Seit langem durchleben wir eine Phase, die weder die Gefühle noch
die Wissenschaft erklären kann. Wenn wir unsere Augen unserem Herzen
zuwenden sehen wir, daß auch das weise Kind innerlich seit tausenden
von Jahren weint. Weder mit Worten, noch mit unseren Liedern können
wir die Schmerzen, die jedem von uns zustehen, zum Ausdruck bringen. Lange
schon brennen wir innerlich ununterbrochen laut jammernd vor den Augen
der ganzen Welt. Und selbst wenn dieser Aufschrei in der Heimat der Freunde
erhört wird, welche Wunde werden sie heilen können?
Wer weiß, mit was wir beschäftigt waren, als 1000 km von
uns entfernt in einer dunklen Nacht oder bei Tageslicht der ekelhafte Mann
das 10-jährige Mädchen vergewaltigte und seine erbarmungslose
Tat vier Monate lang wiederholte. Als dieser Vorfall bekannt wurde, gingen
die Fernsehteams in das Dorf des kleinen Mädchens. Welche Erhabenheit,
daß die Mutter dieses Mädchens keinen Schritt zurückwich,
um die Wahrheit zu erzählen. Der Bürgermeister tritt sie mit
Füßen, der Schlagstock fährt wieder und wieder auf ihren
blutüberströmten Körper nieder, ihre Schmerzen werden unerträglich
und ihr Schrei wird zur Stimme, zum Aufschrei des kleinen Mädchens.
Hier ist Istanbul, dort ist Diyarbakir. Sag Mutter, erzähle uns: wie
ist es, die Mutter der kleinen zehnjährigen R.K. zu sein?
Wie viele Schmerzen wurden ertragen, wie viele neue Vermißte
füllten die Statistik, während wir jeden Samstag auf dem Galatasaray-Platz
unseren Sitzprotest durchführten, um die Spuren der Verschwundenen
zu finden. Wir haben die 100. Woche erreicht, indem wir über den Boden
geschleift und mit Schlagstöcken geprügelt wurden. Unsere Presse
berichtete über diesen Tag mit der Überschrift: “Bingo! 100.
Woche der Samstagsmütter”. Wenn wir auf die genannte und erfreuliche
Zahl, ich meine das ‘Bingo’ zu sprechen kommen sollten: Wir haben niemals
die 100. Woche noch einen anderen Zeitpunkt für wichtig erachtet.
Wir suchten nur nach unseren Verschwundenen, wir wollten verhindern, daß
zu diesen neue hinzukommen, wir nagelten seit 100 Wochen unsere Probleme
an die Wand und suchten nach Medizin für unsere Wunden – und sie schreiben
dazu: “Bingo”! Ist denn das Leben auf Kosten der Schmerzen anderer ein
Grund zum Feiern?
Die Polizisten, die die Mütter wochenlang über den Boden
schleiften, fahren nun einen technisch voll ausgerüsteten Bus in unsere
Nähe. Sie haben Lautsprecher, Computer darin plaziert. Seit einigen
Wochen starten sie sofort ihre Ansage, sobald wir uns versammelt und hingesetzt
haben. “Eure Verschwundenen sind auch unsere Verschwundenen,“ tönt
es aus dem Lautsprecher der Polizei. „Wir bitten euch zu uns, damit wir
gemeinsam nach den Verschwundenen suchen.” Hat die Geschichte je etwas
Traurigeres gesehen?
Ich möchte nicht über die Aktion seit 100 Wochen schreiben,
weder über die Unterstützer noch über die Zahl der Verschwundenen.
Das ist mehr oder weniger bekannt. Ich befasse mich eher mit den im Lärm
verlorengegangenen Erlebnissen und den leisen Aufschreien, die gegen die
Wände prallen, denn diese sind sehr wichtig. Zwar kann man anhand
von Zahlen die Menschenrechtsverletzungen begreifen, aber keine Statistik
kann erzählen, wie es ist, in einem Wald in Beykoz (Stadtteil in Istanbul:
Anm.d.Ü) als einsamer Toter zu liegen. Habt ihr je darüber nachgedacht,
wie es ist, nicht einmal das Recht zu haben, mit Todeskleidern, die die
Hände der Freunde einem anlegten, verabschiedet zu werden?
Richtig, diese Woche wurde der 100. Sitzprotest durchgeführt.
Genau dieser Samstag, also der 12. April 1997 war der 16. Jahrestag des
Verschwindens von Nusrettin Yedigül. Mit der Geschichte von Nusrettin
wurde ich letztes Jahr konfrontiert. Im Kulturzentrum Esenler hatten wir
einen Konzertauftritt. Während wir sangen, saß uns eine alte
Frau, die ununterbrochen weinte, gegenüber. Neben ihr ein alter Mann.
Die tiefen Falten in seinem Gesicht waren mit Schmerzen gespannt. Er weinte
nicht.... Später habe ich erfahren, daß sie die Eltern von Nusrettin
Yedigül waren, der während der Haft verschwand. Sie haben nie
ihre Hoffnung aufgegeben, daß er irgendwann zurückkehren könnte.
Wenn ihr Verstand ihnen auch sagt, daß er tot ist, so sind ihre Herzen
taub gegenüber dieser Stimme. Ihre Wunde ist nie geheilt.
Letzten Sommer bin ich ihnen auf dem Platz der Verschwundenen begegnet.
Sein Vater war zwischen den versammelten Menschen, er trug ein kleines
Foto von Nusrettin in der Hand. Ein Freund, der zusammen mit Nusrettin
verhaftet wurde und Zeuge war, wie Nusrettin gefoltert wurde, war ebenfalls
unter uns. Er wußte, was mit Nusrettin geschehen war. Er sammelte
den Mut, den er jahrelang nicht sammeln konnte und umarmte schluchzend
den alten Mann und konnte nur sagen: “Onkel, Nusrettin ist tot.” Der alte
Mann, der diese Realität seit Jahren wußte, umarmte eine junge
Frau und begann schluchzend zu weinen, als hätte er die Todesnachricht
zum ersten Mal gehört. Später standen sie auf, umarmten einander.
Wie Kinder gingen sie weinend und verschwanden in der Masse.
Ein Winter ist seitdem vergangen, ein Winter in dem neue Verschwundene
die Liste ergänzten und deren Angehörige sich den Protestierenden
von Galatasaray anschlossen. Ein Lied ist auf meiner Zunge, das von Herzen
kommt, ein Lied, das alles erzählt und wiederum nichts aussagt:
Nicht immer gibt es rote Rosen
Um die gebrochene Jugend trauern die Lieder
Es gibt keine Heilmittel für die tief blutenden Wunden
Kein Arzt kennt eine Medizin
Wer ist der Arzt?
Hier in meiner Seele ist mein Kleines
Mütter von jung Verstorbenen suchen ihr Kind in jedem Jugendlichen
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schlaf, mein Kleines, schlaf!