Ferhat Tepe wurde im Mai 1974 in Bitlis geboren. Er absolvierte die Hauptschule, Mittelschule und das Gymnasium in Bitlis. Wegen seiner politischen Aktivitäten wurde er im Dezember 1992 zweimal verhaftet. Ferhat Tepe arbeitete seit April 1993 als Korrespondent für Özgür Gündem in Bitlis. Er wurde am 28. Juli 1993 von der Konterguerilla im Stadtzentrum von Bitlis verschleppt. Seine Leiche wurde am Montag, den 6. August 1993 am Ufer des Hazar-Sees in der Kreisstadt Sivirce bei Elazig gefunden.
Frau Tepe, können Sie sich kurz vorstellen?
Ich heiße Zübeyde Tepe und bin die Mutter von dem ermordeten
Özgür Gündem Journalisten Ferhat Tepe. Vor seiner Ermordung
war er in der Polizeihaft verschwunden. Nachdem mein Sohn Ferhat Tepe in
der Haft verschwunden war, zogen wir im Jahre 1993 nach Istanbul. Seitdem
leben wir dort.
Seit wann gibt es die Samstagsmütter und was sind Ihre Forderungen?
Die Samstagsmütter gibt es nun schon seit 66 Wochen. Wenige Monate
nach unserem Umzug nach Istanbul habe ich von den Samstagsmüttern
erfahren, die vor dem Galatasaray-Gymnasium im Stadtteil Beyoglu wöchentlich
eine Sitzblockade machen. Ich entschied mich, ebenfalls hinzugehen und
zu erfahren, was sie genau machen und welche Forderungen sie haben. Eines
Samstags nahm auch ich an dieser Aktion teil und fragte die anwesenden
Mütter nach den Gründen ihres Protestes. Sie berichteten mir,
daß sie gegen das Verschwindenlassen ihrer Angehörigen protestieren.
Andere drückten ihre Teilnahme mit den folgenden Worten aus: “Wir
sind für unsere Kinder hier.” Ich beschloß, von diesem Tag an
ebenfalls daran teilzunehmen. Und so entstand ein breiter Kreis von Müttern,
die heute als Samstagsmütter bekannt sind.
Mit welchen Reaktionen werden Sie samstags vor dem Galatasaray-Gymnasium
konfrontiert? Zeigen die Vorbeigehenden Interesse an Ihren Aktionen?
Jeden Samstag treffen wir uns, ca. 150-200 Personen, und führen
eine Sitzblockade durch. Sehr viele Menschen überqueren den Platz
und nehmen uns wahr. Viele bleiben stehen und zeigen großes Interesse.
Es sind natürlich auch welche dabei, die desinteressiert sind und
nicht einmal stehen bleiben. Sie stellen uns Fragen, z.B. weshalb unsere
Kinder verschwinden, sie hätten auch Kinder, aber die würden
nicht verschwinden. Wir schildern ihnen unsere Situation. Wir berichten
Ihnen, weshalb unsere Kinder verschwinden, und daß sie von dem Feind
entführt und ermordet werden, weil sie u.a. Kurden sind und sich für
die legitimen demokratischen Rechte einsetzen. Das Verständnis für
unsere Aktion nimmt bei der Bevölkerung und den Müttern täglich
zu. Sie schließen sich uns an und unterstützen uns.
Das Interesse der Presse war am Anfang ebenfalls groß. Sie kamen
und berichteten über uns. Aber auch sie erfuhren zunehmend die Repression
des Staates. Die Polizei griff die Presse an und zertrümmerte ihre
Kameras. Man schüchterte die Pressevertreter ein, um die Berichterstattung
über uns einzuschränken bzw. zu verhindern.
Wie ist die Reaktion des türkischen Staates Ihnen gegenüber?
Der türkische Staat ist gegen uns. Seine Reaktionen sind sehr
hart. Trotz brutaler Angriffe durch die türkische Polizei geben wir
nicht auf, wir kapitulieren nicht. Wir sind mit unseren Kindern und wir
werden bis zuletzt diesen Kampf führen. Sie schlagen uns mit Stöcken,
ziehen uns an den Haaren und schleifen uns durch die Straßen. Sie
transportieren uns mit Bussen und Autos zur Polizeiwache. 24 Stunden lang
werden wir dort festgehalten. In dieser Zeit sind wir physischen Folterungen,
Beleidigungen und Beschimpfungen ausgesetzt. Wenn sie uns freigelassen
haben, treffen wir uns am nächsten Samstag und bekunden mit unserer
Aktion erneut, daß wir bei unseren Kindern sind, uns gemeinsam stützen,
ohne uns einschüchtern zu lassen und ohne Kapitulation.
Ist irgendein Mitglied der türkischen Regierung, ist irgendein
Abgeordneter des türkischen Parlaments jemals zu Ihnen gekommen, um
mit Ihnen über die Verschwundenen zu sprechen?
Von den türkischen Politikern und den Intellektuellen unterstützen
uns insbesondere Alkan Hacaoglu von der CHP, Ercan Karakas, CHP und Dogan
Ergül, er ist ein Intellektueller. Aber wenn sie über den Frieden
sprechen, wenn sie zu uns kommen, um uns zu unterstützen, werden auch
sie von der Polizei schlecht behandelt. Auch sie sind Repressalien ausgesetzt.
Sie wurden sogar festgenommen und verhört. Die türkische Regierung
hält sich nicht einmal an ihre eigenen Gesetze.
Seit einiger Zeit gibt es auch die Freitagsmütter in der Türkei.
Wer sind diese Mütter? Was sind die Forderungen dieser Mütter?
Es gibt diese Freitagsmütter. Sie setzen sich aus kurdischen,
türkischen, alevitischen, sunnitischen und anderen Müttern zusammen.
Dieser Zusammenschluß wurde bewußt von der türkischen
Regierung gebildet, um andere Mütter gegen uns Samstagsmütter
aufzuhetzen und uns zu spalten. Die “Freitagsmütter” stellen keine
politischen Forderungen. Die politischen Mütter unter ihnen haben
es nicht leicht. Viele von ihnen verlassen diesen Zusammenschluß,
weil sie sich nicht instrumentalisieren lassen wollen. Die Kinder dieser
Mütter sind als türkische Soldaten im Krieg gestorben. Es sind
Soldatenmütter. Wir richten an die Freitagsmütter den Appell,
sich uns anzuschließen. Wir sagen ihnen, laßt uns gemeinsam
dagegen ankämpfen, daß eure Kinder und unsere Kinder sterben
müssen, daß unsere Kinder verschwinden. Tuen wir uns zusammen,
damit keine Mutter mehr weinen muß, weder die Mütter der Soldaten
noch die Mütter der Guerilla, noch die Angehörigen der in Haft
Verschwundenen. Stellen wir uns mit einer gemeinsamen Botschaft, mit einem
gemeinsamen Schrei gegen diese Staatspolitik. Geben wir uns gegenseitig
Unterstützung für die Beendigung der Tränen der Mütter
und das anhaltende Blutvergießen. Laßt uns einen gemeinsamen
Aufruf an den Staat für die Beendigung des Krieges richten.
Wie halten Sie das durch, Frau Tepe? In der Türkei ist es nicht
gerade selbstverständlich, daß eine Frau solche Aktivitäten
unternimmt! Woher nehmen Sie Ihre Energie für dieses mutige Vorgehen?
Ich bin eine Mutter, deren Sohn ermordet wurde. So geht es auch den
anderen Müttern, daher nehmen wir unsere Kraft. Wir sind Menschen,
wir lieben unsere Kinder, wir leben für sie. Dieser Staat verjagt
uns aus unseren Häusern, er zwingt uns, unsere Dörfer zu verlassen,
die bombardiert und in Brand gesteckt werden. Es gibt einen schmutzigen
Krieg gegen uns und da ist es nötig, sich zu verteidigen. Die Befreiungsbewegung
gibt uns Energie und Mut. Dieser Kampf ist richtig. Wir folgen diesem Weg
und das gibt uns unsere Kraft. Schon seit 70 Jahren werden die Kurden verfolgt.
Auch damals hat es Aufstände gegen die Unterdrückung gegeben.
Die türkische Regierung erreicht aber nichts gegen uns. Durch das
Töten kann kein Volk vernichtet werden. Wir wollen nur Gerechtigkeit,
wie sie jedem Menschen zusteht. Wir wollen wie Menschen leben können.
Aber man behandelt uns, als seien wir keine Menschen. Deshalb unterstützen
wir die Befreiungsbewegung.
Mutter zu sein bringt eine große Verantwortung mit sich. Insbesondere
als kurdische Mutter ist die Verantwortung und die Schwierigkeit größer.
Es ist eine Realität, daß der Widerstand der kurdischen Frauen
sie weltweit bekannt gemacht hat. Wenn man die Entwicklung der kurdischen
Frau seit dem Beginn des Befreiungskampfes mit ihrer vorherigen Rolle vergleicht,
so stellt sich automatisch die Frage, wie in so einer kurzen Zeit solche
großen Entwicklungen vollzogen werden konnten?
Die kurdische Frau wurde seit eh und je unterdrückt, ausgebeutet
und erniedrigt. Ihr standen keinerlei Rechte zu. Dies sowohl auf staatlicher
Ebene als auch im familiären Bereich. Sie war von wichtigen Entwicklungen
und Geschehnissen ausgeschlossen. Aber seit ca. 15 Jahren leistet die kurdische
Frau aktiv Widerstand und kämpft gegen diese Unterdrückung und
Sklaverei. Mit großer Mühe begegnen wir unserer Aufgabe. Man
kann sagen, daß die kurdische Frau nun aus einem langjährigen
Schlaf erwacht ist und aktiv an den gesellschaftlichen Umwälzungen
teilnimmt. Sie eignet sich hierbei ein großes Bewußtsein und
Wissen an. Zunehmend befreien wir uns aus der Sklaverei. Wir sind bestrebt,
uns zu politisieren, uns zu schulen, unsere Sprache und Kultur zu entwickeln.
Wir möchten natürlich, daß die ganzen Schönheiten,
die andere Völker auf der Welt genießen, auch wir genießen
und erleben können. Wir möchten auch ein schönes, friedliches
Leben führen können. Wir werden nicht mehr lange abgeschirmt
sein von den positiven Vorzügen des Lebens, denn wir sind erwacht
und kämpfen für ein würdevolles Leben. Bei uns gibt es kein
Zurück mehr, wir werden uns dem Rückstand nicht mehr beugen.
Welcher Zusammenhang besteht zwischen Ihren Aktionen und dem Befreiungskampf
der Frauen? Glauben Sie, daß Ihre Proteste auch zum Befreiungskampf
der Frauen beitragen?
Selbstverständlich beinhaltet die Aktion auch die Zielsetzung
der Befreiung der Frauen. Die Frauen möchten sich auch von den Schmerzen
lösen. Es gibt auf der Welt viele andere Frauen, die nicht frei sind.
Unser Kampf beinhaltet auch deren Befreiung. Trotz der ganzen Schmerzen,
denen wir ausgesetzt sind, halten wir es noch aus, denn auch wir wollen
frei sein. Außerdem sehen wir unsere Befreiung im Zusammenhang mit
der Befreiung unserer Kinder und somit auch der unseres Volkes. Unsere
Kinder leisten Widerstand für uns, für unsere Befreiung. Wir
besitzen nur unser nacktes Leben, das wir für diesen Weg, für
diesen Kampf einsetzen.
Erfahren Sie für Ihr Anliegen aus Europa Unterstützung?
Bis heute haben die Mütter nur wenig Unterstützung aus Europa
erhalten. Ich hoffe aber, daß die Menschen, die Mütter aus Europa,
die Mütter aus aller Welt, von jetzt an aufmerksamer werden und uns
unterstützen. Auch sie sollen mit einer Sitzblockade gegen das Verschwindenlassen
der Menschen auf der ganzen Welt und auch gegen das Verschwindenlassen
unserer Kinder protestieren. Wir erwarten die Unterstützung aller
Mütter und vor allem der aus Europa.
Sie halten sich nun seit mehr als einer Woche in Deutschland auf. Welche
Eindrücke haben Sie in dieser kurzen Zeit gewonnen?
Ich habe noch nicht viel von diesem Land gesehen. Erst seit ein paar
Tagen gehe ich unter die Menschen. Ich habe den Eindruck, daß die
deutsche Bevölkerung desinteressiert ist. Trotz der vielen Grausamkeiten
auf der Welt bin ich kaum Menschen begegnet, die sich über diese Ungerechtigkeiten
unterhalten, weder auf der Straße noch auf Veranstaltungen konnte
ich diese politischen Gespräche beobachten. Deutschland ist ein schönes
Land. Aber die Schönheit alleine reicht nicht aus. Die Menschen müssen
in Frieden und Freiheit leben können. Wir erwarten natürlich
in dieser Hinsicht die Unterstützung der deutschen Bevölkerung.
Die Deutschen können meines Erachtens noch aufmerksamer sein. Sie
wissen doch, daß auf der Welt schmutzige Kriege geführt werden.
Auch in Kurdistan wird ein schmutziger Krieg geführt. Es gibt ca.
500.000 Menschen aus Kurdistan, die nach Deutschland ausgewandert bzw.
geflüchtet sind. Wenn mein Nachbar Not und Hunger leidet, wie kann
ich so gleichgültig sein. Wir möchten natürlich, daß
sie gemeinsam mit uns ihre Stimmen gegen diesen schmutzigen Krieg und die
Grausamkeiten erheben. Warum wird dieser Krieg noch immer geführt?
Möchten Sie an dieser Stelle der deutschen Bevölkerung eine
Botschaft übermitteln?
Wir erleben als Volk, als Mütter große Schmerzen. Es fließt
viel Blut in unserem Land. Unsere Kinder verschwinden, wie es auch in anderen
Ländern, z.B. in Argentinien und auf den Philippinen der Fall ist.
Mein Aufruf an die europäische Öffentlichkeit kann nur folgender
sein: Solange schmutzige Kriege auf der Welt geführt werden, laßt
uns Hand in Hand die Regierungen ermahnen und diejenigen Länder warnen,
die der Türkei Waffen liefern. Sie sollen diese Mörder nicht
unterstützen. Jede militärische Beihilfe an die Türkei wird
gegen unser Volk eingesetzt. Wenn wir unsere Angehörigen zur Autopsie
bringen, werden aus ihren Körpern Kugeln aus deutscher Herstellung
geborgen.
Gerade an so einem bedeutenden Tag wie dem Antikriegstag möchte
ich allen Menschen ein Leben in Frieden und Freiheit wünschen. Ich
sage Frieden jetzt sofort!
(veröffentlicht im Kurdistan-Report Nr. 82, November/Dezember 1996)