Willkommen beim Kurdistan Informationszentrum Köln
  
  
HINTERGRUND
  
  
 
         Das türkische politische Leben, der Kemalismus und die Kurden 

        Im folgenden veröffentlichen wir einen Beitrag des in der Türkei inhaftierten Soziologen Dr. Ismail Besikci. in dem er sich mit der Rolle und Funktion der Ideologie des Kemalismus auseinandersetzt. Der Kemalismus steht seit einiger Zeit als Konstitutivum der türkischen Staatsstruktur wieder im öffentlichen Interesse. Im folgenden geben wir eine gekürzte Fassung 

        Der Kemalismus bestraft die Gedanken, welche ihn kritisieren. Die, 
        die ihn loben, werden belohnt.
        Es ist eine offene Wahrheit, daß in der Welt alle undemokratischen, 
        totalitären politischen Systeme die Gedanken, durch welche sie kritisiert 
        werden, mit Verboten belegt haben. Diese Verbote haben als der 
        dominante Faktor das politische System in der Türkei vor und nach 1946, 
        d.h. im Einparteiensystem und in der sogenannten pluralistischen 
        Demokratie, bestimmt. Das Verbot der freien Kritik ist das wichtigste 
        Merkmal, welches das kemalistische Denken und seine Anordnungen 
        kennzeichnet; es ist das wichtigste Erbe des Kemalismus. Der Kemalismus 
        ist in der Türkei die offizielle Ideologie. Staaten, die eine offizielle 
        Ideologie besitzen, sind undemokratische Staaten. Demokratische 
        Gesellschaften sollten nicht im Besitz einer offiziellen Ideologieinstitution 
        sein. Die Anwesenheit oder Abwesenheit freier Kritik und deren 
        Wirksamkeit ist kein einfacher und gängiger Vorgang. Demokratie und 
        Wissenschaft basieren auf freier Kritik und ihrer Produktivität. Offizielle 
        staatliche Ideologien sind nicht irgendwelche Ideologien, sondern 
        Ideologien, die mit Androhungen von Sanktionen seitens des Staates 
        aufrechterhalten und so bei der Bevölkerung durchgesetzt werden. In der 
        Türkei ist die freie Kritik verboten, und dieses Verbot hat eine wichtige 
        Funktion. Die Verbote der Gedankenfreiheit haben eine politische 
        Zielsetzung. So ist es beispielsweise verboten, Kritik an Theorie und 
        Praxis des Kemalismus bezüglich Kurdistans und staatlicher Maßnahmen 
        gegen die Kurden zu üben. KritikerInnen werden zum Ziel staatlicher 
        Verfolgung und mit sehr schweren Strafen belegt.
        Dies stellt zugleich das größte Problem für das Verständnis von wichtigen 
        gesellschaftlichen Phasen und ein Hindernis der Geschichtsschreibung 
        dar. Die Wissenschaft kann sich nicht entwickeln, wenn freie Kritik 
        keinen Raum hat.
        Heute stellt die Institution der offiziellen Ideologie in der Türkei das 
        größte Hindernis der Gedankenfreiheit, der Wissenschaft und der 
        demokratischen Entwicklung dar. Entscheidend ist letztendlich nicht, ob 
        die herrschende Ideologie einen religiösen oder laizistischen Charakter 
        hat. Es gibt keinen bedeutenden Unterschied zwischen einer religiösen 
        oder nichtreligiösen Ideologie, wenn sie Meinungen als "terroristisch" 
        diffamiert. Im Mittelalter war die christliche Religion, repräsentiert durch 
        die Kirche, in Europa die bestimmende Ideologie. Heute ist die Religion 
        in Staaten wie dem Iran, Pakistan, Afghanistan, Saudi-Arabien, Sudan, 
        Libyen allerhöchste Autorität. In diesen Staaten gelten die Verbote der 
        Gedankenfreiheit und werden allgegenwärtig angewandt. In einigen 
        Staaten, wie zum Beispiel Irak, Syrien, Marokko und Algerien, scheint die 
        offizielle Ideologie einen größeren laizistischen Anspruch zu haben. Aber 
        auch in diesen Staaten gibt es keine Toleranz in bezug auf andere 
        Meinungen. Ohne jeden Zweifel ist die Türkei nicht so wie diese Staaten. 
        Allerdings ist die Verbotspraxis in der Türkei bezüglich der kurdischen 
        Frage schlimmer als in allen vorher genannten Ländern. Im Mittelalter, 
        zur Zeit der Inquisition, wurden Menschen aufgrund ihrer Gedanken, die 
        im Widerspruch zu den Dogmen der Kirche standen, verbrannt. 
        Heutzutage werden in der Türkei Menschen durch extralegale 
        Hinrichtungen vernichtet. Wenn wir den Zeitraum von 1991-95 
        betrachten, so können wir an den Beispielen der damals veröffentlichten 
        Zeitungen "Özgür Gündem", "Özgür Ülke" und "Yeni Politika" Parallelen 
        entdecken: Autoren, Redakteure, führende Verantwortliche, die bei diesen 
        Zeitungen gearbeitet haben, wurden entführt und umgebracht. 
        Zeitungsverteiler wurden in ihren Autos mitsamt ihren Zeitungen 
        verbrannt. Die Universitäten in der Türkei haben jederzeit im Namen der 
        Wissenschaft die offizielle Ideologie vermittelt. In den türkischen 
        Universitäten wurde ständig die Propaganda der offiziellen Ideologie 
        verbreitet, und es wurden die Personen ausgegrenzt, die den Offiziellen 
        durch ihre Kritik mißliebig geworden waren. Aus diesem Grunde kann 
        nicht gesagt werden, daß die türkischen Universitäten ein Ort der 
        Wissenschaft seien. Die Verbote der Gedankenfreiheit haben eine sehr 
        wichtige politische Funktion. Es muß analysiert werden, welche Gedanken 
        die Staaten verboten haben, welche Ansichten dort zu welchem Zeitpunkt 
        geäußert wurden. Noch bis vor fünfzehn Jahren war jeder Gedanke mit 
        Bezug auf Kurden und Kurdistan verboten. Gegenwärtig jedoch wird die 
        faktische Existenz der Kurden nicht geleugnet. Zurückzuführen ist dies 
        auf den konkreten Guerillakampf. Mittlerweile sind Ansichten wie: "die 
        Kurden sind ein primitives Volk", "sie können sich nicht selbst leiten", 
        "sie bekriegen sich ständig gegenseitig", "ein unabhängiges Kurdistan ist 
        ein Traum" sowie "Unabhängigkeit, Autonomie oder Föderation sind 
        nicht zum Vorteil der Kurden" sehr wohl erlaubt. Diese Äußerungen sind 
        nicht verboten. Doch haben Aussagen wie: "auch die Kurden müssen im 
        Besitz des Selbstbestimmungsrechts sein", "jegliche Lösungsformen des 
        Kurdistanproblems, einschließlich eines freien Kurdistans, sollten 
        diskutiert werden" strafrechtliche Konsequenzen.
        Gedanken, die den Kemalismus kritisieren, werden auf der Grundlage von 
        Paragraphen und Gesetzen verfolgt. Neben dem Gesetz zur Bekämpfung 
        des Terrorismus gibt es ein weiteres Gesetz Nr. 5816 ("Gesetz zum 
        Schutze Atatürks und seiner Werke"). Wenn beispielsweise jemand die 
        Beziehungen der Kemalisten zu Großbritannien und Frankreich zwischen 
        1919 und 1925 untersucht, wird gesagt dies sei eine Verachtung Mustafa 
        Kemal Atatürks und man wird nach diesem Gesetz angeklagt. Ein weiteres 
        Beispiel: Wer um 1930 an der gängigen "Türkischen Geschichtstheorie" 
        und "Sonnen-Sprach-Theorie"(1) Kritik übte, wurde zu unglaublich 
        schweren Strafen verurteilt. Aber in diesen Jahren wurden die 
        Universitätsangehörigen, Pressevertreter, Schriftsteller usw., die einen 
        Beitrag zur Entstehung und Verbreitung dieser Gedanken leisteten, von 
        Atatürk und den Vertretern des Staates materiell und ideell belohnt.
        Der Kemalismus und die Kurden
        Die kemalistische Ideologie verleugnet die nationale und gesellschaftliche 
        Existenz der Kurden und Kurdistans sowie die kurdische Identität. Diese 
        Ideologie hat die Assimilation als bedeutendste staatliche Politik 
        hervorgebracht. Über das historische Unrecht, welches den Kurden 
        zugefügt wurde, kann in verkürzter Form folgendes gesagt werden: 
        Kurdistan und die Kurden wurden in dem ersten Viertel des 20. 
        Jahrhunderts getrennt, zerstückelt und aufgeteilt.
        Die ethnischen und gesellschaftlichen Bedingungen in dieser Zeit haben 
        diese Entwicklung erleichtert. Dies ist ein Thema, das die Schwächen der 
        kurdischen Gesellschaft betrifft. Und diese Schwachpunkte müssen auch 
        mit wissenschaftlichen Methoden beleuchtet werden. Obwohl sich die 
        Kemalisten gemeinsam mit den imperialistischen Staaten an der Spaltung , 
        Zerstückelung und Aufteilung Kurdistans und der kurdischen Nation 
        beteiligt haben, sahen sie sich selbst als Anführer eines "Nationalen 
        Freiheitskampfes", als Führer "unterdrückter Völker". Sie sagen: "Den 
        ersten nationalen Befreiungskampf gegen Imperialismus und 
        Kolonialismus in der Welt haben wir realisiert. Für die nationale 
        Befreiung der unterdrückten Völker wurden wir zur Leitfigur". Genau an 
        diesem Punkt haben die Verbote der kritischen Gedanken die Aufgabe, 
        das Bloßlegen dieser zwiesichtigen Politik des Kemalismus zu verhindern 
        und die Propaganda "Wir sind den unterdrückten Völkern zum Vorbild 
        geworden" abzusichern.
        Der Kemalismus beinhaltet rassistisches Denken, und seine Umsetzung ist 
        ebenfalls rassistisch. Indem er die national-gesellschaftliche Realität der 
        Kurden verleugnet, die Assimilationsmaßnahmen als grundlegende 
        systematische Staatspolitik auffaßt, setzt er einen in der Welt 
        unvergleichlichen Rassismus in die Tat um. Tag für Tag wird den 
        kurdischen Kindern in der Schule zwangsweise der Eid "Ich bin Türke, 
        aufrichtig und fleißig. Mein Leben soll der türkischen Existenz gewidmet 
        sein" verlesen.
        In Kurdistan stehen auf den Bergen, auf den Hügeln, an den 
        Eingangstoren der Städte, an den Regierungsgebäuden, an den Schulen 
        Parolen wie: "Wie stolz, wer sagt, ich bin Türke", "Türke sei ruhmreich, 
        arbeite und vertraue" und "Der Türke ist der größte, es gibt keinen 
        größeren als den Türken". In den Verwaltungsämtern wird die kurdische 
        Sprache, die kurdische Musik, die kurdische Literatur verboten. In den 
        Schulen werden den kurdischen Kindern die "türkischen Vorbilder" als 
        die eigenen Vorfahren verkauft. Dieser Rassismus ist grausamer als das 
        Apartheitssystem in Südafrika, bevor 1994 Nelson Mandela 
        Staatspräsident wurde. Der Rassisten tönen: "Ihr seid gezwungen mit uns 
        zu leben, aber ihr müßt so sein wie wir. Ihr dürft leben, aber eure Identität 
        müßt ihr vergessen. Eure Werte müßt ihr vergessen. Ihr habt keine andere 
        Chance." Dieser Rassismus ist weit reaktionärer als jener, demzufolge es 
        heißt: "Ihr gleicht uns nicht, deshalb lebt ihr im Getto."
        Die Kurden, Kurdistan gibt es faktisch, aber sie existieren politisch nicht. 
        Und dies verursacht im Nahen Osten, in den internationalen Beziehungen 
        sehr tiefe politische Spannungen und gesellschaftliche Unruhen. Einer der 
        wichtigsten Antriebskräfte des kurdischen Befreiungskampfes, der von der 
        PKK geführt wird und nicht gestoppt werden kann, ist dieser 
        Widerspruch.
        Die Kurden zahlen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts einen hohen Preis 
        für Freiheit und Unabhängigkeit. Innerhalb dieser Phase wurden vielleicht 
        mehr als eine Million Menschen im Nahen Osten geopfert. Trotzdem 
        besitzen die Kurden und Kurdistan nicht einmal einen politischen Status. 
        Kann dies nur mit den Schwächen der Kurden erklärt werden?
        Gibt es zum Beispiel nur bei den Kurden die Stammesordnung? Diese 
        gesellschaftlich-politische Organisationsebene gibt es auch bei den 
        arabischen Gesellschaften. Die Trennung, Zerstückelung und Aufteilung 
        Kurdistans hat das Skelett Kurdistans zerschlagen, das Gehirn des 
        kurdischen Volkes zersprengt. Die Trennung, Zerstückelung und 
        Aufteilung ist eine Politik, die sich zu verschiedenen Zeiten an 
        verschiedenen Orten bzw. unter verschiedenen Voraussetzungen 
        ununterbrochen wiederholt. Daher ist es das größte Unglück, welches 
        einer Gesellschaft widerfahren kann, in der Geschichte eines Volkes zur 
        Zielscheibe von Zerschlagung zu werden. Daher kann gesagt werden: die 
        Politik des "Teilen und Herrschen" in der klassischen Kolonie wurde in 
        der Unterkolonie Kurdistan in Form der Politik "Teilen, Herrschen und 
        Vernichten" umgesetzt. Die Kurdenpolitik, diese Kurdistanpolitik des 
        Kemalismus, die Umsetzung dieser Politik wurde vom Westen sehr 
        euphorisch unterstützt. Dies ist eine Tatsache.
        Das kemalistische Herrschaftssystem
        Das türkische Herrschaftssystem beziehungsweise das kemalistische 
        Herrschaftssystem hat sich unmittelbar in den ersten Jahren der Republik 
        in Abhängigkeit zur kurdischen Frage herausgebildet. Die politischen 
        Parteien, die Regierung, die Große Nationalversammlung der Türkei 
        haben innerhalb des politischen Systems der Türkei absolut keinen Wert. 
        Die wichtigste Institution in dem Herrschaftssystem der Türkei, die von 
        Bedeutung ist, ist der Nationale Sicherheitsrat. Die Mitglieder dieser 
        Institution, die sich unter dem Vorsitz des Staatspräsidenten versammeln, 
        sind der Ministerpräsident, der Generalstabschef, der 
        Verteidigungsminister, der Innenminister, der Außenminister, die 
        Befehlshaber des Heeres, der Marine und der Luftstreitkräfte sowie der 
        Oberbefehlshaber der Streitkräfte. Das Sekretariat des Nationalen 
        Sicherheitsrates bildet der Generalsekretär des Nationalen 
        Sicherheitsrates. Das Generalsekretariat des Nationalen Sicherheitsrates 
        nimmt innerhalb des Verteidigungssystems der Türkei bzw. innerhalb des 
        nationalen Sicherheitssystems der Türkei einen wichtigen Platz ein. In der 
        Reihenfolge des Sicherheitssystems steht im Protokoll an erster Stelle der 
        Staatspräsident, an zweiter Stelle der Ministerpräsident, an dritter Stelle 
        steht der Generalstabschef, an vierter Stelle steht der Generalsekretär des 
        Nationalen Sicherheitsrates, an fünfter Stelle steht der Staatssekretär des 
        Nationalen Geheimdienstes.
        Faktisch gesehen sind der Staatspräsident und der Ministerpräsident nur 
        Fassade. Die eigentliche Macht konzentriert sich auf den dritten, vierten 
        und fünften Platz. Das TIB - Ministerium für die Beziehungen mit dem 
        Volk - untersteht dem Generalsekretär des Nationalen Sicherheitsrates. 
        Das ÖHD - die Spezialkriegszentrale, deren derzeitiger Name 
        "Kommandantur der speziellen Streitkräfte" lautet - untersteht direkt dem 
        Generalstabschef. Die Institutionen der Kommandantur der speziellen 
        Streitkräfte und das Ministerium für Beziehungen mit dem Volk sind 
        Organisationen, die in vielen Punkten Gemeinsamkeiten aufzeigen und 
        sich ineinander verflechten.
        Ihre Kader werden geheim gehalten. So wie das Amt des 
        Ministerpräsidenten über ein Geheimbudget verfügt, so verfügt auch das 
        Generalsekretariat des Nationalen Sicherheitsrates und die Kommandantur 
        für Spezialstreitkräfte über ein Geheimbudget. Eine weitere Institution, 
        die im Besitz eines Geheimbudgets ist, ist das Innenministerium.
        Das Generalsekretariat des Nationalen Sicherheitsrates befindet sich an 
        dem Punkt, wo die zivilen, militärischen, legalen und illegalen Aktionen 
        des Staates zusammenfließen. Der Nationale Sicherheitsrat ist die 
        bestimmende und wirksamste Institution, die die türkische Politik prägt.
        Es ist offensichtlich, daß die Mitglieder dieser Institution von den 
        Militärs, d.h. von der bewaffneten Bürokratie, gestellt werden. Aus 
        diesem Grund ist die militaristische Anschauung innerhalb des Nationalen 
        Sicherheitsrates vorherrschend. Diese Institution, die sich auf die 
        Verfassung beruft, ist ernannt. Aber sie ist auch zugleich die Institution, 
        die in letzter Instanz in der Politik der Türkei das bestimmende Wort 
        spricht. Die Institutionen wie die Nationalversammlung der Türkischen 
        Republik und die Regierung werden vom Volk gewählt. Die politischen 
        Parteien und andere Institutionen spielen bei der Willensbildung der 
        Nation eine Rolle. Aber diese Institutionen, die vom Volk gewählt 
        werden, haben gegenüber den einberufenen Institutionen absolut keine 
        Macht. Vor allem in sensiblen Fragen, wie z.B. der kurdischen Frage, 
        bestimmen diese Institutionen des Nationalen Sicherheitsrates die Politik. 
        Die türkischen politischen Parteien, die Regierung, die 
        Nationalversammlung dürfen diese nicht diskutieren. Es ist die wichtigste 
        Eigenschaft des kemalistischen Herrschaftssystems, daß die Macht der 
        berufenen Gremien über der der gewählten Institutionen steht. Allerdings 
        haben die Juristen in der Türkei, die wissenschaftlichen Mitarbeiter an den 
        Universitäten, die Medien, die politischen Funktionäre die Bedeutung 
        dieses Gremiums, seine Qualität, seine Machtbefugnisse und welche 
        Konsequenzen dies für die Demokratie hat, nicht diskutiert. Es ist zu 
        beobachten, daß sehr vorsichtig und bedachtsam von solch einer 
        Diskussion Abstand genommen wird.
        Es ist normal, daß diese militaristische Anschauung bis 1945 unter dem 
        Einparteienregime für keinerlei Konflikte sorgte. In der Phase der 
        Einparteienregierung wurde außer der Volkspartei keiner anderen Partei 
        die Möglichkeit der Existenz gegeben. Der Vorsitzende der 
        Republikanischen Volkspartei war zugleich Staatspräsident. Der 
        stellvertretende Vorsitzende war Ministerpräsident. Der Generalsekretär 
        der Republikanischen Volkspartei amtierte als Innenminister. In einem 
        derartigen Beziehungsgeflecht ist der Einfluß der Armee und der 
        militärischen Ideologie auf das politische Leben sehr groß. Dies wird 
        nicht in der Verfassung von 1924 geregelt, sondern in der Satzung der 
        Republikanischen Volkspartei. Daher muß die Satzung dieser Partei höher 
        angesiedelt werden als die Verfassung.
        Nachdem man 1946 zu einem angeblich demokratischen System 
        übergegangen war, hat sich der vorherige Zustand faktisch fortgesetzt. In 
        der Verfassung von 1924 existiert ein Gremium wie der Nationale 
        Sicherheitsrat nicht. Nach dem Militärputsch 1960 wurde eine neue 
        Verfassung verabschiedet. In dieser Verfassung vom 27. Mai 1961 gibt es 
        einen Artikel, welcher das Gremium des Nationalen Sicherheitsrates 
        ordnet. Der Artikel 111 lautet: "Der Nationale Sicherheitsrat teilt seine 
        Einschätzung hinsichtlich der Beschlüsse und der Koordination, die die 
        nationale Sicherheit betreffen, dem Ministerrat mit." 1971 kam es zur Zeit 
        des 12. März-Regimes zu einer Änderung dieses Artikels. Nun wurde von 
        einer Weiterleitung von Empfehlungen an den Ministerrat gesprochen: 
        "Der Nationale Sicherheitsrat schlägt dem Ministerrat seine 
        Empfehlungen, die für die Beschlußfassung bezüglich der nationalen 
        Sicherheit und deren Koordination notwendig sind, vor." Laut der 
        Verfassung von 1982 ist es der Artikel 118, der die Zuständigkeit des 
        Nationalen Sicherheitsrates regelt: "Der Nationale Sicherheitsrat teilt 
        seine Meinung bezüglich der Festsetzung und Anwendung der nationalen 
        Sicherheitspolitik des Staates dem Ministerrat mit, um die notwendige 
        Koordination sicherzustellen. Der Ministerrat hat die geeigneten 
        Maßnahmen zu ergreifen, um die notwendigen Beschlüsse des nationalen 
        Sicherheitsrates über die nationale Sicherheit, die territoriale 
        Unversehrtheit und die Ruhe und Sicherheit der Gesellschaft umzusetzen."
        Daß die Beschlüsse des Nationalen Sicherheitsrates zugleich 
        Anweisungen an die Regierungen waren, kann man aus den Artikeln der 
        jeweiligen Verfassungen von 1960 bis 1990 ersehen. Die Militärs stärkten 
        und stärken ihren Einfluß über das Regime fortwährend, solange die 
        gesellschaftlichen Konflikte anhalten und die kurdische Frage immer 
        größere Dimensionen annimmt, indem die Artikel, die den Nationalen 
        Sicherheitsrat betreffen, gleichsam Verfassungscharakter annehmen. In 
        der Verfassung von 1961 heißt es "beratend". In der Verfassungsänderung 
        von 1971 heißt es dann nicht mehr "beratend". Es ist davon die Rede, daß 
        die Entscheidungen für die Regierung eine Eigenschaft des "Vorschlages" 
        haben. In der Verfassung von 1982 heißt es jedoch, daß die 
        Entscheidungen des Nationalen Sicherheitsrates für die Regierung 
        "vorrangig" sind. Es ist eine ganz klare Sache, daß die Entscheidungen 
        des Nationalen Sicherheitsrates von der Regierung buchstabengetreu 
        umgesetzt werden.
        In der Türkei ist seit ihrer Gründung ein Verbot der Diskussion der 
        kurdischen Frage und Kurdistans verhängt worden. Es ist möglich zu 
        sagen, daß diese Verbote in der Endphase des Osmanischen Reiches 
        während der Herrschaft der "Partei für Einheit und Fortschritt" begonnen 
        haben. Es ist auch richtig, daß einige Verbote in bezug auf religiöse 
        Gedanken, Gedanken der Linken und des Kommunismus ausgesprochen 
        wurden. Einige Verbote über das religiöse Denken wurden ab 1950 
        langsam wieder aufgehoben. Seit 1990 wurden dann die Verbote 
        bezüglich der Linken und der Gedanken über den Kommunismus 
        aufgehoben. Der Staat nutzt von nun an die religiösen Gedanken gegen 
        die kurdische nationale Befreiungsbewegung, hier insbesondere die PKK. 
        Der Ex-Kulturminister Fikri Saglar hat genau zu diesem Thema ein sehr 
        wichtiges Dokument veröffentlicht. In einer Veröffentlichung der Zeitung 
        "Siyah Beyaz"(Schwarzweiß) vom 18. August 1995 berichtet Fikri Saglar 
        von einem Dokument, welches in seine Hände geriet, als er 1991 
        Kulturminister wurde. Saglar führt über dieses Dokument einige 
        Gedanken aus. Laut diesem Dokument wurde unter dem Vorsitz von 
        Kenan Evren nach 1985 bei einer Versammlung des Nationalen 
        Sicherheitsrates, an der auch der damalige Ministerpräsident Turgut Özal 
        teilgenommen hatte, beschlossen, daß die religiösen Programme, die 
        religiösen Stiftungen und die religiösen Organisationen stärker gefördert 
        werden sollten. Mit der Umsetzung dieser Beschlüsse wurde das 
        Kulturministerium beauftragt. Damit dem Folge geleistet würde, wurde 
        seitens des Nationalen Sicherheitsrates ein geheimer Brief an des 
        Kultusministerium gesandt. Nun, der Ex-Kulturminister Saglar spricht 
        hierbei von Anweisungen des Nationalen Sicherheitsrates. Nach der 
        Lektüre dieses Dokumentes kommt er zu dem Schluß, daß die Gründung 
        der Hizbullah durch die höheren Strukturen der Armee gegen die PKK 
        und der gleichzeitige Kampf der Armee gegen religiöse Tendenzen zwei 
        Seiten einer Medaille sind.
        Das "Terror"-verständnis der kemalistischen Ideologie
        Die offizielle Ideologie der Türkei bewertet die Kurden und Kurdistan, 
        alle Gedanken die diesbezüglich geäußert werden, als "Terror". An den 
        Staatssicherheitsgerichten werden die Artikel des Anti-Terrorgesetzes, die 
        die Meinung unter Strafe stellen, als die wirksamsten gehandelt. Aber 
        "Terror" meint die Anwendung von Gewalt und grober Macht, um die 
        anderen zur Akzeptanz der eigenen Anschauung zu bringen oder 
        entgegenlaufende Ansichten zu verhindern. Die Person oder die Personen, 
        die dies verwirklichen, werden "Terroristen" genannt. Wir unterdrücken 
        keine Person, um unseren Gedanken Akzeptanz zu verleihen. Wir wenden 
        keine Gewalt an, um die Gedanken der Menschen zu verhindern.
        Aber der Staat wendet eine außerordentliche Gewalt an, um uns die 
        offizielle Ideologie zu vermitteln, damit wir sie akzeptieren und ihr 
        folgen, uns entsprechend verhalten und unsere Gedanken verleugnen.
        Darüber hinaus beschuldigt der Staat uns, "terroristisch" zu sein, damit er 
        den Staatsterrorismus verstecken kann. Und einer der wichtigsten 
        Unterstützer des Staates bezüglich genau dieser Haltung ist der Westen.
        Es ist bekannt, daß diese Unterstützung in Form ökonomischer, 
        militärischer, ideologischer und politischer Hilfe erfolgt. Diese 
        Unterstützung stärkt den türkischen Staat. Obwohl eine sehr extreme 
        Unterdrückung faktisch die Gedankenfreiheit aufgehoben hat, erkennt der 
        Westen die Türkei weiterhin als demokratischen Staat an. Obwohl 
        jegliche nationalen und demokratischen Rechte den Kurden vorenthalten 
        werden, die Meinungsäußerungen der Kurden als "Terror" bezeichnet 
        werden, bewertet der Westen die Türkei weiterhin als einen 
        demokratischen Staat. Der Westen tut so, als würde er den extremen 
        Staatsterror in Kurdistan, die Verbrennung und Vernichtung Kurdistans, 
        die Zerstörung der elementarsten Lebensquellen, die Zwangsumsiedlung 
        von Millionen von Menschen aus ihren natürlichen Lebensräumen nicht 
        sehen, nicht hören, als würde er dies nicht wissen.
        Der Westen hat im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts die Aufteilung und 
        Zerstückelung Kurdistans sichergestellt. Damit hat er dafür gesorgt, daß 
        die Kurden sehr schweren gesellschaftlichen, geistigen, ökonomischen 
        und politischen Katastrophen ausgesetzt wurden. Heute ist es genauso. 
        Der Westen bewertet den sich unter der Führung der PKK entwickelnden 
        und fortan sich vergrößernden national-gesellschaftlichen 
        Befreiungskampf der Kurden als "terroristisch" und verleugnet damit 
        weiterhin die Tatsache, daß die nationalen und demokratischen Rechte der 
        Kurden mit Füßen getreten werden. Wiederum agiert er kurdenfeindlich. 
        Weiterhin versucht er die kemalistische Ideologie, die eindeutig 
        antidemokratisch ist, zu stärken. Und dies zeigt, daß der Westen die 
        Politik, die er im ersten Abschnitt des 20. Jahrhunderts gegen die Kurden 
        angewendet hat, heute im Rahmen anderer Formen, mit anderen 
        Methoden, fortzusetzen versucht.
        Kann eine politische Partei, die mehr als 20 000 Guerillakämpfer hat, über 
        Zehntausende von Milizen verfügt, hunderttausende Sympathisanten hat, 
        eine national-gesellschaftliche Befreiungsbewegung als eine 
        "terroristische Organisation" oder als "eine handvoll Banditen" bewertet 
        werden?
        Ein wichtiges Kriterium, das den Grad der Organisierung bzw. den Grad 
        des erreichten Zustandes des national-gesellschaftlichen 
        Befreiungskampfes anzeigt, ist der Platz der Frauen in dieser Bewegung. 
        Von einer Guerillabewegung, bei der die Frauen aktive Aufgaben 
        wahrnehmen und bei der die Beteiligung der Frauen sehr hoch ist, kann 
        gesagt werden, daß sie eine Bewegung geworden ist, die sich verfestigt 
        und institutionalisiert hat. Das ist der Zustand der PKK.
        Dies allein genommen ist ein wichtiges Faktum. Überall auf der Welt. Die 
        Frauen, die im Gegensatz zu den Männern physisch nicht so stark sind, 
        nehmen in einem Krieg, der einer der unmoralischsten, schmutzigsten 
        Kriege dieser Welt ist, bei dem die Konterguerilla erbarmungslos 
        eingesetzt wird, aktive Aufgaben wahr.
        Dies ist eine Seite der PKK, die unbedingt erforscht werden muß. Darüber 
        hinaus hat sich der kurdische Intellektuelle als eine gesellschaftliche 
        Kategorie herausgebildet. In der Phase des Guerillakampfes haben die 
        kurdischen Intellektuellen begonnen, "Intellektuelle für sich" zu sein, 
        Intellektuelle für die Kurden zu sein. Es haben sich in den 
        Zukunftserwartungen der kurdischen Bauern, der kurdischen Arbeiter, 
        sogar bei den in den Provinzstädten lebenden Kurden sehr große 
        Veränderungen ergeben. Auch in der politischen Kultur gibt es sehr große 
        Veränderungen.
        Nicht nur in Nordkurdistan, überall in Kurdistan, überall wo Kurden 
        leben, würdigen die Menschen eine Bewegung, die politische, kulturelle, 
        ökonomische, soziale und militärische Institutionen aufbaut und die einen 
        starken Einfluß in allen Klassen und Schichten hat.
        Ohne jeden Zweifel führt der Krieg dazu, daß unakzeptable Zustände 
        entstehen und erlebt werden. Erinnern wir uns an die Tage nach dem 
        Zweiten Weltkrieg, als es zur Gründung des Staates Israel kam. Erinnern 
        wir uns an die Zeit, als Indien seine Unabhängigkeit verkündet hat, an die 
        Phase, in der es zur Teilung zwischen Indien und Pakistan kam. Erinnern 
        wir uns an die Phase nach 1960, an die Aktionen der Palästinensischen 
        Befreiungsorganisation PLO. Die Gewalt, die von der PKK ausgeht, kann 
        lediglich in diesem Rahmen bewertet werden.
        Der Westen ist der größte Unterstützer des Krieges in Kurdistan. Die 
        Hauptursache für den schmutzigen Krieg in Kurdistan liegt in dem 
        Umstand, daß der Staat über die legalen militärischen und polizeilichen 
        Kräfte hinaus mit der geheimen Konterguerilla diesen Krieg führt. Ohne 
        jeden Zweifel setzt er sehr wirksam die militärischen, polizeilichen und 
        Gendarmeriekräfte in diesem Krieg ein. Aber der Faktor, der den Krieg 
        schmutzig macht, ist der weitverbreitete Einsatz der Konterguerillakräfte. 
        Die Morde unbekannter Täter, die Entführung und das 
        Verschwindenlassen von Patrioten, die Vernichtung von Dörfern, die 
        Zerstörung der Lebensgrundlagen, das Verbrennen von Wäldern, die 
        bewußte Zerstörung der Natur, der Einsatz von Lebensmittelembargos, die 
        Zwangsvertreibung hunderttausender von Familien aus ihrem natürlichen 
        Lebensraum und vieles andere mehr ist innerhalb dieser Phase geschehen. 
        Aus diesem Grunde ist der jetzige Krieg in Kurdistan einer der 
        erbarmungslosesten Kolonialkriege auf der Welt. 
        Trotzdem geht der Kampf weiter. Wie die Türkei darf auch der Westen 
        folgende Realität nicht außer Acht lassen: Kurdistan ist nicht das alte 
        Kurdistan. Die Kurden sind nicht wie die alten Kurden. In der 
        demokratischen öffentlichen Meinung des Westens wird der kurdische 
        Befreiungskampf mit wachsendem Interesse wahrgenommen. 
        Es ist bekannt, daß die Gedanken in diesem Artikel von einigen 
        internationalen Gremien auf "Bitten des türkischen Staates" von den 
        türkischen Straforganen als "Unterstützung des Terrorismus" bewertet 
        werden. Daher müssen die Begriffe "Terror", "terroristisch", "Nationale 
        Befreiungsbewegung" nochmals neu diskutiert werden. Wir haben 
        versucht, die Definition für "Terrorismus", "Terror" oben darzulegen. 
        Was sonst ist "Terror" wenn nicht im Rahmen der Definitionen, die wir 
        dargestellt haben. Aber diejenigen, die den Staatsterrorismus außer Acht 
        lassen, die ihn leugnen und somit den Staatsterrorismus legitimieren, 
        sagen nur, wenn sie in die Enge getrieben werden, daß sie gegen jede Art 
        von Terror seien. Diese Aussage ist inhaltsleer. Diejenigen, die solche 
        Aussagen machen ohne den Terror zu begreifen, werden nicht in der Lage 
        sein, gegenüber dem Terror Lösungen zu entwickeln und sie in die Tat 
        umzusetzen.
        Und die Kurden sind mit einem Staatsterror konfrontiert, der sich stetig 
        intensiviert hat und von der Konterguerilla umgesetzt wird. Seit mehr als 
        70 Jahren sind sie diesem Staatsterror ausgesetzt. Und er dauert noch 
        immer an. Bis 1980 haben sich die Kurden gegenüber diesem Staatsterror 
        gebeugt, gegenüber den Grausamkeiten geschwiegen. Durch ihn wurden 
        sie erniedrigt. Sie wurden dadurch unzeitgemäße Sklaven und fühlten sich 
        minderwertig.
        Der Kampf unter der Führung der PKK ist zeitgenössisch, denn sie 
        kämpfen gegen eine ungerechte Unterdrückung. Sie kämpfen gegen den 
        Staatsterror.
        Ismail Besikci
        Anmerkungen:
        (1) Im Rahmen der türkischen nationalistischen Geschichtsinterpretation 
        wurden extreme Theorien des sprachlichen Nationalismus entwickelt. 
        Eine dieser Theorien, die Sonnen-Sprach-Theorie, betont die Idee, daß 
        Türkisch die erste gesprochene Sprache in der Entwicklung der 
        Menschheit war.