich des Roboskî-Massakers gesprochen. Es sind nun drei Jahre seit dem Massaker vergangenen. Wie hat der rechtliche Prozess begonnen, wo befindet er sich im Moment? Der rechtliche Prozess hat eine Woche nach dem Massaker mit einem Antrag bei der Staatsanwaltschaft von Uludere begonnen. Äußerungen der Staatsanwaltschaft wie “Warum legt ihr auf die Särge die Fahnen von Terroristen?” zeigten den Blickwinkel des Staates gegenüber dem Massaker. An diesem Tag war im Grunde klar, wohin die Akte hingehen würde. Später hat sich der Sonderstaatsanwalt aus Diyarbakir eingeschaltet und die Akte geheim gehalten. Es wurde verhindert, dass unsere Anwälte die Akte einsehen, um zu überprüfen, auf welcher Ebene sich der Prozess befindet. Neun bis zehn Tage nach dem Massaker konnten wir uns zusammen mit unseren Anwälten mit dem Vertreter der Staatsanwaltschaft treffen. Wir haben gefordert, dass die Geheimhaltung der Akte aufgehoben wird und die Verantwortlichen in kürzester Zeit vor Gericht gebracht und verurteilt werden. Ich habe auch meine persönliche Meinung zu dem Massaker erklärt, nämlich dass das Massaker geplant worden ist. In dieser Zeit gab es auch Äußerungen, dass die Akte der Staatsanwaltschaft des Militärs übergeben werden sollte. Dazu haben wir auch erklärt, dass dies dem Gewissen der Gesellschaft einen tiefen Schmerz beifügen würde und das Militär als Ausführer dieses Massakers nicht über sich selbst entscheiden dürfe. Der Vertreter der Staatsanwaltschaft dementierte ein solches Vorhaben zur Übergabe der Akte. Doch eineinhalb Jahre nach dem Massaker hat der Sonderstaatsanwalt aus Diyarbakir das von uns befürchtete getan: Mit der Begründung von Unzuständigkeit hat er die Akte der Generalstaatsanwaltschaft ausgehändigt. Die Staatsanwaltschaft erklärte später eine Einstellungsverfügung und die Akte wurde abgeschlossen. Auch der Einspruch unserer Anwälte wurde abgelehnt. Später haben wir mit unserem Recht auf individuelle Anträge zusammen mit 1200 Anwälten die Akte bis vor das Verfassungsgericht gebracht. Seit sechs Monaten warten wir auf die Entscheidung des Verfassungsgerichts. Haben Sie auch über Anträge bei internationalen Gerichten nachgedacht? Wenn das Verfassungsgericht nicht in Richtung einer Rechtsverletzung entscheidet, werden wir die Akte bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte tragen. Wir hätten es eigentlich schon jetzt machen können; doch wir wollen dass diese Akte innerhalb der Türkei gesehen wird, dass jeder den Umgang dieses Staates mit dem Massaker sieht. Wir wollen keine Entschädigung. Wir haben nur die Forderung, dass die Verantwortlichen für dieses Massaker vor das Gericht kommen. Wir werden mit allen Kräften hierauf hinarbeiten. Diese Anstrengungen können die Familienangehörigen aber nicht alleine leisten. Dieses Massaker ist nicht nur gegen die Familien von Roboskî gerichtet gewesen, sondern gegen die Menschlichkeit. Deshalb muss jeder das in seiner Verantwortung stehende tun. Die Verurteilung und Bestrafung in der Türkei kann zum Beispiel für den weiteren Umgang mit allen anderen begangenen Massakern in der Vergangenheit werden. Eine Aufdeckung von Roboskî wird den Weg zur Aufarbeitung der anderen Massaker gegenüber den Gesellschaften ebnen. Haben sich die Familien von Roboskî in diesem Punkt geeinigt? Wie Sie wissen hat die Regierung – sofort nach dem Massaker und ohne jegliche gerichtliches Urteil – die Entscheidung getroffen, Geld an die Familien zu verteilen. Wir haben damals alle gemeinsam erklärt, dass wir – sollten wir diese Gelder annehmen – verantwortlich für zukünftige Massaker an anderen Orten sein würden; denn mit diesen Geldern sollte das Massaker unter den Teppich gekehrt werden. So haben wir das Geld der Regierung abgelehnt. Alle Familien wollen allem voran die Aufarbeitung des Massakers und die Verurteilung der Verantwortlichen. Wir sind uns an diesem Punkt alle einig. Die Familien von Roboskî führen jede Woche Aktionen aus, in denen sie Gerechtigkeit fordern. Wie ist die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit gegenüber diesen Aktionen? Nach dem Massaker ist keine Tür übrig geblieben, an der wir nicht geklopft haben. Um eine Kontinuität zu erlangen, haben wir uns die Samstagsmütter zum Vorbild genommen. Wir haben begonnen, jede Woche verschiedene Aktionen zu verwirklichen. Jeden Donnerstag gehen wir auf die Straße und zeigen, dass wir unsere getöteten Verwandten nicht vergessen und die Öffentlichkeit fortwährend aufklären werden. Doch unsere Proteste und Rufe erreichen nicht genug Menschen. Damit wir wahrgenommen werden, müssen immer NGO’s oder Politiker an unserer Seite stehen. Selbst unsere eigene Presse hat hierbei erhebliche Mängel. Das macht uns traurig. Wir erwarten von der kurdischen Presse und kurdischen Politikerinnen und Politiker mehr Interesse für unser gemeinsames Anliegen. Wer hat bisher etwas zur Aufdeckung der Verantwortlichen des Massakers beigetragen? Viele zivilgesellschaftliche Gruppen standen den Familien von Roboskî bei und haben zu dem Fall recherchiert. Vor allem der Menschenrechtsverein (IHD), Mazlum-Der und die Gewerkschaft KESK haben viel Mühe aufgebracht, um das Massaker von Roboskî auf der Tagesordnung zu halten. Bei den politischen Parteien haben die BDP und später die HDP viel Mühe aufgebracht. Zuweilen hat sich auch die CHP beteiligt, doch war ihr Einsatz unzureichend. Wie ist das Interesse der Öffentlichkeit und Institutionen aus Europa? Von Zeit zu Zeit haben in Europa lebende Kurdischstämmige, als auch europäische NGO’s und Politiker Schritte unternommen, unsere Forderungen an die Öffentlichkeit zu tragen. In einem Input-Vortrag im europäischen Parlament haben wir unseren Forderungen Ausdruck verliehen. Doch im Allgemeinen ist zu sagen, dass in Europa kein großes Interesse besteht. (…) Es sind drei Jahre seit dem Massaker vergangenen, doch scheint die Wunde nicht verheilt. Was fühlen sie? Kein Bild dieses Massakers wird je vergessen. Das Tragen der Leichen auf Maultieren, das Sammeln der Leichenstücke der Kinder von den Familien… hier wurden sowohl Anstand als auch Gewissen erschüttert. Und während unser Schmerz noch frisch ist, haben die ausgelassenen Silvester-Feiern einen tiefen Schmerz und eine tiefe Wut in uns entfacht. Die Familien stehen immer noch unter Einfluss des Massakers. Das Leben im Dorf hat sich in schwarz-weiß verwandelt. Vor dem Massaker wurden die Hochzeiten und Feiern im Dorf mit vielen Farben gefeiert. Doch ich kann sagen, dass es seit dem Massaker keine Hochzeit oder irgendeine Feierlichkeit gab. Da es keinerlei pädagogische und psychologische Hilfe gab, leiden viele Angehörige von Getöteten unter Alpträumen. Von außen betrachtet scheint das Interesse an Roboskî groß zu sein, doch ist nach Ihren Erzählungen eher das Gegenteil der Fall; verstehe ich das richtig? Von Zeit zu Zeit kommen Delegationen, es gibt Begegnungen. Es gibt Menschen die Filme und Dokumentationen drehen. Doch wir denken, dass dies ungenügend ist. Es gibt ein Interesse, jedoch ein unzureichendes. Es führt uns schlicht nicht zu einem Ergebnis. Jetzt gibt es die Arbeiten einer unabhängigen Plattform, die ein Museum in Roboskî aufbauen. Es wird nicht nur ein erzählendes Museum, sondern ein lebendiges Museum sein. Doch die Kampagne hierfür erzeugt nicht viel Interesse, wir hatten mehr Aufmerksamkeit und Feingefühl erwartet. Man hätte das notwenige Geld für das Projekt auch mit einigen NGO’s sammeln können. Die Kampagne läuft unter dem Slogan „Ein Ziegelstein von dir“. Wenn es genug Interesse gibt und wir Erfolg haben, wird es das erste Museum in Kurdistan sein, welches nicht abhängig vom Kulturministerium ist. Wir überlegen, neben den Namen der Getöteten auch die Namen der zuständigen militärischen und zivilen Staatsbeamten zur Zeit des Massakers aufzulisten. Sie sind nach Europa gekommen und haben an verschiedenen Veranstaltungen teilgenommen um die Stimmen der Familien von Roboskî hierher zu tragen. Was kann man für Roboskî tun? Unsere Hauptforderung ist es, das Massaker auf internationale Ebene zu tragen. Wir wollen das Arbeiten in diese Richtung gefordert werden. Damit solche Massaker nie wieder geschehen, muss es auf der Tagesordnung aller Bereiche sein. |
ISKU | Informationsstelle Kurdistan |