Ich bin aus einem sehr nahen, zugleich aber auch sehr weit entfernten
Land hierher gekommen. Nah, denn Sie können mein Land in einigen Stunden
erreichen. Aber auch sehr weit entfernt, denn dort ist die Ungewißheit
darüber, was einem morgen zustoßen kann, alltäglich. Ich
habe Ihnen von dort die Grüße einer Gruppe hartnäckiger
Menschen mitgebracht, die sich in Istanbul seit anderthalb Jahren für
die „Verschwundenen“ einsetzen, Grüße von den „Samstagsmenschen“.
Der Kampf der Samstagsmenschen dauert jetzt anderthalb Jahre; das Phänomen
der „Verschwundenen“ ist jedoch nicht neu in der Türkei. Schon 1925
ist der Bruder Mehmet Bozisiks, des ältesten Kommunisten der Türkei,
der sich an unseren samstäglichen Sitzaktionen vor dem Istanbuler
(Galatasaray-) Gymnasium beteiligt, im Polizeigewahrsam „verschwunden“
und nie wieder aufgetaucht. Ali Kayahan ist am 6. Februar 1973 „verschwunden“.
Hüseyin Morsümbül und Nurettin Yedigöl sind nur zwei
von vielen, die seit dem Putsch von 1980 unter der Militärdiktatur
„verschwanden“.
Das Phänomen der in Polizeigewahrsam “Verschwundenen“ mit seiner
so langen Geschichte ist durch die Samstagssitzaktionen endlich auch an
die gleichgültige, stumme Öffentlichkeit im Westen der Türkei
gelangt. Der mutige Kampf der Angehörigen von Hasan Ocak, der am 21.
März 1995 festgenommen wurde und dessen von Folterspuren gezeichneter
Leichnam 55 Tage später auf dem Friedhof für Menschen ohne Familie
aufgefunden wurde, hat ein Feuer entfacht. Mit der Familie Hasan Ocaks
zusammen haben wir, eine Gruppe von MenschenrechtlerInnen, am 27. Mai 1995
auf dem historischen Galatasaray-Platz in Istanbul eine stumme Protestaktion
begonnen, die jeden Samstag eine halbe Stunde dauert.
Am häufigsten und auf die grausamste Art „verschwinden“ Menschen
in dem Gebiet der Türkei, in dem seit 12 Jahren der Ausnahmezustand,
d.h. kriegsähnliche Zustände herrschen. Dort werden Menschen
nicht wie im Westen des Landes einzeln oder zu zweit, sondern zu fünft,
zu zehnt festgenommen und verschwinden dann im Polizeigewahrsam. Die Leichen
von einigen werden nach einer gewissen Zeit in Straßengräben,
in stillgelegten Brunnen, in Bächen oder auf Müllhalden gefunden.
Vom Schicksal anderer erfährt man monate-, jahrelang kein Sterbenswort,
von manchen hört man nie mehr.
Die Geschichten der Verschwundenen ähneln sich. Die Menschen werden
– meist im Beisein von Zeugen – von zu Hause, vor ihrer Haustür, von
der Straße, vom Dorfplatz, vom Feld abgeholt und weggebracht – in
den Großstädten von zivil gekleideten, aber mit Funkgerät
und Waffen ausgestatteten, im Ausnahmezustandsgebiet von uniformierten
Sicherheitskräften. Die Angehörigen wenden sich daraufhin an
die örtlichen Verantwortlichen. Die Antwort, die sie erhalten, ist
immer die gleiche: „Er/sie ist nicht bei uns.“ Von manchen der auf diese
Weise „Verschwundenen“ erhält man monate- und jahrelang keine Nachricht,
von anderen werden nach einigen Wochen oder Monaten nur noch die von Folterspuren
gezeichneten Leichen gefunden.
Nach inoffiziellen Zahlen sind in der Türkei seit 1990 insgesamt
827 Menschen im Polizeigewahrsam, in der Untersuchungshaft „verschwunden“.
Im Laufe dieser Jahre ist eine enorme Steigerung zu verzeichnen: Waren
es in den Jahren von 1990 – 1994 noch 48 Verschwundene, so wurden 1994
328, 1995 298 und in den ersten neun Monaten des Jahres 1996 153 Menschen
als „verschwunden“ gemeldet. Der wichtigste Punkt jedoch ist, daß
diese Zahlen nur eine ungefähre Vorstellung von dem tatsächlichen
Ausmaß geben. Die Dunkelziffer ist sehr hoch, denn Menschen, die
einen „Verschwundenen“ melden, müssen mit Grund befürchten, bei
einer der folgenden Festnahmeaktionen Opfer derselben Maßnahme zu
werden.
Sogar auf eine so demokratische und gewaltlose Protestform, wie wir
sie praktizieren, indem wir eine halbe Stunde schweigend am Galatasaray-Platz
sitzen und anschließend eine Presse-Erklärung verlesen, wird
mit Polizeieinsätzen und -übergriffen reagiert. Vom 8. Juni an
wurde ich, und mir mir andere Samstags-Menschen, fünf Wochen lang
jeden Samstag von der Polizei mit großer Brutalität festgenommen.
Dem zum Trotz haben wir und die Angehörigen der Verschwundenen sowie
ihre Unterstützerinnen und Unterstützer versucht, andere Formen
zu finden, auf dem Galatasaray-Platz präsent zu sein. So haben wir
etwa „en passent“ zum Andenken an die Verschwundenen Nelken niedergelegt.
Wir wurden mit unseren Nelken festgenommen. Fünf Wochen lang haben
Hunderte von Polizisten samstags mitten im Zentrum von Istanbul, auf dem
Taksimplatz und in der Istiklalstraße, mit Maschinengewehren, Schutzschilden,
Gummiknüppeln und Hunden Terror verbreitet. Gerade in dieser Phase
wurde jedoch zum ersten Mal in den großen Zeitungen und in allen
Fernsehprogrammen ausführlich von den Samstagsmenschen berichtet.
Von den Medien wurden sie „Samstagsmütter“ genannt. Seither hat auch
die gleichgültige Mehrheit der Großstadtbewohner das Phänomen
der im Polizeigewahrsam Verschwundenen zur Kenntnis genommen. Verschwundene
kamen auf die Titelseiten der Zeitschriften, Lieder wurden für sie
komponiert – sie, oder wir, haben es schließlich geschafft, das Problem
öffentlich zu machen. Man kann zwar nicht vorhersagen, wie es weitergeht,
aber im Moment können wir vor dem Galatasaray-Gymnasium sitzen, ohne
daß die Polizei eingreift. Sowohl für die Angehörigen der
in Polizeigewahrsam Verschwundenen als auch für die MenschenrechtlerInnen,
die sich mit ihnen solidarisieren, bedeuten die Samstags-Aktionen sehr
viel. Fatma Morsümbül, die ihren Sohn sucht, der 1980 festgenommen
wurde und über dessen Schicksal bis heute nichts bekannt ist, sagt:
„16 Jahre lang habe ich in meinen vier Wänden geweint, Selbstgespräche
geführt, nach meinem Sohn gerufen. Jetzt geht es mir besser: Ich bin
auf die Straße gegangen und kann zu den Menschen sprechen. Ich habe
gesehen, daß es auch andere Mütter gibt wie mich, jetzt bin
ich nicht mehr alleine.“ Elif Tekin, deren Sohn in der Untersuchungshaft
verschwand, erklärt: „Ich habe erst am Galatasaray angefangen zu sprechen.
Vorher im Dorf habe ich nie in der Öffentlichkeit geredet, auch nicht
auf kurdisch. Jetzt habe ich türkisch gelernt. Jetzt spreche ich überall.“
Zu der Samstagsgruppe gehören auch Menschen, die keine im Polizeigewahrsam
verschwundenen Angehörigen haben. Für sie ist ihre allsamstägliche
Präsenz am Galatasaray-Platz eine moralische Stellungnahme und zugleich
geht es ihnen um die Verteidigung auch ihres Rechts auf Leben. Sie sagen:
“Ich schäme mich, in einem Land zu leben, in dem Menschen nach ihrer
Festnahme durch die Polizei verschwinden.“ Sie sagen, so lange man sich
nicht gegen das Verschwindenlassen wehrt, ist jeder ein wenig in Polizeigewahrsam
und jeder ein wenig verloren.
Für die Angehörigen der Verschwundenen und für uns,
ihre Unterstützer, hat die Auszeichnung durch die Internationale Liga
für Menschenrechte einen sehr hohen Wert. Sie ist ein herzlicher,
warmer Gruß Über die Grenzen hinweg, eine Botschaft der Solidarität.
Sie hat unserer Stimme Stimme und unserer Kraft Kraft verliehen. Wir glauben
auch, daß die Auszeichnung nicht nur den Angehörigen der Verschwundenen
und deren Unterstützern verliehen wird, sondern zugleich einer Form
des Widerstands gilt, der mit Beharrlichkeit und Entschlossenheit allen
Repressalien trotzt und immer wieder nach neuen Wegen sucht, sich zu artikulieren.
Diese Auszeichnung bestärkt eine Gruppe von Menschen in ihrem Recht,
vor den Augen der ganzen Öffentlichkeit, aus eigener Kraft, unverdrossen
und unermüdlich Woche für Woche zur gleichen Zeit und am gleichen
Ort das gleiche zu sagen, ohne sich abschrecken zu lassen. Die Auszeichnung
wurde einer Gruppe verliehen, die – im Gegensatz zu der stummen, die Menschenrechtsverletzungen
hinnehmenden Mehrheit – so geduldig er- und aufklärt, wie ein sehr
dünner, heikler Stoff gewebt werden muß. Wir nehmen diese Auszeichnung
mit Stolz entgegen und teilen sie mit allen Menschen auf der ganzen Welt,
die gegen das Verschwindenlassen von Menschen protestieren.
Zur heutigen Preisverleihung war auch Fatma Morsümbül eingeladen,
deren Sohn vor 16 Jahren festgenommen wurde und der seitdem vermißt
ist. Sie konnte nicht mit uns kommen. Kräfte, die die Familien der
im Krieg getöteten Soldaten gegen die Angehörigen der Verschwundenen
auszuspielen versuchen, um damit die Öffentlichkeit gegen die Samstagsmenschen
aufzubringen, haben sie besonders in letzter Zeit bei unterschiedlichen
Anlässen heftig angegriffen und ihr damit viel Leid zugefügt.
In einer Fernsehsendung wurde sie heftig attackiert, beschimpft und beleidigt.
Sie hat sich psychisch und physisch nicht stark genug gefühlt, hierher
zu kommen. In ihrem Namen und im Namen aller Samstagsmenschen und der MenschenrechtlerInnen,
die sie unterstützen, gedenke ich des antifaschistischen Journalisten
und Friedenskämpfers Carl von Ossietzky und danke Ihnen allen sehr
herzlich.
Ich bin aus einem sehr nahen, zugleich aber auch sehr weit entfernten
Land hierher gekommen. Nah, denn Sie können mein Land in einigen Stunden
erreichen. Aber auch sehr weit entfernt, denn dort ist die Ungewißheit
darüber, was einem morgen zustoßen kann, alltäglich. Ich
habe Ihnen von dort die Grüße einer Gruppe hartnäckiger
Menschen mitgebracht, die sich in Istanbul seit anderthalb Jahren für
die „Verschwundenen“ einsetzen, Grüße von den „Samstagsmenschen“.
Der Kampf der Samstagsmenschen dauert jetzt anderthalb Jahre; das Phänomen
der „Verschwundenen“ ist jedoch nicht neu in der Türkei. Schon 1925
ist der Bruder Mehmet Bozisiks, des ältesten Kommunisten der Türkei,
der sich an unseren samstäglichen Sitzaktionen vor dem Istanbuler
(Galatasaray-) Gymnasium beteiligt, im Polizeigewahrsam „verschwunden“
und nie wieder aufgetaucht. Ali Kayahan ist am 6. Februar 1973 „verschwunden“.
Hüseyin Morsümbül und Nurettin Yedigöl sind nur zwei
von vielen, die seit dem Putsch von 1980 unter der Militärdiktatur
„verschwanden“.
Das Phänomen der in Polizeigewahrsam “Verschwundenen“ mit seiner
so langen Geschichte ist durch die Samstagssitzaktionen endlich auch an
die gleichgültige, stumme Öffentlichkeit im Westen der Türkei
gelangt. Der mutige Kampf der Angehörigen von Hasan Ocak, der am 21.
März 1995 festgenommen wurde und dessen von Folterspuren gezeichneter
Leichnam 55 Tage später auf dem Friedhof für Menschen ohne Familie
aufgefunden wurde, hat ein Feuer entfacht. Mit der Familie Hasan Ocaks
zusammen haben wir, eine Gruppe von MenschenrechtlerInnen, am 27. Mai 1995
auf dem historischen Galatasaray-Platz in Istanbul eine stumme Protestaktion
begonnen, die jeden Samstag eine halbe Stunde dauert.
Am häufigsten und auf die grausamste Art „verschwinden“ Menschen
in dem Gebiet der Türkei, in dem seit 12 Jahren der Ausnahmezustand,
d.h. kriegsähnliche Zustände herrschen. Dort werden Menschen
nicht wie im Westen des Landes einzeln oder zu zweit, sondern zu fünft,
zu zehnt festgenommen und verschwinden dann im Polizeigewahrsam. Die Leichen
von einigen werden nach einer gewissen Zeit in Straßengräben,
in stillgelegten Brunnen, in Bächen oder auf Müllhalden gefunden.
Vom Schicksal anderer erfährt man monate-, jahrelang kein Sterbenswort,
von manchen hört man nie mehr.
Die Geschichten der Verschwundenen ähneln sich. Die Menschen werden
– meist im Beisein von Zeugen – von zu Hause, vor ihrer Haustür, von
der Straße, vom Dorfplatz, vom Feld abgeholt und weggebracht – in
den Großstädten von zivil gekleideten, aber mit Funkgerät
und Waffen ausgestatteten, im Ausnahmezustandsgebiet von uniformierten
Sicherheitskräften. Die Angehörigen wenden sich daraufhin an
die örtlichen Verantwortlichen. Die Antwort, die sie erhalten, ist
immer die gleiche: „Er/sie ist nicht bei uns.“ Von manchen der auf diese
Weise „Verschwundenen“ erhält man monate- und jahrelang keine Nachricht,
von anderen werden nach einigen Wochen oder Monaten nur noch die von Folterspuren
gezeichneten Leichen gefunden.
Nach inoffiziellen Zahlen sind in der Türkei seit 1990 insgesamt
827 Menschen im Polizeigewahrsam, in der Untersuchungshaft „verschwunden“.
Im Laufe dieser Jahre ist eine enorme Steigerung zu verzeichnen: Waren
es in den Jahren von 1990 – 1994 noch 48 Verschwundene, so wurden 1994
328, 1995 298 und in den ersten neun Monaten des Jahres 1996 153 Menschen
als „verschwunden“ gemeldet. Der wichtigste Punkt jedoch ist, daß
diese Zahlen nur eine ungefähre Vorstellung von dem tatsächlichen
Ausmaß geben. Die Dunkelziffer ist sehr hoch, denn Menschen, die
einen „Verschwundenen“ melden, müssen mit Grund befürchten, bei
einer der folgenden Festnahmeaktionen Opfer derselben Maßnahme zu
werden.
Sogar auf eine so demokratische und gewaltlose Protestform, wie wir
sie praktizieren, indem wir eine halbe Stunde schweigend am Galatasaray-Platz
sitzen und anschließend eine Presse-Erklärung verlesen, wird
mit Polizeieinsätzen und -übergriffen reagiert. Vom 8. Juni an
wurde ich, und mir mir andere Samstags-Menschen, fünf Wochen lang
jeden Samstag von der Polizei mit großer Brutalität festgenommen.
Dem zum Trotz haben wir und die Angehörigen der Verschwundenen sowie
ihre Unterstützerinnen und Unterstützer versucht, andere Formen
zu finden, auf dem Galatasaray-Platz präsent zu sein. So haben wir
etwa „en passent“ zum Andenken an die Verschwundenen Nelken niedergelegt.
Wir wurden mit unseren Nelken festgenommen. Fünf Wochen lang haben
Hunderte von Polizisten samstags mitten im Zentrum von Istanbul, auf dem
Taksimplatz und in der Istiklalstraße, mit Maschinengewehren, Schutzschilden,
Gummiknüppeln und Hunden Terror verbreitet. Gerade in dieser Phase
wurde jedoch zum ersten Mal in den großen Zeitungen und in allen
Fernsehprogrammen ausführlich von den Samstagsmenschen berichtet.
Von den Medien wurden sie „Samstagsmütter“ genannt. Seither hat auch
die gleichgültige Mehrheit der Großstadtbewohner das Phänomen
der im Polizeigewahrsam Verschwundenen zur Kenntnis genommen. Verschwundene
kamen auf die Titelseiten der Zeitschriften, Lieder wurden für sie
komponiert – sie, oder wir, haben es schließlich geschafft, das Problem
öffentlich zu machen. Man kann zwar nicht vorhersagen, wie es weitergeht,
aber im Moment können wir vor dem Galatasaray-Gymnasium sitzen, ohne
daß die Polizei eingreift. Sowohl für die Angehörigen der
in Polizeigewahrsam Verschwundenen als auch für die MenschenrechtlerInnen,
die sich mit ihnen solidarisieren, bedeuten die Samstags-Aktionen sehr
viel. Fatma Morsümbül, die ihren Sohn sucht, der 1980 festgenommen
wurde und über dessen Schicksal bis heute nichts bekannt ist, sagt:
„16 Jahre lang habe ich in meinen vier Wänden geweint, Selbstgespräche
geführt, nach meinem Sohn gerufen. Jetzt geht es mir besser: Ich bin
auf die Straße gegangen und kann zu den Menschen sprechen. Ich habe
gesehen, daß es auch andere Mütter gibt wie mich, jetzt bin
ich nicht mehr alleine.“ Elif Tekin, deren Sohn in der Untersuchungshaft
verschwand, erklärt: „Ich habe erst am Galatasaray angefangen zu sprechen.
Vorher im Dorf habe ich nie in der Öffentlichkeit geredet, auch nicht
auf kurdisch. Jetzt habe ich türkisch gelernt. Jetzt spreche ich überall.“
Zu der Samstagsgruppe gehören auch Menschen, die keine im Polizeigewahrsam
verschwundenen Angehörigen haben. Für sie ist ihre allsamstägliche
Präsenz am Galatasaray-Platz eine moralische Stellungnahme und zugleich
geht es ihnen um die Verteidigung auch ihres Rechts auf Leben. Sie sagen:
“Ich schäme mich, in einem Land zu leben, in dem Menschen nach ihrer
Festnahme durch die Polizei verschwinden.“ Sie sagen, so lange man sich
nicht gegen das Verschwindenlassen wehrt, ist jeder ein wenig in Polizeigewahrsam
und jeder ein wenig verloren.
Für die Angehörigen der Verschwundenen und für uns,
ihre Unterstützer, hat die Auszeichnung durch die Internationale Liga
für Menschenrechte einen sehr hohen Wert. Sie ist ein herzlicher,
warmer Gruß Über die Grenzen hinweg, eine Botschaft der Solidarität.
Sie hat unserer Stimme Stimme und unserer Kraft Kraft verliehen. Wir glauben
auch, daß die Auszeichnung nicht nur den Angehörigen der Verschwundenen
und deren Unterstützern verliehen wird, sondern zugleich einer Form
des Widerstands gilt, der mit Beharrlichkeit und Entschlossenheit allen
Repressalien trotzt und immer wieder nach neuen Wegen sucht, sich zu artikulieren.
Diese Auszeichnung bestärkt eine Gruppe von Menschen in ihrem Recht,
vor den Augen der ganzen Öffentlichkeit, aus eigener Kraft, unverdrossen
und unermüdlich Woche für Woche zur gleichen Zeit und am gleichen
Ort das gleiche zu sagen, ohne sich abschrecken zu lassen. Die Auszeichnung
wurde einer Gruppe verliehen, die – im Gegensatz zu der stummen, die Menschenrechtsverletzungen
hinnehmenden Mehrheit – so geduldig er- und aufklärt, wie ein sehr
dünner, heikler Stoff gewebt werden muß. Wir nehmen diese Auszeichnung
mit Stolz entgegen und teilen sie mit allen Menschen auf der ganzen Welt,
die gegen das Verschwindenlassen von Menschen protestieren.
Zur heutigen Preisverleihung war auch Fatma Morsümbül eingeladen,
deren Sohn vor 16 Jahren festgenommen wurde und der seitdem vermißt
ist. Sie konnte nicht mit uns kommen. Kräfte, die die Familien der
im Krieg getöteten Soldaten gegen die Angehörigen der Verschwundenen
auszuspielen versuchen, um damit die Öffentlichkeit gegen die Samstagsmenschen
aufzubringen, haben sie besonders in letzter Zeit bei unterschiedlichen
Anlässen heftig angegriffen und ihr damit viel Leid zugefügt.
In einer Fernsehsendung wurde sie heftig attackiert, beschimpft und beleidigt.
Sie hat sich psychisch und physisch nicht stark genug gefühlt, hierher
zu kommen. In ihrem Namen und im Namen aller Samstagsmenschen und der MenschenrechtlerInnen,
die sie unterstützen, gedenke ich des antifaschistischen Journalisten
und Friedenskämpfers Carl von Ossietzky und danke Ihnen allen sehr
herzlich.
Ich bin aus einem sehr nahen, zugleich aber auch sehr weit entfernten
Land hierher gekommen. Nah, denn Sie können mein Land in einigen Stunden
erreichen. Aber auch sehr weit entfernt, denn dort ist die Ungewißheit
darüber, was einem morgen zustoßen kann, alltäglich. Ich
habe Ihnen von dort die Grüße einer Gruppe hartnäckiger
Menschen mitgebracht, die sich in Istanbul seit anderthalb Jahren für
die „Verschwundenen“ einsetzen, Grüße von den „Samstagsmenschen“.
Der Kampf der Samstagsmenschen dauert jetzt anderthalb Jahre; das Phänomen
der „Verschwundenen“ ist jedoch nicht neu in der Türkei. Schon 1925
ist der Bruder Mehmet Bozisiks, des ältesten Kommunisten der Türkei,
der sich an unseren samstäglichen Sitzaktionen vor dem Istanbuler
(Galatasaray-) Gymnasium beteiligt, im Polizeigewahrsam „verschwunden“
und nie wieder aufgetaucht. Ali Kayahan ist am 6. Februar 1973 „verschwunden“.
Hüseyin Morsümbül und Nurettin Yedigöl sind nur zwei
von vielen, die seit dem Putsch von 1980 unter der Militärdiktatur
„verschwanden“.
Das Phänomen der in Polizeigewahrsam “Verschwundenen“ mit seiner
so langen Geschichte ist durch die Samstagssitzaktionen endlich auch an
die gleichgültige, stumme Öffentlichkeit im Westen der Türkei
gelangt. Der mutige Kampf der Angehörigen von Hasan Ocak, der am 21.
März 1995 festgenommen wurde und dessen von Folterspuren gezeichneter
Leichnam 55 Tage später auf dem Friedhof für Menschen ohne Familie
aufgefunden wurde, hat ein Feuer entfacht. Mit der Familie Hasan Ocaks
zusammen haben wir, eine Gruppe von MenschenrechtlerInnen, am 27. Mai 1995
auf dem historischen Galatasaray-Platz in Istanbul eine stumme Protestaktion
begonnen, die jeden Samstag eine halbe Stunde dauert.
Am häufigsten und auf die grausamste Art „verschwinden“ Menschen
in dem Gebiet der Türkei, in dem seit 12 Jahren der Ausnahmezustand,
d.h. kriegsähnliche Zustände herrschen. Dort werden Menschen
nicht wie im Westen des Landes einzeln oder zu zweit, sondern zu fünft,
zu zehnt festgenommen und verschwinden dann im Polizeigewahrsam. Die Leichen
von einigen werden nach einer gewissen Zeit in Straßengräben,
in stillgelegten Brunnen, in Bächen oder auf Müllhalden gefunden.
Vom Schicksal anderer erfährt man monate-, jahrelang kein Sterbenswort,
von manchen hört man nie mehr.
Die Geschichten der Verschwundenen ähneln sich. Die Menschen werden
– meist im Beisein von Zeugen – von zu Hause, vor ihrer Haustür, von
der Straße, vom Dorfplatz, vom Feld abgeholt und weggebracht – in
den Großstädten von zivil gekleideten, aber mit Funkgerät
und Waffen ausgestatteten, im Ausnahmezustandsgebiet von uniformierten
Sicherheitskräften. Die Angehörigen wenden sich daraufhin an
die örtlichen Verantwortlichen. Die Antwort, die sie erhalten, ist
immer die gleiche: „Er/sie ist nicht bei uns.“ Von manchen der auf diese
Weise „Verschwundenen“ erhält man monate- und jahrelang keine Nachricht,
von anderen werden nach einigen Wochen oder Monaten nur noch die von Folterspuren
gezeichneten Leichen gefunden.
Nach inoffiziellen Zahlen sind in der Türkei seit 1990 insgesamt
827 Menschen im Polizeigewahrsam, in der Untersuchungshaft „verschwunden“.
Im Laufe dieser Jahre ist eine enorme Steigerung zu verzeichnen: Waren
es in den Jahren von 1990 – 1994 noch 48 Verschwundene, so wurden 1994
328, 1995 298 und in den ersten neun Monaten des Jahres 1996 153 Menschen
als „verschwunden“ gemeldet. Der wichtigste Punkt jedoch ist, daß
diese Zahlen nur eine ungefähre Vorstellung von dem tatsächlichen
Ausmaß geben. Die Dunkelziffer ist sehr hoch, denn Menschen, die
einen „Verschwundenen“ melden, müssen mit Grund befürchten, bei
einer der folgenden Festnahmeaktionen Opfer derselben Maßnahme zu
werden.
Sogar auf eine so demokratische und gewaltlose Protestform, wie wir
sie praktizieren, indem wir eine halbe Stunde schweigend am Galatasaray-Platz
sitzen und anschließend eine Presse-Erklärung verlesen, wird
mit Polizeieinsätzen und -übergriffen reagiert. Vom 8. Juni an
wurde ich, und mir mir andere Samstags-Menschen, fünf Wochen lang
jeden Samstag von der Polizei mit großer Brutalität festgenommen.
Dem zum Trotz haben wir und die Angehörigen der Verschwundenen sowie
ihre Unterstützerinnen und Unterstützer versucht, andere Formen
zu finden, auf dem Galatasaray-Platz präsent zu sein. So haben wir
etwa „en passent“ zum Andenken an die Verschwundenen Nelken niedergelegt.
Wir wurden mit unseren Nelken festgenommen. Fünf Wochen lang haben
Hunderte von Polizisten samstags mitten im Zentrum von Istanbul, auf dem
Taksimplatz und in der Istiklalstraße, mit Maschinengewehren, Schutzschilden,
Gummiknüppeln und Hunden Terror verbreitet. Gerade in dieser Phase
wurde jedoch zum ersten Mal in den großen Zeitungen und in allen
Fernsehprogrammen ausführlich von den Samstagsmenschen berichtet.
Von den Medien wurden sie „Samstagsmütter“ genannt. Seither hat auch
die gleichgültige Mehrheit der Großstadtbewohner das Phänomen
der im Polizeigewahrsam Verschwundenen zur Kenntnis genommen. Verschwundene
kamen auf die Titelseiten der Zeitschriften, Lieder wurden für sie
komponiert – sie, oder wir, haben es schließlich geschafft, das Problem
öffentlich zu machen. Man kann zwar nicht vorhersagen, wie es weitergeht,
aber im Moment können wir vor dem Galatasaray-Gymnasium sitzen, ohne
daß die Polizei eingreift. Sowohl für die Angehörigen der
in Polizeigewahrsam Verschwundenen als auch für die MenschenrechtlerInnen,
die sich mit ihnen solidarisieren, bedeuten die Samstags-Aktionen sehr
viel. Fatma Morsümbül, die ihren Sohn sucht, der 1980 festgenommen
wurde und über dessen Schicksal bis heute nichts bekannt ist, sagt:
„16 Jahre lang habe ich in meinen vier Wänden geweint, Selbstgespräche
geführt, nach meinem Sohn gerufen. Jetzt geht es mir besser: Ich bin
auf die Straße gegangen und kann zu den Menschen sprechen. Ich habe
gesehen, daß es auch andere Mütter gibt wie mich, jetzt bin
ich nicht mehr alleine.“ Elif Tekin, deren Sohn in der Untersuchungshaft
verschwand, erklärt: „Ich habe erst am Galatasaray angefangen zu sprechen.
Vorher im Dorf habe ich nie in der Öffentlichkeit geredet, auch nicht
auf kurdisch. Jetzt habe ich türkisch gelernt. Jetzt spreche ich überall.“
Zu der Samstagsgruppe gehören auch Menschen, die keine im Polizeigewahrsam
verschwundenen Angehörigen haben. Für sie ist ihre allsamstägliche
Präsenz am Galatasaray-Platz eine moralische Stellungnahme und zugleich
geht es ihnen um die Verteidigung auch ihres Rechts auf Leben. Sie sagen:
“Ich schäme mich, in einem Land zu leben, in dem Menschen nach ihrer
Festnahme durch die Polizei verschwinden.“ Sie sagen, so lange man sich
nicht gegen das Verschwindenlassen wehrt, ist jeder ein wenig in Polizeigewahrsam
und jeder ein wenig verloren.
Für die Angehörigen der Verschwundenen und für uns,
ihre Unterstützer, hat die Auszeichnung durch die Internationale Liga
für Menschenrechte einen sehr hohen Wert. Sie ist ein herzlicher,
warmer Gruß Über die Grenzen hinweg, eine Botschaft der Solidarität.
Sie hat unserer Stimme Stimme und unserer Kraft Kraft verliehen. Wir glauben
auch, daß die Auszeichnung nicht nur den Angehörigen der Verschwundenen
und deren Unterstützern verliehen wird, sondern zugleich einer Form
des Widerstands gilt, der mit Beharrlichkeit und Entschlossenheit allen
Repressalien trotzt und immer wieder nach neuen Wegen sucht, sich zu artikulieren.
Diese Auszeichnung bestärkt eine Gruppe von Menschen in ihrem Recht,
vor den Augen der ganzen Öffentlichkeit, aus eigener Kraft, unverdrossen
und unermüdlich Woche für Woche zur gleichen Zeit und am gleichen
Ort das gleiche zu sagen, ohne sich abschrecken zu lassen. Die Auszeichnung
wurde einer Gruppe verliehen, die – im Gegensatz zu der stummen, die Menschenrechtsverletzungen
hinnehmenden Mehrheit – so geduldig er- und aufklärt, wie ein sehr
dünner, heikler Stoff gewebt werden muß. Wir nehmen diese Auszeichnung
mit Stolz entgegen und teilen sie mit allen Menschen auf der ganzen Welt,
die gegen das Verschwindenlassen von Menschen protestieren.
Zur heutigen Preisverleihung war auch Fatma Morsümbül eingeladen,
deren Sohn vor 16 Jahren festgenommen wurde und der seitdem vermißt
ist. Sie konnte nicht mit uns kommen. Kräfte, die die Familien der
im Krieg getöteten Soldaten gegen die Angehörigen der Verschwundenen
auszuspielen versuchen, um damit die Öffentlichkeit gegen die Samstagsmenschen
aufzubringen, haben sie besonders in letzter Zeit bei unterschiedlichen
Anlässen heftig angegriffen und ihr damit viel Leid zugefügt.
In einer Fernsehsendung wurde sie heftig attackiert, beschimpft und beleidigt.
Sie hat sich psychisch und physisch nicht stark genug gefühlt, hierher
zu kommen. In ihrem Namen und im Namen aller Samstagsmenschen und der MenschenrechtlerInnen,
die sie unterstützen, gedenke ich des antifaschistischen Journalisten
und Friedenskämpfers Carl von Ossietzky und danke Ihnen allen sehr
herzlich.