|
Der Kemalismus bestraft die Gedanken, welche ihn kritisieren. Die,
die ihn loben, werden belohnt.
Es ist eine offene Wahrheit, daß in der Welt alle undemokratischen,
totalitären politischen Systeme die Gedanken, durch welche sie kritisiert
werden, mit Verboten belegt haben. Diese Verbote haben als der
dominante Faktor das politische System in der Türkei vor und nach 1946,
d.h. im Einparteiensystem und in der sogenannten pluralistischen
Demokratie, bestimmt. Das Verbot der freien Kritik ist das wichtigste
Merkmal, welches das kemalistische Denken und seine Anordnungen
kennzeichnet; es ist das wichtigste Erbe des Kemalismus. Der Kemalismus
ist in der Türkei die offizielle Ideologie. Staaten, die eine offizielle
Ideologie besitzen, sind undemokratische Staaten. Demokratische
Gesellschaften sollten nicht im Besitz einer offiziellen Ideologieinstitution
sein. Die Anwesenheit oder Abwesenheit freier Kritik und deren
Wirksamkeit ist kein einfacher und gängiger Vorgang. Demokratie und
Wissenschaft basieren auf freier Kritik und ihrer Produktivität. Offizielle
staatliche Ideologien sind nicht irgendwelche Ideologien, sondern
Ideologien, die mit Androhungen von Sanktionen seitens des Staates
aufrechterhalten und so bei der Bevölkerung durchgesetzt werden. In der
Türkei ist die freie Kritik verboten, und dieses Verbot hat eine wichtige
Funktion. Die Verbote der Gedankenfreiheit haben eine politische
Zielsetzung. So ist es beispielsweise verboten, Kritik an Theorie und
Praxis des Kemalismus bezüglich Kurdistans und staatlicher Maßnahmen
gegen die Kurden zu üben. KritikerInnen werden zum Ziel staatlicher
Verfolgung und mit sehr schweren Strafen belegt.
Dies stellt zugleich das größte Problem für das Verständnis von wichtigen
gesellschaftlichen Phasen und ein Hindernis der Geschichtsschreibung
dar. Die Wissenschaft kann sich nicht entwickeln, wenn freie Kritik
keinen Raum hat.
Heute stellt die Institution der offiziellen Ideologie in der Türkei das
größte Hindernis der Gedankenfreiheit, der Wissenschaft und der
demokratischen Entwicklung dar. Entscheidend ist letztendlich nicht, ob
die herrschende Ideologie einen religiösen oder laizistischen Charakter
hat. Es gibt keinen bedeutenden Unterschied zwischen einer religiösen
oder nichtreligiösen Ideologie, wenn sie Meinungen als "terroristisch"
diffamiert. Im Mittelalter war die christliche Religion, repräsentiert durch
die Kirche, in Europa die bestimmende Ideologie. Heute ist die Religion
in Staaten wie dem Iran, Pakistan, Afghanistan, Saudi-Arabien, Sudan,
Libyen allerhöchste Autorität. In diesen Staaten gelten die Verbote der
Gedankenfreiheit und werden allgegenwärtig angewandt. In einigen
Staaten, wie zum Beispiel Irak, Syrien, Marokko und Algerien, scheint die
offizielle Ideologie einen größeren laizistischen Anspruch zu haben. Aber
auch in diesen Staaten gibt es keine Toleranz in bezug auf andere
Meinungen. Ohne jeden Zweifel ist die Türkei nicht so wie diese Staaten.
Allerdings ist die Verbotspraxis in der Türkei bezüglich der kurdischen
Frage schlimmer als in allen vorher genannten Ländern. Im Mittelalter,
zur Zeit der Inquisition, wurden Menschen aufgrund ihrer Gedanken, die
im Widerspruch zu den Dogmen der Kirche standen, verbrannt.
Heutzutage werden in der Türkei Menschen durch extralegale
Hinrichtungen vernichtet. Wenn wir den Zeitraum von 1991-95
betrachten, so können wir an den Beispielen der damals veröffentlichten
Zeitungen "Özgür Gündem", "Özgür Ülke" und "Yeni Politika" Parallelen
entdecken: Autoren, Redakteure, führende Verantwortliche, die bei diesen
Zeitungen gearbeitet haben, wurden entführt und umgebracht.
Zeitungsverteiler wurden in ihren Autos mitsamt ihren Zeitungen
verbrannt. Die Universitäten in der Türkei haben jederzeit im Namen der
Wissenschaft die offizielle Ideologie vermittelt. In den türkischen
Universitäten wurde ständig die Propaganda der offiziellen Ideologie
verbreitet, und es wurden die Personen ausgegrenzt, die den Offiziellen
durch ihre Kritik mißliebig geworden waren. Aus diesem Grunde kann
nicht gesagt werden, daß die türkischen Universitäten ein Ort der
Wissenschaft seien. Die Verbote der Gedankenfreiheit haben eine sehr
wichtige politische Funktion. Es muß analysiert werden, welche Gedanken
die Staaten verboten haben, welche Ansichten dort zu welchem Zeitpunkt
geäußert wurden. Noch bis vor fünfzehn Jahren war jeder Gedanke mit
Bezug auf Kurden und Kurdistan verboten. Gegenwärtig jedoch wird die
faktische Existenz der Kurden nicht geleugnet. Zurückzuführen ist dies
auf den konkreten Guerillakampf. Mittlerweile sind Ansichten wie: "die
Kurden sind ein primitives Volk", "sie können sich nicht selbst leiten",
"sie bekriegen sich ständig gegenseitig", "ein unabhängiges Kurdistan ist
ein Traum" sowie "Unabhängigkeit, Autonomie oder Föderation sind
nicht zum Vorteil der Kurden" sehr wohl erlaubt. Diese Äußerungen sind
nicht verboten. Doch haben Aussagen wie: "auch die Kurden müssen im
Besitz des Selbstbestimmungsrechts sein", "jegliche Lösungsformen des
Kurdistanproblems, einschließlich eines freien Kurdistans, sollten
diskutiert werden" strafrechtliche Konsequenzen.
Gedanken, die den Kemalismus kritisieren, werden auf der Grundlage von
Paragraphen und Gesetzen verfolgt. Neben dem Gesetz zur Bekämpfung
des Terrorismus gibt es ein weiteres Gesetz Nr. 5816 ("Gesetz zum
Schutze Atatürks und seiner Werke"). Wenn beispielsweise jemand die
Beziehungen der Kemalisten zu Großbritannien und Frankreich zwischen
1919 und 1925 untersucht, wird gesagt dies sei eine Verachtung Mustafa
Kemal Atatürks und man wird nach diesem Gesetz angeklagt. Ein weiteres
Beispiel: Wer um 1930 an der gängigen "Türkischen Geschichtstheorie"
und "Sonnen-Sprach-Theorie"(1) Kritik übte, wurde zu unglaublich
schweren Strafen verurteilt. Aber in diesen Jahren wurden die
Universitätsangehörigen, Pressevertreter, Schriftsteller usw., die einen
Beitrag zur Entstehung und Verbreitung dieser Gedanken leisteten, von
Atatürk und den Vertretern des Staates materiell und ideell belohnt.
Der Kemalismus und die Kurden
Die kemalistische Ideologie verleugnet die nationale und gesellschaftliche
Existenz der Kurden und Kurdistans sowie die kurdische Identität. Diese
Ideologie hat die Assimilation als bedeutendste staatliche Politik
hervorgebracht. Über das historische Unrecht, welches den Kurden
zugefügt wurde, kann in verkürzter Form folgendes gesagt werden:
Kurdistan und die Kurden wurden in dem ersten Viertel des 20.
Jahrhunderts getrennt, zerstückelt und aufgeteilt.
Die ethnischen und gesellschaftlichen Bedingungen in dieser Zeit haben
diese Entwicklung erleichtert. Dies ist ein Thema, das die Schwächen der
kurdischen Gesellschaft betrifft. Und diese Schwachpunkte müssen auch
mit wissenschaftlichen Methoden beleuchtet werden. Obwohl sich die
Kemalisten gemeinsam mit den imperialistischen Staaten an der Spaltung ,
Zerstückelung und Aufteilung Kurdistans und der kurdischen Nation
beteiligt haben, sahen sie sich selbst als Anführer eines "Nationalen
Freiheitskampfes", als Führer "unterdrückter Völker". Sie sagen: "Den
ersten nationalen Befreiungskampf gegen Imperialismus und
Kolonialismus in der Welt haben wir realisiert. Für die nationale
Befreiung der unterdrückten Völker wurden wir zur Leitfigur". Genau an
diesem Punkt haben die Verbote der kritischen Gedanken die Aufgabe,
das Bloßlegen dieser zwiesichtigen Politik des Kemalismus zu verhindern
und die Propaganda "Wir sind den unterdrückten Völkern zum Vorbild
geworden" abzusichern.
Der Kemalismus beinhaltet rassistisches Denken, und seine Umsetzung ist
ebenfalls rassistisch. Indem er die national-gesellschaftliche Realität der
Kurden verleugnet, die Assimilationsmaßnahmen als grundlegende
systematische Staatspolitik auffaßt, setzt er einen in der Welt
unvergleichlichen Rassismus in die Tat um. Tag für Tag wird den
kurdischen Kindern in der Schule zwangsweise der Eid "Ich bin Türke,
aufrichtig und fleißig. Mein Leben soll der türkischen Existenz gewidmet
sein" verlesen.
In Kurdistan stehen auf den Bergen, auf den Hügeln, an den
Eingangstoren der Städte, an den Regierungsgebäuden, an den Schulen
Parolen wie: "Wie stolz, wer sagt, ich bin Türke", "Türke sei ruhmreich,
arbeite und vertraue" und "Der Türke ist der größte, es gibt keinen
größeren als den Türken". In den Verwaltungsämtern wird die kurdische
Sprache, die kurdische Musik, die kurdische Literatur verboten. In den
Schulen werden den kurdischen Kindern die "türkischen Vorbilder" als
die eigenen Vorfahren verkauft. Dieser Rassismus ist grausamer als das
Apartheitssystem in Südafrika, bevor 1994 Nelson Mandela
Staatspräsident wurde. Der Rassisten tönen: "Ihr seid gezwungen mit uns
zu leben, aber ihr müßt so sein wie wir. Ihr dürft leben, aber eure Identität
müßt ihr vergessen. Eure Werte müßt ihr vergessen. Ihr habt keine andere
Chance." Dieser Rassismus ist weit reaktionärer als jener, demzufolge es
heißt: "Ihr gleicht uns nicht, deshalb lebt ihr im Getto."
Die Kurden, Kurdistan gibt es faktisch, aber sie existieren politisch nicht.
Und dies verursacht im Nahen Osten, in den internationalen Beziehungen
sehr tiefe politische Spannungen und gesellschaftliche Unruhen. Einer der
wichtigsten Antriebskräfte des kurdischen Befreiungskampfes, der von der
PKK geführt wird und nicht gestoppt werden kann, ist dieser
Widerspruch.
Die Kurden zahlen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts einen hohen Preis
für Freiheit und Unabhängigkeit. Innerhalb dieser Phase wurden vielleicht
mehr als eine Million Menschen im Nahen Osten geopfert. Trotzdem
besitzen die Kurden und Kurdistan nicht einmal einen politischen Status.
Kann dies nur mit den Schwächen der Kurden erklärt werden?
Gibt es zum Beispiel nur bei den Kurden die Stammesordnung? Diese
gesellschaftlich-politische Organisationsebene gibt es auch bei den
arabischen Gesellschaften. Die Trennung, Zerstückelung und Aufteilung
Kurdistans hat das Skelett Kurdistans zerschlagen, das Gehirn des
kurdischen Volkes zersprengt. Die Trennung, Zerstückelung und
Aufteilung ist eine Politik, die sich zu verschiedenen Zeiten an
verschiedenen Orten bzw. unter verschiedenen Voraussetzungen
ununterbrochen wiederholt. Daher ist es das größte Unglück, welches
einer Gesellschaft widerfahren kann, in der Geschichte eines Volkes zur
Zielscheibe von Zerschlagung zu werden. Daher kann gesagt werden: die
Politik des "Teilen und Herrschen" in der klassischen Kolonie wurde in
der Unterkolonie Kurdistan in Form der Politik "Teilen, Herrschen und
Vernichten" umgesetzt. Die Kurdenpolitik, diese Kurdistanpolitik des
Kemalismus, die Umsetzung dieser Politik wurde vom Westen sehr
euphorisch unterstützt. Dies ist eine Tatsache.
Das kemalistische Herrschaftssystem
Das türkische Herrschaftssystem beziehungsweise das kemalistische
Herrschaftssystem hat sich unmittelbar in den ersten Jahren der Republik
in Abhängigkeit zur kurdischen Frage herausgebildet. Die politischen
Parteien, die Regierung, die Große Nationalversammlung der Türkei
haben innerhalb des politischen Systems der Türkei absolut keinen Wert.
Die wichtigste Institution in dem Herrschaftssystem der Türkei, die von
Bedeutung ist, ist der Nationale Sicherheitsrat. Die Mitglieder dieser
Institution, die sich unter dem Vorsitz des Staatspräsidenten versammeln,
sind der Ministerpräsident, der Generalstabschef, der
Verteidigungsminister, der Innenminister, der Außenminister, die
Befehlshaber des Heeres, der Marine und der Luftstreitkräfte sowie der
Oberbefehlshaber der Streitkräfte. Das Sekretariat des Nationalen
Sicherheitsrates bildet der Generalsekretär des Nationalen
Sicherheitsrates. Das Generalsekretariat des Nationalen Sicherheitsrates
nimmt innerhalb des Verteidigungssystems der Türkei bzw. innerhalb des
nationalen Sicherheitssystems der Türkei einen wichtigen Platz ein. In der
Reihenfolge des Sicherheitssystems steht im Protokoll an erster Stelle der
Staatspräsident, an zweiter Stelle der Ministerpräsident, an dritter Stelle
steht der Generalstabschef, an vierter Stelle steht der Generalsekretär des
Nationalen Sicherheitsrates, an fünfter Stelle steht der Staatssekretär des
Nationalen Geheimdienstes.
Faktisch gesehen sind der Staatspräsident und der Ministerpräsident nur
Fassade. Die eigentliche Macht konzentriert sich auf den dritten, vierten
und fünften Platz. Das TIB - Ministerium für die Beziehungen mit dem
Volk - untersteht dem Generalsekretär des Nationalen Sicherheitsrates.
Das ÖHD - die Spezialkriegszentrale, deren derzeitiger Name
"Kommandantur der speziellen Streitkräfte" lautet - untersteht direkt dem
Generalstabschef. Die Institutionen der Kommandantur der speziellen
Streitkräfte und das Ministerium für Beziehungen mit dem Volk sind
Organisationen, die in vielen Punkten Gemeinsamkeiten aufzeigen und
sich ineinander verflechten.
Ihre Kader werden geheim gehalten. So wie das Amt des
Ministerpräsidenten über ein Geheimbudget verfügt, so verfügt auch das
Generalsekretariat des Nationalen Sicherheitsrates und die Kommandantur
für Spezialstreitkräfte über ein Geheimbudget. Eine weitere Institution,
die im Besitz eines Geheimbudgets ist, ist das Innenministerium.
Das Generalsekretariat des Nationalen Sicherheitsrates befindet sich an
dem Punkt, wo die zivilen, militärischen, legalen und illegalen Aktionen
des Staates zusammenfließen. Der Nationale Sicherheitsrat ist die
bestimmende und wirksamste Institution, die die türkische Politik prägt.
Es ist offensichtlich, daß die Mitglieder dieser Institution von den
Militärs, d.h. von der bewaffneten Bürokratie, gestellt werden. Aus
diesem Grund ist die militaristische Anschauung innerhalb des Nationalen
Sicherheitsrates vorherrschend. Diese Institution, die sich auf die
Verfassung beruft, ist ernannt. Aber sie ist auch zugleich die Institution,
die in letzter Instanz in der Politik der Türkei das bestimmende Wort
spricht. Die Institutionen wie die Nationalversammlung der Türkischen
Republik und die Regierung werden vom Volk gewählt. Die politischen
Parteien und andere Institutionen spielen bei der Willensbildung der
Nation eine Rolle. Aber diese Institutionen, die vom Volk gewählt
werden, haben gegenüber den einberufenen Institutionen absolut keine
Macht. Vor allem in sensiblen Fragen, wie z.B. der kurdischen Frage,
bestimmen diese Institutionen des Nationalen Sicherheitsrates die Politik.
Die türkischen politischen Parteien, die Regierung, die
Nationalversammlung dürfen diese nicht diskutieren. Es ist die wichtigste
Eigenschaft des kemalistischen Herrschaftssystems, daß die Macht der
berufenen Gremien über der der gewählten Institutionen steht. Allerdings
haben die Juristen in der Türkei, die wissenschaftlichen Mitarbeiter an den
Universitäten, die Medien, die politischen Funktionäre die Bedeutung
dieses Gremiums, seine Qualität, seine Machtbefugnisse und welche
Konsequenzen dies für die Demokratie hat, nicht diskutiert. Es ist zu
beobachten, daß sehr vorsichtig und bedachtsam von solch einer
Diskussion Abstand genommen wird.
Es ist normal, daß diese militaristische Anschauung bis 1945 unter dem
Einparteienregime für keinerlei Konflikte sorgte. In der Phase der
Einparteienregierung wurde außer der Volkspartei keiner anderen Partei
die Möglichkeit der Existenz gegeben. Der Vorsitzende der
Republikanischen Volkspartei war zugleich Staatspräsident. Der
stellvertretende Vorsitzende war Ministerpräsident. Der Generalsekretär
der Republikanischen Volkspartei amtierte als Innenminister. In einem
derartigen Beziehungsgeflecht ist der Einfluß der Armee und der
militärischen Ideologie auf das politische Leben sehr groß. Dies wird
nicht in der Verfassung von 1924 geregelt, sondern in der Satzung der
Republikanischen Volkspartei. Daher muß die Satzung dieser Partei höher
angesiedelt werden als die Verfassung.
Nachdem man 1946 zu einem angeblich demokratischen System
übergegangen war, hat sich der vorherige Zustand faktisch fortgesetzt. In
der Verfassung von 1924 existiert ein Gremium wie der Nationale
Sicherheitsrat nicht. Nach dem Militärputsch 1960 wurde eine neue
Verfassung verabschiedet. In dieser Verfassung vom 27. Mai 1961 gibt es
einen Artikel, welcher das Gremium des Nationalen Sicherheitsrates
ordnet. Der Artikel 111 lautet: "Der Nationale Sicherheitsrat teilt seine
Einschätzung hinsichtlich der Beschlüsse und der Koordination, die die
nationale Sicherheit betreffen, dem Ministerrat mit." 1971 kam es zur Zeit
des 12. März-Regimes zu einer Änderung dieses Artikels. Nun wurde von
einer Weiterleitung von Empfehlungen an den Ministerrat gesprochen:
"Der Nationale Sicherheitsrat schlägt dem Ministerrat seine
Empfehlungen, die für die Beschlußfassung bezüglich der nationalen
Sicherheit und deren Koordination notwendig sind, vor." Laut der
Verfassung von 1982 ist es der Artikel 118, der die Zuständigkeit des
Nationalen Sicherheitsrates regelt: "Der Nationale Sicherheitsrat teilt
seine Meinung bezüglich der Festsetzung und Anwendung der nationalen
Sicherheitspolitik des Staates dem Ministerrat mit, um die notwendige
Koordination sicherzustellen. Der Ministerrat hat die geeigneten
Maßnahmen zu ergreifen, um die notwendigen Beschlüsse des nationalen
Sicherheitsrates über die nationale Sicherheit, die territoriale
Unversehrtheit und die Ruhe und Sicherheit der Gesellschaft umzusetzen."
Daß die Beschlüsse des Nationalen Sicherheitsrates zugleich
Anweisungen an die Regierungen waren, kann man aus den Artikeln der
jeweiligen Verfassungen von 1960 bis 1990 ersehen. Die Militärs stärkten
und stärken ihren Einfluß über das Regime fortwährend, solange die
gesellschaftlichen Konflikte anhalten und die kurdische Frage immer
größere Dimensionen annimmt, indem die Artikel, die den Nationalen
Sicherheitsrat betreffen, gleichsam Verfassungscharakter annehmen. In
der Verfassung von 1961 heißt es "beratend". In der Verfassungsänderung
von 1971 heißt es dann nicht mehr "beratend". Es ist davon die Rede, daß
die Entscheidungen für die Regierung eine Eigenschaft des "Vorschlages"
haben. In der Verfassung von 1982 heißt es jedoch, daß die
Entscheidungen des Nationalen Sicherheitsrates für die Regierung
"vorrangig" sind. Es ist eine ganz klare Sache, daß die Entscheidungen
des Nationalen Sicherheitsrates von der Regierung buchstabengetreu
umgesetzt werden.
In der Türkei ist seit ihrer Gründung ein Verbot der Diskussion der
kurdischen Frage und Kurdistans verhängt worden. Es ist möglich zu
sagen, daß diese Verbote in der Endphase des Osmanischen Reiches
während der Herrschaft der "Partei für Einheit und Fortschritt" begonnen
haben. Es ist auch richtig, daß einige Verbote in bezug auf religiöse
Gedanken, Gedanken der Linken und des Kommunismus ausgesprochen
wurden. Einige Verbote über das religiöse Denken wurden ab 1950
langsam wieder aufgehoben. Seit 1990 wurden dann die Verbote
bezüglich der Linken und der Gedanken über den Kommunismus
aufgehoben. Der Staat nutzt von nun an die religiösen Gedanken gegen
die kurdische nationale Befreiungsbewegung, hier insbesondere die PKK.
Der Ex-Kulturminister Fikri Saglar hat genau zu diesem Thema ein sehr
wichtiges Dokument veröffentlicht. In einer Veröffentlichung der Zeitung
"Siyah Beyaz"(Schwarzweiß) vom 18. August 1995 berichtet Fikri Saglar
von einem Dokument, welches in seine Hände geriet, als er 1991
Kulturminister wurde. Saglar führt über dieses Dokument einige
Gedanken aus. Laut diesem Dokument wurde unter dem Vorsitz von
Kenan Evren nach 1985 bei einer Versammlung des Nationalen
Sicherheitsrates, an der auch der damalige Ministerpräsident Turgut Özal
teilgenommen hatte, beschlossen, daß die religiösen Programme, die
religiösen Stiftungen und die religiösen Organisationen stärker gefördert
werden sollten. Mit der Umsetzung dieser Beschlüsse wurde das
Kulturministerium beauftragt. Damit dem Folge geleistet würde, wurde
seitens des Nationalen Sicherheitsrates ein geheimer Brief an des
Kultusministerium gesandt. Nun, der Ex-Kulturminister Saglar spricht
hierbei von Anweisungen des Nationalen Sicherheitsrates. Nach der
Lektüre dieses Dokumentes kommt er zu dem Schluß, daß die Gründung
der Hizbullah durch die höheren Strukturen der Armee gegen die PKK
und der gleichzeitige Kampf der Armee gegen religiöse Tendenzen zwei
Seiten einer Medaille sind.
Das "Terror"-verständnis der kemalistischen Ideologie
Die offizielle Ideologie der Türkei bewertet die Kurden und Kurdistan,
alle Gedanken die diesbezüglich geäußert werden, als "Terror". An den
Staatssicherheitsgerichten werden die Artikel des Anti-Terrorgesetzes, die
die Meinung unter Strafe stellen, als die wirksamsten gehandelt. Aber
"Terror" meint die Anwendung von Gewalt und grober Macht, um die
anderen zur Akzeptanz der eigenen Anschauung zu bringen oder
entgegenlaufende Ansichten zu verhindern. Die Person oder die Personen,
die dies verwirklichen, werden "Terroristen" genannt. Wir unterdrücken
keine Person, um unseren Gedanken Akzeptanz zu verleihen. Wir wenden
keine Gewalt an, um die Gedanken der Menschen zu verhindern.
Aber der Staat wendet eine außerordentliche Gewalt an, um uns die
offizielle Ideologie zu vermitteln, damit wir sie akzeptieren und ihr
folgen, uns entsprechend verhalten und unsere Gedanken verleugnen.
Darüber hinaus beschuldigt der Staat uns, "terroristisch" zu sein, damit er
den Staatsterrorismus verstecken kann. Und einer der wichtigsten
Unterstützer des Staates bezüglich genau dieser Haltung ist der Westen.
Es ist bekannt, daß diese Unterstützung in Form ökonomischer,
militärischer, ideologischer und politischer Hilfe erfolgt. Diese
Unterstützung stärkt den türkischen Staat. Obwohl eine sehr extreme
Unterdrückung faktisch die Gedankenfreiheit aufgehoben hat, erkennt der
Westen die Türkei weiterhin als demokratischen Staat an. Obwohl
jegliche nationalen und demokratischen Rechte den Kurden vorenthalten
werden, die Meinungsäußerungen der Kurden als "Terror" bezeichnet
werden, bewertet der Westen die Türkei weiterhin als einen
demokratischen Staat. Der Westen tut so, als würde er den extremen
Staatsterror in Kurdistan, die Verbrennung und Vernichtung Kurdistans,
die Zerstörung der elementarsten Lebensquellen, die Zwangsumsiedlung
von Millionen von Menschen aus ihren natürlichen Lebensräumen nicht
sehen, nicht hören, als würde er dies nicht wissen.
Der Westen hat im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts die Aufteilung und
Zerstückelung Kurdistans sichergestellt. Damit hat er dafür gesorgt, daß
die Kurden sehr schweren gesellschaftlichen, geistigen, ökonomischen
und politischen Katastrophen ausgesetzt wurden. Heute ist es genauso.
Der Westen bewertet den sich unter der Führung der PKK entwickelnden
und fortan sich vergrößernden national-gesellschaftlichen
Befreiungskampf der Kurden als "terroristisch" und verleugnet damit
weiterhin die Tatsache, daß die nationalen und demokratischen Rechte der
Kurden mit Füßen getreten werden. Wiederum agiert er kurdenfeindlich.
Weiterhin versucht er die kemalistische Ideologie, die eindeutig
antidemokratisch ist, zu stärken. Und dies zeigt, daß der Westen die
Politik, die er im ersten Abschnitt des 20. Jahrhunderts gegen die Kurden
angewendet hat, heute im Rahmen anderer Formen, mit anderen
Methoden, fortzusetzen versucht.
Kann eine politische Partei, die mehr als 20 000 Guerillakämpfer hat, über
Zehntausende von Milizen verfügt, hunderttausende Sympathisanten hat,
eine national-gesellschaftliche Befreiungsbewegung als eine
"terroristische Organisation" oder als "eine handvoll Banditen" bewertet
werden?
Ein wichtiges Kriterium, das den Grad der Organisierung bzw. den Grad
des erreichten Zustandes des national-gesellschaftlichen
Befreiungskampfes anzeigt, ist der Platz der Frauen in dieser Bewegung.
Von einer Guerillabewegung, bei der die Frauen aktive Aufgaben
wahrnehmen und bei der die Beteiligung der Frauen sehr hoch ist, kann
gesagt werden, daß sie eine Bewegung geworden ist, die sich verfestigt
und institutionalisiert hat. Das ist der Zustand der PKK.
Dies allein genommen ist ein wichtiges Faktum. Überall auf der Welt. Die
Frauen, die im Gegensatz zu den Männern physisch nicht so stark sind,
nehmen in einem Krieg, der einer der unmoralischsten, schmutzigsten
Kriege dieser Welt ist, bei dem die Konterguerilla erbarmungslos
eingesetzt wird, aktive Aufgaben wahr.
Dies ist eine Seite der PKK, die unbedingt erforscht werden muß. Darüber
hinaus hat sich der kurdische Intellektuelle als eine gesellschaftliche
Kategorie herausgebildet. In der Phase des Guerillakampfes haben die
kurdischen Intellektuellen begonnen, "Intellektuelle für sich" zu sein,
Intellektuelle für die Kurden zu sein. Es haben sich in den
Zukunftserwartungen der kurdischen Bauern, der kurdischen Arbeiter,
sogar bei den in den Provinzstädten lebenden Kurden sehr große
Veränderungen ergeben. Auch in der politischen Kultur gibt es sehr große
Veränderungen.
Nicht nur in Nordkurdistan, überall in Kurdistan, überall wo Kurden
leben, würdigen die Menschen eine Bewegung, die politische, kulturelle,
ökonomische, soziale und militärische Institutionen aufbaut und die einen
starken Einfluß in allen Klassen und Schichten hat.
Ohne jeden Zweifel führt der Krieg dazu, daß unakzeptable Zustände
entstehen und erlebt werden. Erinnern wir uns an die Tage nach dem
Zweiten Weltkrieg, als es zur Gründung des Staates Israel kam. Erinnern
wir uns an die Zeit, als Indien seine Unabhängigkeit verkündet hat, an die
Phase, in der es zur Teilung zwischen Indien und Pakistan kam. Erinnern
wir uns an die Phase nach 1960, an die Aktionen der Palästinensischen
Befreiungsorganisation PLO. Die Gewalt, die von der PKK ausgeht, kann
lediglich in diesem Rahmen bewertet werden.
Der Westen ist der größte Unterstützer des Krieges in Kurdistan. Die
Hauptursache für den schmutzigen Krieg in Kurdistan liegt in dem
Umstand, daß der Staat über die legalen militärischen und polizeilichen
Kräfte hinaus mit der geheimen Konterguerilla diesen Krieg führt. Ohne
jeden Zweifel setzt er sehr wirksam die militärischen, polizeilichen und
Gendarmeriekräfte in diesem Krieg ein. Aber der Faktor, der den Krieg
schmutzig macht, ist der weitverbreitete Einsatz der Konterguerillakräfte.
Die Morde unbekannter Täter, die Entführung und das
Verschwindenlassen von Patrioten, die Vernichtung von Dörfern, die
Zerstörung der Lebensgrundlagen, das Verbrennen von Wäldern, die
bewußte Zerstörung der Natur, der Einsatz von Lebensmittelembargos, die
Zwangsvertreibung hunderttausender von Familien aus ihrem natürlichen
Lebensraum und vieles andere mehr ist innerhalb dieser Phase geschehen.
Aus diesem Grunde ist der jetzige Krieg in Kurdistan einer der
erbarmungslosesten Kolonialkriege auf der Welt.
Trotzdem geht der Kampf weiter. Wie die Türkei darf auch der Westen
folgende Realität nicht außer Acht lassen: Kurdistan ist nicht das alte
Kurdistan. Die Kurden sind nicht wie die alten Kurden. In der
demokratischen öffentlichen Meinung des Westens wird der kurdische
Befreiungskampf mit wachsendem Interesse wahrgenommen.
Es ist bekannt, daß die Gedanken in diesem Artikel von einigen
internationalen Gremien auf "Bitten des türkischen Staates" von den
türkischen Straforganen als "Unterstützung des Terrorismus" bewertet
werden. Daher müssen die Begriffe "Terror", "terroristisch", "Nationale
Befreiungsbewegung" nochmals neu diskutiert werden. Wir haben
versucht, die Definition für "Terrorismus", "Terror" oben darzulegen.
Was sonst ist "Terror" wenn nicht im Rahmen der Definitionen, die wir
dargestellt haben. Aber diejenigen, die den Staatsterrorismus außer Acht
lassen, die ihn leugnen und somit den Staatsterrorismus legitimieren,
sagen nur, wenn sie in die Enge getrieben werden, daß sie gegen jede Art
von Terror seien. Diese Aussage ist inhaltsleer. Diejenigen, die solche
Aussagen machen ohne den Terror zu begreifen, werden nicht in der Lage
sein, gegenüber dem Terror Lösungen zu entwickeln und sie in die Tat
umzusetzen.
Und die Kurden sind mit einem Staatsterror konfrontiert, der sich stetig
intensiviert hat und von der Konterguerilla umgesetzt wird. Seit mehr als
70 Jahren sind sie diesem Staatsterror ausgesetzt. Und er dauert noch
immer an. Bis 1980 haben sich die Kurden gegenüber diesem Staatsterror
gebeugt, gegenüber den Grausamkeiten geschwiegen. Durch ihn wurden
sie erniedrigt. Sie wurden dadurch unzeitgemäße Sklaven und fühlten sich
minderwertig.
Der Kampf unter der Führung der PKK ist zeitgenössisch, denn sie
kämpfen gegen eine ungerechte Unterdrückung. Sie kämpfen gegen den
Staatsterror.
Ismail Besikci
Anmerkungen:
(1) Im Rahmen der türkischen nationalistischen Geschichtsinterpretation
wurden extreme Theorien des sprachlichen Nationalismus entwickelt.
Eine dieser Theorien, die Sonnen-Sprach-Theorie, betont die Idee, daß
Türkisch die erste gesprochene Sprache in der Entwicklung der
Menschheit war.
|