Vom „Schicksal der Kurden“ tragen die Frauen die schwerste Last
von Marianne Roth
Samstag morgen auf dem Galatasaray-Platz vor dem französischen
Lyceum an der Istiklal Caddesi in Istanbul. Die belebte Einkaufsstraße
im nördlichen Stadtteil Beyoglu verbindet das Alte mit dem Neuen.
Die „Freiheitsstarße“ führt vom Taksim-Platz, hier bekannt durch
die großen 1. Mai-Demonstrationen, zum Galata-Turm und schließlich
zum Bosporus hinunter. Einige hundert Menschen, vorwiegend Frauen, haben
sich auf dem Platz zum Sitzstreik niedergelassen, der hier seit fast einem
Jahr jede Woche stattfindet. Viele von Ihnen halten Portraits meist jünger
Männer in den Armen, die sie wie Schilder vor ihrer Brust tragen.
Eine der Frauen erhebt sich, streck ihr Portrait über ihren Kopf und
beginnt lamentierend die Geschichte ihres verschwundenen Sohnes zu erzählen.
Die Menschengruppe ist flankiert von einem riesigen Polizeibus, in
dem rund zwei Duzend Polizisten sitzen. Einige spielen Karten, andere schauen
höhnisch grinsend der Menge zu, und wieder andere filmen minutiös
die Runde der Anwesend. Die Stimmung ist geladen, Passantinnen und Passanten
drängen sich neugierig um die am Boden Sitzenden. Einige bleiben stehen,
andere gehen hastig weiter, um nicht verdächtigt zu werden. Wir, Angehörige
einer Schweizer Frauendelegation, werden am Fotografieren nicht gehindert,
aber aus dem Bus heraus sorgfältig gegenfotografiert. Unter den Menschen
bewegen sich viele Geheimdienstleute, manche erkennbar an den Funkgeräten.
Die Geschichten gleichen sich
In den letzten 18 Monaten sind dem türkischen Menschenrechtsverein
IHD allein in Istanbul 295 Fälle von verschwundenen Personen gemeldet
worden. Die Auskunftsperson des IHD vermutet jedoch, daß die Dunkelziffer
dreimal so hoch ist, weil viele Familienangehörige Verschwundener
den Gang hierher nicht wagen. Anhand der auf den Portraits gedruckten Namen
der Verschwundenen sind deren Familien leicht identifizierbar. Sie müssen
ihrerseits mit Polizeirazzien, Verhaftung und Folter rechnen, lassen sich
jedoch nicht von den Demonstrationen abhalten, im Gegenteil. Die Zahl der
Teilnehmenden werde jede Woche größer.
Die Verschleppungsgeschichten gleichen sich fast ausnahmslos. Eine
Frau erzählt, wie sie vom Balkon aus ein Zivilauto mit vier bewaffneten
und Funkgeräten ausgerüsteten Männer vor ihrem Wohnhaus
beobachtet hatte. Einer der Männer stieg aus, packte ihren Ehemann,
der grade das Haus verlassen hatte und zerrte ihn zum wartenden Auto. Zusammen
mit ihrem Sohn rannte sie die Straße hinunter, kam jedoch zu spät.
Es gelang ihr nur noch, die Autonummer zu registrieren. Aus dem wegfahrenden
Auto riefen dem Sohn entgegen: „Dich kriegen wir auch noch!“ Die Frau rief
sofort die Sicherheitsabteilung an, wo sowohl die Existenz der Autonummer
wie die Verhaftung ihres Mannes bestritten wurden.
Auf dem Gericht und beim Staatsanwalt erhielt die Frau dieselbe Auskunft.
Der Staatsanwalt verhöhnte sie und riet ihr, doch ein Verfahren einzuleiten.
Es sei üblich, daß Angehörige, die die Polizei in solchen
Fällen anklagen wollten, bedroht würden, um sie von ihrem Vorhaben
abzubringen. Gefragt, war um ihr Mann wohl verhaftet wurde, meint die Frau,
daß ihr Mann seine kurdische Identität nie geleugnet habe, und
daß ihre Familie aus einem zerstörten Dorf in Kurdistan stamme.
„Essen und Medikamente kriegst Du nicht ins Dorf. Die Armee behauptet,
Du würdest das an die Guerilla weitergeben.“ Die Frau, die uns das
erzählt, stammt ebenfalls aus einem von der türkischen Armee
niedergebrannten Dorf in Kurdistan. Als ihr Mann zurückgehen wollte,
um den Schaden zu begutachten, wurde er verhaftet. Danach wurde auch ihr
Sohn festgenommen.
Die Großfamilie – sie besteht aus 15 Frauen und zahlreichen Kindern
– lebt unter ärmlichsten Verhältnissen in einem Istanbullar Slum.
Frauen, deren Mann, Tochter oder Sohn bei der Guerilla sind, gelten als
potentielle Terroristinnen. Aus Angst vor Repressalien melden sie sich
nicht an. Deshalb können sie auch ihre Kinder nicht zur Schule schicken
oder den Gesundheitsdienst in Anspruch nehmen. Als geflüchtete Kundinnen
haben sie es äußerst schwer, Wohnung und Arbeit zu finden, und
sind oft auf Almosen von Nachbarn oder den wenigen privaten Sozialeinrichtungen
angewiesen. Sie geraten in eine hoffnungslose Armutsspirale, die bereits
Millionen Kundinnen und Kurden erfaßt hat.
Wieviele Flüchtlinge aus den ostanatolischen Provinzen schon in
die Großstädte des Westens sind, weiß niemand. Allein
in Diyarbakir, der größten Stadt Kurdistans, leben schätzungsweise
über eine Million Vertriebene. Die Stadt ist aus allen Fugen geraten.
Ihre wie Giftpilze sprießenden, gesichtslosen Vororte quellen über,
in der Innenstadt bricht der Verkehr oft total zusammen. Verschiedene Frauenkommissionen
versuchen, sich der Vertriebenen anzunehmen. Kein leichtes Unterfangen,
hat es doch der Staat untersagt, diese Menschen zu unterstützen, die
oft nur mit den Kleidern auf ihrem Leib flüchten müssen.
Die schizophrene Logik der türkischen Regierung besagt, daß
es keine zerstörten Dörfer und folglich auch keine Flüchtlinge
gibt. Kurdische Hilfsorganisationen machen sich des Vorwurfs der Staatsverhetzung
oder gar des Separatismus schuldig. Trotz des Verbots führen
sie Geldsammlungen durch, mit denen sie Lebensmittelvorräte einkaufen.
In einem anonymen, mit bedürftigen Menschen randvollen Geschäftshaus
in einem Quartier Diyarbakirs wohnen wir einer Lebensmittelverteilung bei.
Die Kundinnen und Kurden dort lassen keinen Zweifel darüber, daß
sie voll hinter der Arbeiterpartei Kurdistans PKK stehen.
Feudale Schattenwirtschaft
Junge Frauen erhalten manchmal Schwarzarbeit in einem „Sweat-Shop“
Istanbuls, in einer jener kleinen Werkstätten, die nach feudalen Mustern
funktionieren und vor allem in Entwicklungsländern anzutreffen sind.
Der Arbeitstag dauert nicht selten 14 Stunden pro Tag, und die wie Leibeigenen
gehaltenen Arbeiterinnen wohnen manchmal sogar in den Werkstätten.
Sie sind in der Regel der totalen Willkür und Doppelmoral des Arbeitgebers
ausgeliefert. Sie erhalten schlechtes Essen und werden oft von Arbeitskollegen
und dem Arbeitgeber sexuell belästigt. Gleichzeitig gilt eine Schwangerschaft
als Entlassungsgrund. Frauen bzw. Mädchen unter 18 Jahren werden gezwungen,
sich Jungfräulichkeitstests zu unterziehen, dies nicht selten mit
der Einwilligung ihrer Eltern Die schwarz arbeitenden jungen Frauen sind
vielfach die einzige Einkommensquelle der Familien.
Sexuelle Gewalt
institutionalisiert
Die kurdische Tradition läßt es eigentlich nicht zu, doch
sprechen immer mehr Frauen über ihre Vergewaltigungen. Manchmal kommt
es sogar zu einem Schuldspruch, der für die Täter aber nicht
unbedingt folgen zeigt, wie ein jüngeres Beispiel von drei verurteilten
aber nicht bestraften Soldaten zeigt. Vergewaltigte Frauen werden von türkischen
Behörden nicht ernst genommen, oder als Verbrechen wird ihnen selbst
zur Last gelegt.
Sexuelle Gewalt sei institutionalisiert, sagen uns Mitglieder der IHD-Faruenkomission.
Sie gehöre zum immer noch anerkannten Instrumentarium des Mannes,
der mit keinerlei Sanktionen rechnen müsse, wenn er gegen die eigene
Frau Gewalt anwende. Schlagzeilen machte in diesem Zusammenhang immerhin
die Aussage eines Staatsanwaltes, der an einer Gerichtsverhandlungen öffentlich
sagte, der Bauch einer Frau dürfte nie ohne Stockhiebe sein.
Die sexuelle Gewalt gegen Frauen richtet sich immer gegen die ganze
Familie. Geschändete Frauen gelten als wertlos, weil nicht mehr verheiratbar.
Selbst die eigene Familie stößt sie aus. Nicht wenige junge
Kundinnen wählen auch deshalb die Guerilla. Es sind Fälle belegt,
in denen gefangengenommene Guerillakämpferinnen von türkischen
Soldaten vergewaltigt und bestialisch umgebracht wurden. Sogar über
den Tod hinaus wird der Körper dieser Frau mißbraucht: Zeitungsbilder
toter Guerillakämpferinnen zeigen diese immer wieder nackt, übersät
mit sichtbaren Spuren sexueller Mißhandlung.
Ein Garten der Menschlichkeit
Der Standort des Mesopotamischen Kulturzentrums MKM Istanbul, daß
sich unweit des Galatasaray-Platzes befindet, auf dem samstags die Sitzstreik
stattfinden, wurde mit Bedacht gewählt. Er sollte es künftig
der Polizei erschweren, seine zerstörerischen Razzien am hellichten
Tag durchzuführen. Gegen außen, so Nuray Sen, Präsidentin
der MKMs, die sich in mehreren türkischen und kurdischen Städten
befinden, hätten die Frauen ihren Platz in der türkischen Gesellschaft.
Dieser Eindruck sei aber trügerisch. Frauen komme nach wie vor eine
untergeordnete Stellung zu, sie seien der Besitz ihrer Männer und
würden eingesperrt. Je ärmlicher die Verhältnisse, desto
ungebildeter seien die Frauen.
Jedes Frauenbildungsprojekt birgt sozialen Sprengstoff. In Kurdistan,
wo die repressive Politik die Frauen aus ihren Häusern trieb, beginnen
diese, für ihre Überzeugung auf die Straße zu gehen. Alte
Lebensformen werden überwunden, und die Frauen haben stark an Selbstvertrauen
gewonnen. Und wenn die Frauen zu kämpfen beginnen, würden sie
im unterschied zu den Männern die ganze Familie mitnehmen. Das mache
dem Staat angst. „Der Niederlage der argentinischen Militärdiktatur
hat mit den Müttern der Plaza de Mayo begonnen“, sagt Nuray Sen.
Nuray Sens Gesicht spricht Bände. Vor zwei Tagen aus der Haft
entlassen, sind ihre Augen stumpf, die Stimme leise. Nur wenn sie über
ihr Kulturprojekt spricht, blitzt der alte Kampffeswille auf. Sie war im
Gefängnis an die Wand gehängt und mit Elektroschocks „behandelt“
worden, eine alltägliche Sache, wie sie lakonisch sagt. Die Folterer
haben eine junge MKM-Mitarbeiterin zwingen wollen, sie zu erschießen.
Als Belohnung lockten Freiheit und das Versprechen, künftig in Ruhe
gelassen zu werden. Die übrigen prominenten Gründungsmitglieder
des MKM, das nach der Lockerung des Sprachenartikels gegründet wurde,
sind tot, im Gefängnis oder im Exil.
Die Doppelbödigkeit zwischen „demokratischer“ Gesetzgebung und
der türkischen Wirklichkeit zeigt sich an diesem Beispiel besonders
drastisch. Obschon ein reines Kulturprojekt, wird das MKM von der türkischen
Regierung automatisch als Filiale der PKK dargestellt. Sie sei in der gleichen
Lage wie die Mitbegründer des MKM und müsse täglich um ihr
Leben fürchten. Sie werde aber bis zum letzten gehen und für
die Schönheiten des Leben kämpfen, damit verschiedene Blumen
nebeneinander blühen könnten. Sie wolle im MKM „einen Garten
der Menschlichkeit“ pflanzen.
Marianne Roth ist Mitarbeiterin des Schweizerischen ArbeiterInnenhilfswerks
SAH. Seit 1989 bereist sie Kurdistan regelmäßig.
(veröffentlicht im Pogrom Nr. 189, Juni/Juli 1996)