|
Mustafa Özülker, geboren im Jahre 1970, war Offizier
der türkischen Armee und geriet verletzt in
Kriegsgefangenschaft. Er wurde, wie auch weitere in
Gefangenschaft geratene türkische Soldaten, gemäß
den in den Genfer Konventionen zum Schutze
kriegsgefangener Kombattanten festgelegten Bedingungen
durch die ARGK versorgt. Er sollte freigelassen werden,
entschied sich jedoch dafür, nicht in die Türkei
zurückzukehrenund lebt seit einigen Monaten in Europa.
Wir haben mit ihmein Interview über seine Erlebnisse
und Erfahrungen geführt.
Können Sie sich kurz vorstellen?
Ich heiße Mustafa Özülker und stamme aus Aydin. 1993 wurde ich als
Reserveoffizier zum Militär einberufen. In Isparta/Egridir erhielt ich
eine dreimonatige Ausbildung. Anschließend wurde ich per
Losverfahren in die Kreisstadt Beytüssebap bei Sirnak verlegt.
Insgesamt habe ich 14 Monate als Reserveoffizier gedient. Im 14.
Monat wurde ich am 4. September 1994 bei einem Gefecht mit der
PKK verletzt, und einen Tag später auf dem Gefechtsfeld von den
PKK-Guerillas aufgegriffen.
Können Sie uns die Bedeutung der Armee und des Militärdienstes in
der Türkei darstellen?
Die Auffassung in der türkischen Gesellschaft über die Armee und
dem mit ihr verbundenen Staat ist falsch und verzerrt. In erster Linie
ist dies mit der Lebensform der Türken zu begründen, die sie in der
ersten Zeit ihres Aufenthaltes in Mittelasien führten. Zudem hat die
Annahme des Islam, sein Eroberungscharakter und der später
gegründete Staat die Begriffe wie Staat, Armee und Soldat in einer
bestimmten Weise bei den Menschen geprägt. Die Verklärung des
Staates als heilig und väterlich spiegelt sich in Sprichwörtern wie:
“Der Finger, der vom Staat abgehackt wird, tut nicht weh.- Der Staat
ist immer im Recht, er ist groß.”, wider. Die Auffassung der Menschen
in Europa oder anderen demokratischen Ländern vom Staat als
solchem ist eine andere. In diesen Ländern stellt der Staat eine
Vermittler-Institution dar, die sich nach den Bedürfnissen der
Bevölkerung richtet und diese so gut wie möglich erfüllt. In demselben
Maße wie die Institution Staat übertrieben aufgefaßt wird, wird auch
die Armee bewertet. Die Ansicht über die Armee ist sogar noch
übertriebener und verzerrter. Der Militärdienst wird als Dienst für das
Vaterland oder die Ehre aufgefaßt. In diesen Irrtum verfällt man, da
man glaubt, der Religion und dem Islam mit dem Militärdienst zu
dienen. Das ist vielleicht für die Vergangenheit, bevor die Türkei von
den imperialistischen Ländern besetzt wurde, zutreffend. Damals ist
der Militärdienst tatsächlich noch für das eigene Volk und Land
gewesen. Aber die heutige Definition vom Dienst für den Staat und die
Armee ist von einer Schuld gegenüber dem Volk und Land bestimmt.
Meiner Meinung nach verübt jeder, der in diesem Militär dient, Verrat
am eigenen Volk. So wird in den größten Teilen der Türkei das
Absolvieren des Militärdienstes gleichgesetzt mit der "Mannwerdung".
Viele Familien geben ihre Töchter einem, der nicht seinen
Militärdienst geleistet hat, nicht zur Ehefrau, da diese Männer keinen
gesellschaftlichen Respekt genießen.
Folgendes habe ich beim Militär erkennen müssen: Ein Mensch, der
bei der türkischen Armee ist, egal in welcher Position, ob als normaler
Soldat oder als Offizier, ist gezwungen, von seiner Würde, seiner
Persönlichkeit, seiner Menschlichkeit und von seinen Einstellungen
Abstand zu nehmen. Es ist also unmöglich, seine vorhandene Würde
aufrechtzuerhalten. Wenn wir das Leben und die Weltanschauungen
von jemanden vor seinem Militärdienst mit Kleidungsstücken
vergleichen, so muß dieser Mensch während des Militärdienstes all
diese Kleider ablegen und die des Militärs anziehen. Man ist also
gezwungen, die Anschauungen und die Lebensform der Armee zu
verinnerlichen. Es mag sein, daß man für eine kurze Zeit gegen diese
aufgezwungene Lebensform Widerstand leisten kann. Der Mensch
wird aber Unterdrückung und Isolation ausgesetzt sein, und schließlich
doch zu einem Teil des Systems werden. Daher kann man sagen: Der
Dienst für das türkische Militär bedeutet ein unwürdiges Leben zu
führen;. Um es verstehen zu können, muß man es erlebt haben.
Es herrscht ein Verständnis von der Armee, wie es dem in
demokratischen Ländern entgegengesetzt ist. Das Volk ist lediglich
eine Maschine, die die Armee mit Soldaten versorgt. Die Armee muß
für das Volk und für seine Sicherheit funktionieren und nicht vom
System gegen sie eingesetzt werden. Dieser Faktor wird vor allem bei
den StudentInnen-Aktionen ersichtlich. Denn die StudentInnen, aber
auch die Angestellten und Beamten, werden von ihren eigenen
Brüdern geschlagen. Die Armee steht jeder Form von
gewerkschaftlich-demokratischer Bewegung gegenüber. Sowohl das
kurdische als auch das türkische Volk werden durch Menschen ihres
Volkes von ihren demokratischen Forderungen abgebracht. Seit Jahren
betreibt die Türkei eine Politik mittels der Taktik der Imperialisten:
”Hetze die Menschen gegeneinander auf!”
Wie bewerten Sie die Psyche eines Soldaten als jemand, der selbst in
Kurdistan als Reserveoffizier tätig war?
Es ist unmöglich, daß ein Mensch während seines Militärdienstes seine
alte Persönlichkeit beibehält. In der letzten Zeit hören wir immer
wieder: Mehmetcik-Zeitung, Mehmetcik-Presse oder Mehmetcik-
Politik(1). Heute denkt sogar ein Zivilist in der Türkei wie ein Soldat.
Durch die Propaganda entwickeln die Menschen eine verzerrte
Wahrnehmung von der PKK, dem kurdischen Volk, dem türkischen
Volk und zuletzt von sich selbst. Es gibt offizielle Aussagen in denen
erklärt wird: “Die Kurden sind Türken, Bergtürken.” oder über die
PKK: “Sie sind Nachfolger der ????. Sie sind Armenier. Sie handeln
mit Drogen und schlachten Kinder und Frauen ab. Ihr Ziel ist die
Teilung der Türkei." Den Menschen wurde also diese Antipropaganda
bereits vor ihrer Militärzeit ins Bewußtsein eingehämmert. Während
des Militärdienstes wird sie noch ein wenig intensiviert und
systematisiert. Nach dem türkischen Standard sind wir gebildeter und
Kandidaten für die Intelligenz, folglich nicht so leicht anzulügen und
zu beeinflussen. Daher war ihre Annäherung uns gegenüber
überdachter und systematischer. Unsere Ausbilder hatten in Amerika,
Frankreich und anderen europäischen Staaten spezielle Lehrgänge
absolviert, wobei sie sich auf die menschliche Psyche spezialisiert
haben. Wenn ich mir vor Augen führe, wie sie uns unterrichtet haben,
so muß ich sagen, daß sie uns mit ihren Vorträgen geistig überzeugen
konnten. Die Aussagen, die sie uns nahebrachten, stellten sich später
alle als falsch heraus. Sie erzählten uns die bekannten Sachen über die
PKK und führten Videos vor, auf denen angeblich durch die PKK
verübte Morde dargestellt wurden. Diese Aufnahmen beeinflußten uns
damals sehr. Wir sagten uns: “Wer in der Lage ist, solche Massaker zu
verüben, der verdient zweifelsohne die gleiche Behandlung.” Welche
Bedeutung hatte dies? Daß heute türkische Soldaten Kurden die
Ohren, Nasen, Häupter abschneiden, ist demzufolge angemessen. Der
Grund für die in Kurdistan praktizierten Grausamkeiten ist in der
Ausbildung zu suchen. Sie machen aus Menschen Tiere. Ein Offizier
sagte einmal während des Unterrichts: “Ihr werdet hier Eigenschaften
an euch entdecken, die ihr bis heute noch nie in euch vermutet habt.”
Damals konnte ich dem noch keinen Sinn geben. Aber im nachhinein
weiß ich, welche Eigenschaften er meinte. Sie haben die tierischen
Eigenschaften in jedem von uns zum Vorschein gebracht. Sie haben
die Menschen dazu gebracht am Töten, am Krieg und am Blut
Gefallen zu finden, oder dem gleichgültig gegenüber zu stehen.
Damals erachtete ich es für normal. In der dreimonatigen Ausbildung
haben sie unsere gesamten zivilen Gedanken vernichtet. Nach der
Ausbildung bekam ich Urlaub und fuhr zu meiner Familie. Ich habe
die Gesellschaft, meine Freunde und auch meine Familie anders als
vorher betrachtet. Wir verstanden uns besser mit unseren Kameraden
und sehnten uns nach ihnen. Dies trifft für alle Armeeangehörigen zu.
Offiziere und Unteroffiziere können meist nicht mit Zivilisten
auskommen. Sie halten sich lieber an militärischen Orten auf und
kommunizieren lieber mit Soldaten. Damals vermittelten sie uns
folgendes: “Ihr seid Angehörige der Armee. Ihr seid Auserwählte und
daher nicht mit Zivilisten zu vergleichen.” Die Macht, die wir erhalten
hatten, stachelte uns auf. Wir waren irgendwann so weit, daß wir total
streitsüchtig wurden und am Krieg und an Befehlen Gefallen fanden.
Die türkische Presse thematisiert in der letzten Zeit das "Vietnam-
Syndrom". Auf was führen sie das zurück?
Diese psychologische Krankheit tritt nicht nur in der Türkei, sondern
in allen Armeen der Länder, die einen Krieg führen, auf. Der Krieg hat
spezifische Eigenschaften, die der Verstand normaler Menschen, also
Zivilisten, nicht ertragen und nachvollziehen kann. Zu diesen
Eigenschaften gehört das Blut, die Gewalt und der Tod. Die Psyche
der Menschen, egal ob sie eine intensive militärische Ausbildung
erhalten haben oder nicht, wird durch den Krieg deformiert. Dies wird
vor allem bei den Offizieren und Unteroffizieren erkennbar. Man kann
sagen, daß sie Psychopathen sind und ihre menschlichen Eigenschaften
verloren haben. Der Krieg in Kurdistan hat seine eigenen spezifischen
Bedingungen, die folglich auch spezifische psychologische Schäden
mit sich bringen. Welcher Art sind diese? Die türkische Armee führt
anstelle eines konventionellen Armeekrieges einen Anti-
Guerillakampf. Ein Guerillakrieg wirkt sich auf die Psyche eines
Menschen anders aus. Die türkische Armee befindet sich immer in
einer abwartenden Position. Das beeinflußt die Psyche der Menschen
sehr. Sie erwarten jederzeit einen Angriff, befürchten ständig
angeschossen zu werden und erwarten ihren Tod. Sie gewöhnen sich
daran, mit diesen Fragen zu leben.
Ein Mensch, der sich ständig diese Fragen stellt, trägt unausweichlich
große psychische Schäden davon. Die psychischen Schäden
derjenigen, die an Kriegshandlungen aktiv beteiligt waren, haben
natürlich eine andere Dimension. In der Armee gibt es Menschen, die
von ihren Vorgesetzten geschlagen, gefoltert, erniedrigt und zum
Dienst gezwungen werden. Dies wirkt sich anders auf die Menschen
aus. Wenn ein Mensch ein wenig Würde hat, gefühlvoll ist, also
menschliche Eigenschaften besitzt, ist es sehr schwierig, durch diese
Annäherung seine psychische Stabilität aufrechtzuerhalten. Die Psyche
anderer wird durch aktive Kampfhandlungen beeinträchtigt. Es wirkt
sich in unterschiedlichen Dimensionen aus. Diese psychische
Krankheit wird in der türkischen Armee als ”Sirnak-Syndrom”
bezeichnet, da in dieser Region der Krieg am intensivsten geführt wird
und der Guerillakampf hier am stärksten ist. In Sirnak gehören
Militärgefechte, Panzer und Helikopter zum Alltag. Die Menschen
sind täglich in Kampfhandlungen verwickelt. Töten, getötet zu werden,
Blut und zerfetzte Menschen zu sehen ist in dieser Region für die
Soldaten der Normalzustand. Weil die Begrifflichkeiten wie "normal"
oder "anormal" nach dem vorherrschenden Verständnis der Mehrheit
definiert und bestimmt werden, so werden auch die anormalen
Bedingungen und Situationen in der Armee, wo die Mehrheit nicht
mehr normal ist, zur Normalität. Nach seiner Entlassung befindet sich
der Soldat wieder im zivilen Leben und wird hier sofort zum
Anormalen. Das Verhalten und die Lebensformen im zivilen Leben
sind anders. Man assoziiert Geräusche wie zum Beispiel das Rattern
einer Straßenbaumaschine automatisch mit Schüssen. Auch ich erlebe
das. Vor kurzem saß ich in einem Park und ein ganz normaler
Helikopter flog in der Luft. Für einen Moment habe ich ihn für einen
Militärhelikopter gehalten und mich wie im Kriege gefühlt.
Was sind die spezifischen Eigenschaften des türkischen
Spezialkrieges?
Der Spezialkrieg benutzt für seine Politik eine Vielzahl von
Institutionen wie die Presse, das Bildungswesen u.a.. Seit dem Beginn
des Befreiungskampfes der PKK setzt er diese noch stärker ein. Er gibt
der Musik mehr Gewichtung und instrumentalisiert sie für seine
Politik. Damit beabsichtigt er, die Jugend von der Politik fernzuhalten,
sie zu apolitischen und desinteressierten Menschen zu machen. Er
bietet zu diesem Zweck einigen die Musik, anderen den Sport, vor
allem Fußball, an. Gemäß der Taktik des Spezialkrieges wird ein
breiter Interessensbereich der Jugendlichen abgedeckt. In einer
Situation, in der die Menschen Überlebensprobleme haben, ihren
Unterhalt nicht finanzieren können und arbeitslos sind, versucht er mit
dem Fußball die Menschen von ihren Problemen abzuwenden und den
Chauvinismus in der Bevölkerung zu schüren. Das ist nur eine
Methode des Spezialkrieges.
Die Türkei besitzt im Spezialkrieg langjährige Erfahrung. Sie profitiert
aus den Erfahrungen und Ergebnissen des Vietnamkrieges der
Amerikaner und anderen imperialistischen Staaten. Sie hat auf dieser
Grundlage den Spezialkrieg weiter entwickelt. Sie kann ohne weiteres
durch einige Vorfälle die Tagesordnung zu ihren Gunsten verändern
und ist hierbei sehr erfolgreich. Es sieht so aus, als hätte sich die
Türkei den Spezialkrieg von Franco zum Vorbild gemacht. Sie setzt
die Regel der drei "F" um: “Fußball, Fiesta und Fuhus (Prostitution)."
Somit degeneriert sie die Gesellschaft. Eine apolitische und verfaulte
Gesellschaft ist die Folge.
”WIR BRINGEN DIE MENSCHEN NICHT UM!”
Können Sie uns den Moment ihrer Kriegsgefangenschaft schildern?
Was haben Sie in diesem Moment gespürt?
Wir waren für zehn Tage außerhalb unserer eigentlichen Region. Die
Region heißt Kela Meme. Unsere übliche Kampfregion hieß
Beytüssebap. Ich war in einem Dorf tätig, das einem Oberdorfwächter
namens Tahir Adiyaman unterstand. In dieser Region hatten sehr viele
Soldaten aus Uludere ihr Leben gelassen, wovon man uns im Militär
nicht in Kenntnis gesetzt hatte. Später habe ich diese Information von
den Guerilleros erhalten. In der Nähe eines Baches wurden bis zu 100
Soldaten getötet. Ihre Erkennungsmarken und Dokumente wurden
mitgenommen. Dies wurde uns ebenfalls vorenthalten. Ich denke, daß
wir aufgrund dieses Vorfalls dorthin verlegt wurden. Unser
Bataillonskommandeur hatte die Dorfwächter mit folgenden Worten
kritisiert: “Ihr habt es nicht geschafft, aber wir werden die PKK dort
vernichten!” Dies war ebenfalls einer der Gründe für diese Aktion.
Wir hatten von all dem keine Ahnung und dachten, es handele sich um
eine Routineoperation. Insgesamt belief sich unsere Truppe auf eine
Stärke von 150 Personen. Von diesen 150 waren 50 Dorfwächter aus
der Region. Am zweiten Tag der Operation begegneten wir der
Guerilla. Wir hatten ihre Späher entdeckt und wollten sie umzingeln.
Jedoch war die Zahl der Guerilla größer als wir erwartet hatten. Wir
waren von 8 - 10 Guerilleros ausgegangen. Später erfuhr ich, daß ihre
Zahl fast 150 betrug. Da einen Tag zuvor ein Luftangriff stattgefunden
hatte, gingen sie davon aus, daß eine starke Militäroperation
stattfinden würde. Daher stationierten sie ihre Einheiten an strategisch
wichtigen Punkten. Nun waren wir es selbst, die eingekesselt wurden.
Also begann das Gefecht an diesem besagten zweiten Tag unserer
Operation und dauerte einen Tag an. Am Abend zog sich der Kreis um
uns noch enger zusammen. Unsere Gruppe teilte sich. Es kam zu
einem Chaos: Die Guerilla, die Dorfwächter und die Soldaten liefen
durcheinander. In diesem Moment wurde ich durch die Splitter einer
Bombe verletzt. Ich lag halb bewußtlos am Boden. Einer der Soldaten
versuchte mich in Sicherheit zu bringen, doch ich denke er wurde
selber getroffen. In einem Zustand der Trance schaffte ich es das
Gefechtsfeld zu verlassen. Ich trug nur eine Handgranate und ein
beschädigtes Funkgerät bei mir. In der Militärausbildung hatte man
uns eingeschärft, bei solchen Vorfällen von der Handgranate Gebrauch
zu machen und sich zu töten, um nicht in die Hände der Guerilla zu
fallen. Auch wir lehrten es den Neuankömmlingen in der Ausbildung:
“Laßt euch nicht gefangennehmen. Falls sie euch erwischen sollten,
werden sie euch foltern und eure Genitalien abschneiden. Bringt euch
auf jeden Fall selber um!” So griff ich automatisch nach der
Handgranate. Mein rechter Arm war verletzt. Ich löste den Bolzen von
der Granate. Plötzlich hörte ich Geräusche. Die Guerilla näherte sich
mir. Ich überlegte mir, ob ich die Bombe bei ihrer Ankunft lösen
sollte. Dann hätte ich die Möglichkeit auch einige von ihnen zu töten.
Auch dachte ich daran, ihnen die Bombe einfach entgegen zu werfen.
Während dieser Gedankengänge schob ich den Bolzen wieder halb
hinein und sie fiel mir aus der Hand. Es war Nacht und es regnete. Die
Guerilla zog sich zu ihrer Position zurück. Ich hob meine Handgranate
wieder auf. “Sie werden auf jeden Fall noch einmal zurückkommen”,
dachte ich und wollte sie dann zum Einsatz bringen. Meine Augen
waren ebenfalls verletzt und ich verlor sehr viel Blut. Je mehr Blut ich
verlor, desto tiefer viel ich in einen Dämmerzustand und fühlte mich
kraftlos. Ich fror und zitterte am ganzen Leibe. Bis zum Morgengrauen
lief mein ganzes Leben vor meinen Augen ab. Man kann es nicht
glauben, während der ganzen Ausbildung impfte man uns ein hohes
Selbstbewußtsein ein. Doch es war nur ein provisorisches
Selbstbewußtsein. Ich dachte niemals, daß mir so etwas passieren
würde. Wie konnte ICH verwundet werden? Während ich da lag,
dachte ich über mein Leben nach, dachte ich an meine Familie und
meine Freunde. Im Morgengrauen konnte ich die Sonnenstrahlen nur
schwach aufnehmen. In der Hoffnung, von den Soldaten entdeckt zu
werden, erhob ich mich langsam und machte ein paar Schritte. Ich
konnte nichts sehen, hörte aber Stimmen: “Heb deine Hände hoch und
stelle dich.” Meine Hände hatte ich in meine Hosentaschen gesteckt. In
der linken Hand hielt ich die Handgranate. Ich konnte zwar die
Stimme hören, war aber immer noch benommen. Dann kamen sie auf
mich zu und nahmen alle Gegenstände an sich, die ich trug. “Bringt
mich um. Ich kann weder laufen noch etwas sehen. Ich werde euch
nichts sagen und bin für euch nicht von Nutzen!” schrie ich ihnen zu.
Ich war der Meinung, daß sie Informationen von mir verlangen
würden.
Einer der Guerilleros sagte: “Wir bringen keine Menschen um.” Das
hat mich irritiert. Ehrlich gesagt, war ich nicht in der Lage, mir über
diese Aussage weiter Gedanken zu machen. Sie versuchten ständig,
mir moralisch beizustehen. “Mach dir keine Sorgen.”, sagten sie, “Du
wirst von uns behandelt werden. Wir bringen dich zu einem Arzt. Dort
hast du die Möglichkeit, deine Familie telefonisch zu erreichen, um
mit ihnen zu sprechen. Wir werden dich nach Südkurdistan bringen.”
Ich wiederholte jedoch immer wieder, daß sie mich umbringen sollen.
Ich war immer noch davon überzeugt, daß sie mich foltern würden.
Vor Angst, der Folter ausgesetzt zu werden, bat ich sie immer wieder,
mich umzubringen. Doch sie sagten erneut, daß sie dies nicht
vorhätten. Ich teilte ihnen mit, daß mir kalt sei. Daraufhin brachten sie
mich in eine ihrer Stellungen und gaben mir eine Decke. Das Gefecht
begann erneut. Als es hell wurde, flogen über uns Cobra-
Hubschrauber. Die Stellung, wo ich mich befand, war eins der Ziele,
die unter Beschuß standen, woraufhin sie mich in Sicherheit brachten.
Ein Guerilla-Sanitäter hielt mich fest und stützte mich. Alles kam mir
wie ein Alptraum vor. Er hatte eine Spritze in der Hand und das Erste
was ich vermutete, war, daß sich in der Spritze Heroin oder irgendeine
andere Droge befand. Ich dachte, sie würden mir Drogen verabreichen,
um von mir Informationen zu bekommen und mich foltern. Der
Sanitäter sagte “derzi” (Spritze). Ich verstand ihn nicht und versuchte,
mich zu widersetzen. Doch ich hatte keine Kraft. Später erfuhr ich,
daß es sich um ein Mittel für Blutstillung gehandelt hatte. Der
Sanitäter konnte kein türkisch, daher brachten sie mich zu einem
anderen Sanitäter, der mehr von der Sprache und der Medizin
verstand. Er reinigte meine Wunden und verband sie. Währenddessen
sprach er sehr viel über die Partei. “Die Partei ist nicht so, wie ihr
denkt.” sagte er und versuchte mich moralisch aufzubauen. Nachdem
wir einige Tage in dieser Region umherliefen, brachte man mich nach
Südkurdistan.
Was hat sich in Ihrem Leben in der Zeit Ihres Aufenthaltes bei der
Guerilla verändert?
Das Bild von der PKK, was uns im Militär beigebracht wurde,
unterscheidet sich sehr von der Realität. Wie sie leben und die Art
ihrer Beziehung zueinander irritierte mich. Ich hatte eine ganz andere
Auffassung von ihnen: Sie würden Drogen nehmen, foltern und noch
weitere negative Eigenschaften besitzen. Später habe ich die Partei, sei
es durch Angehörige der Partei oder die Bücher, erst richtig
kennenlernen können. Die Propaganda des türkischen Staates stimmt
nicht. Ich konnte die Realität erleben. Von diesem Moment an wußte
ich, daß die eigentlichen Gefangennahmen, Beleidigungen und
Folterungen im türkischen Militär stattfanden. Uns hatte man im
Militär immer verbal beleidigt. Die einfachen Soldaten verprügelte
oder beleidigte man auf die unmöglichste Weise. Diese Art des
Militärs habe ich bei der PKK nicht erlebt und das hat mich sehr
positiv überrascht. Obwohl ich dem türkischen Militär gedient habe,
mußte ich mich von türkischen Offizieren in meiner Dienstzeit
beleidigen lassen. Obwohl gefangengenommen durch die Seite, die ich
bekämpft hatte, behandelten sie mich viel humaner. Das ließ
unweigerlich Fragezeichen in meinem Kopf entstehen.
Welche Vorkommnisse haben Sie in der Zeit ihrer Gefangennahme
innerhalb der PKK erlebt? Welche Punkte haben Ihre Sichtweise
verändert und welche Sie beeinflußt?
Zwei Tage nach meiner Gefangenschaft habe ich einen Schulfreund
getroffen. Das hatte mich sehr überrascht. Wir waren sehr vielen
Gefechten ausgesetzt. Er kam eines Tages zu dem Stützpunkt, wo ich
mich befand. Wir haben uns begrüßt und er meinte, daß er mich
kennen würde. Ich dachte, ich träume, denn ich hatte ihn ebenfalls
erkannt. Wir waren gemeinsam auf einer Schule, er studierte damals
eine Stufe unter mir. Ihn innerhalb der PKK anzutreffen, erstaunte
mich, denn daß ein Student in die PKK gehen könnte, irritierte mich.
Vorher hatte ich keinerlei Informationen über die PKK gelesen, es
interessierte mich nicht. Natürlich hat das Wiedersehen an diesem
zweiten Tag bei mir sehr große Verwunderung ausgelöst. Er hat mich
über die PKK informiert.
Es gibt dort sehr viele Dinge, die einen beeindrucken: Die Art der
Verhaltensweise, ihre Beziehungen zueinander und die Beziehungen
zwischen Ranghöheren und Gleichrangigen. Ebenfalls beeindruckend
war die Beziehung zu den Frauen innerhalb der Guerilla. Die Art wie
sie leben, wie sie ihr Brot backen, wie sie hausen, wo sie schlafen und
unter welchen Umständen sie kämpfen, die Art ihrer Ausbildung.
Einfach alles war eindrucksvoll. Ihr Leben und ihr Wille zum Kampf
hat mich sehr überrascht. Ich fühlte mich in irgendeiner Weise
schuldig. Ich begann mich zu kritisieren, warum ich gegen die PKK
kämpfen konnte, warum ich dies alles nicht schon vorher beobachtet
hatte und dies alles nicht schon zu meiner Schulzeit gesehen habe. Zu
der Zeit hatte ich die Möglichkeit gehabt, Kurden kennenzulernen.
Daß dieses Volk anders war, hatte ich zwar begriffen, aber die PKK
hatte ich anders eingeordnet. Daß die Kurden unterdrückt wurden, daß
sie arm waren und arm gelassen wurden, daß man ihnen ihre Rechte
verweigert und daß sie eine andere Sprache haben, war uns bewußt.
Doch die PKK ordneten wir in eine andere Kategorie ein. In meiner
Einheit waren Soldaten aus verschiedenen Schichten. Auch sie dachten
wie ich. Es gab z.B. einen stellvertretenden Kommissar, der in
Gayrettepe in der Abteilung zur Terrorbekämpfung eines
Polizeipräsidiums tätig war. Später absolvierte er mit uns als
Ersatzoffizier seinen Militärdienst. Dabei waren noch ein Freund von
den Dev-Genc (Revolutionäre Jugendliche) und andere, bei denen
religiöse Gedanken dominierten. Wie gesagt, Menschen aus
verschiedenen Kreisen. Wir diskutierten, kritisierten und stritten uns
untereinander. Wir hielten uns für Demokraten und für Leute, die sich
für den Sozialismus interessieren. Mit dem stellvertretenden
Kommissar diskutierten und stritten wir uns am häufigsten. Wir
kritisierten ihn, daß er Menschen foltern würde. Aber sobald die
Diskussion um die PKK ging, waren wir uns einig. Auch wenn wir uns
über das Unrecht, was den Kurden widerfuhr, einig waren, hielten wir
zusammen gegen die PKK. Eigentlich waren wir von der
sozialistischen Idee nicht weit entfernt. Es gibt viele Menschen in der
Türkei, die mit uns diese Gedanken teilen, die auf der Suche sind, um
eine Lösung zu finden und die die momentane Situation der Türkei
kritisieren. Ich war zwar nicht in einer Organisation tätig, jedoch
beschäftigte ich mich mit der sozialistischen Ideologie und informierte
mich des öfteren darüber. Im Endeffekt herrschen bei den türkischen
Linken - eine traditionelle Herangehensweise - die gleichen Probleme.
So sozialistisch sie auch sein mögen, viele leisten Widerstand gegen
die PKK. Das habe ich erst sehr spät begriffen. Die einzige
Organisation, die den Sozialismus noch vertritt, den
wissenschaftlichen Sozialismus weiterentwickelt, ist die PKK.
Natürlich konnten wir das über diese Organisation nicht wissen, da wir
uns nicht mit ihr auseinandergesetzt hatten. Wir hatten folgende
Leitsätze: Wir sind zwar sozialistisch orientiert, aber zugleich auch
Kemalisten. Wir weichen nicht von der kemalistischen Ideologie ab,
nennen uns aber Sozialisten. Diese beiden Begriffe können aber
unmöglich im gleichen Kontext stehen. So war unsere Lage zu
bewerten. Als ich die PKK richtig kennengelernt hatte, kamen bei mir
die ersten Entwicklungen zustande. Ich habe das Fundament und die
Sympathie in mir entdeckt. Ich hatte keine Mühe gehabt, die
Organisation kennenzulernen oder mich einzugliedern. Ich wünsche
mir, daß sehr viele Menschen die Möglichkeiten ergreifen würden, die
PKK kennenzulernen und sie zu begreifen. Gäbe es in der Türkei
legale Möglichkeiten, könnte die PKK sich mit Leichtigkeit vorstellen
und die Menschen hätten die Möglichkeit, die PKK kennenzulernen.
Dann wäre der Krieg schon längst beendet. Weil das Regime sich
dessen bewußt ist, bekämpft es die PKK und ihre Ideologie mit aller
Härte. So hindert es die HADEP oder ähnliche Organisationen daran,
die Menschen zu informieren und aufzuklären. Würde das türkische
Regime der PKK die Chance geben, sich den Menschen vorzustellen,
würde das bedeuten - und das ist die Realität -, daß sie sich den Strick
um den eigenen Hals legen. Sie wissen ganz genau, daß das Volk die
PKK unterstützen würde.
Möchten sie an dieser Stelle den Menschen aus der Türkei eine
Botschaft übermitteln?
Ich habe die Hoffnung entweder über eine offene Podiumsdiskussion
oder über die Medien die Menschen zu informieren. Das war bis heute
nicht möglich, da sie aus Angst den Weg hierfür versperrt haben. Sie
fürchten sich davor, daß die Wahrheit zur Sprache kommt, daß ihre
dreckige Wäsche zum Vorschein gebracht wird und das Volk
Sympathien für die PKK entwickelt. Während unseres Aufenthaltes
bei der PKK hatten wir zwar die Möglichkeit, mit der türkischen
Presse und Fernsehsendern zusammenzukommen, jedoch hat keiner
von ihnen unsere Stellungnahmen gesendet, wofür es natürlich Gründe
gibt. Die Strafen für das Veröffentlichen dieser Gedanken sind hoch,
und daher möchte es keiner riskieren. Es gibt vieles zu berichten, und
es wäre zweifelsohne wichtig darzustellen, wie die türkische Armee
arbeitet, wem dieser Krieg nutzt, wer aus welchen Gründen in diesem
Krieg ermordet wird. Es ist auch notwendig die PKK darzustellen, und
ich möchte Wege suchen, um dies zur Sprache zu bringen, da ich es
als meine Verantwortung ansehe. Ich bin bereit, alles in meinen
Möglichkeiten stehende für die Beendigung des Krieges zu tun. Das
bin ich sowohl dem türkischen als auch dem kurdischen Volk schuldig.
Anmerkungen
(1) Mehmetcik ist in der Türkei eine umgangssprachliche Bezeichnung
des Soldaten.
|